Predigthilfen
Für das Gespräch zwischen Juden und Christen verfasse ich sogenannte „Predigthilfen“. Sie sollen den jeweiligen Predigttext methodisch erschließen und Anregungen geben, wie man ihn auf der Kanzel aktuell auslegen kann.
Diese „Predigthilfen“ verfasse ich für den Verein „Begegnung von Christen und Juden“. In der Regel werden sie unter dem Titel „Predigtmeditationen im christlich-jüdsichen Kontext“ herausgegeben von „Studium in Israel e.V.“
Ich beschränke mich auf Auslegungen zum Johannesevangelium, zu den drei Johannesbriefen und zur Johannesoffenbarung.
14. Sonntag nach Jubilate: Joh 9,1-8(9)
„Und es ward Licht“
1. Annäherung
Es geht im Text nur vordergründig um die konkrete Heilung eines blind geborenen Sohnes, so
notwendig diese für das dessen künftiges Lebensglück gewesen ist und womöglich auch für seine Eltern gewesen wäre. Dass der Sohn ein mittelloser Bettler war, den seine Eltern nicht mehr unterstützt haben, so es sie noch gab, wird auch erst erzählt, als es um die Reaktion auf seine Heilung durch Jesus geht.
Primär verwirklicht die Erzählung im Fortgang des JohEv, was es für die Menschen bedeutet, dass das Licht der Welt (8,12; 9,5) in die Welt kommt und in der Welt scheint. In der Begegnung mit Jesus – der die Begegnung mit den Menschen unaufgefordert sucht, wie ja auch das Licht ohne Begrenzung und aus sich heraus leuchtet – wird das Licht wirksam und beendet die Blindheit des Sohnes. Was im biblischen Schöpfungsbericht die Wirksamkeit des Wortes erschafft, dass nämlich Licht werde, das vollzieht sich auch in der Wirksamkeit der Begegnung mit Jesus, die freilich zugleich mit sehr irdisch-therapeutischen Mitteln beschrieben werden kann, auf die zu achten letztlich aber vom tieferen Sinn des Geschehens nur ablenkt.
2. Kontexte
a) Kann ein Kind im Mutterleib sündigen? Im Narrativ von Joh 9 insinuiert die Jüngerfrage,
nach den Gründen der postnatalen Strafe des Sohnes eher bei den Eltern als dem Kind zu suchen. In aller Regel erstreckt sich die entsprechende Suche nach möglichem Vergehen auf den Kontext der Zeugung eines Kindes (es gibt freilich auch rabbinische Stimmen, die eine solche Sexualethik für Unsinn halten und dem Menschen im Akt alle Freiheit zusprechen):
„(Der Kaiser) Antonius fragte Rabbi: Von wann an herrscht der böse Trieb über den Menschen, von der Sünde der Bildung (des Menschen) an oder von der Stunde des Austritts an (bei der Geburt)? Er antwortete ihm: Von der Stunde der Bildung an. In diesem Falle (entgegnete der Kaiser) würde er gegen das Innere seiner Mutter stoßen und heraustreten; vielmehr von der Stunde des Austritts an (herrscht der böse Trieb im Menschen). Rabbi hat gesagt: Dieses Wort habe ich von Antonius gelernt und die Schrift unterstützt ihn, denn es heißt Gen
4,7: Vor der Tür lagert die Sünde.“
Sanh 91b, zit. nach: Strack-Billerbeck, 528
„Rabbi Jochanan ben Dahabai (um 180) hat gesagt: Vielerlei haben mir die Dienstengel erzählt: Weshalb werden die Kinder lahm … Weshalb werden sie stumm … Weshalb werden sie taub … Blind werden sie, weil sie auf jenen Ort blicken.“
Ned 20a.b, zit. nach: Strack-Billerbeck, 529
b) In der auf die Heilung folgende Diskussion (samt mehrfacher Befragung der Eltern und des Geheilten) mit den Nachbarn und mit Pharisäern verortet sich Joh 9 in einem sich weiter steigernden Konflikt, der auch mit dem Dualismus von Licht und Dunkelheit ausgedrückt wird. Die dort apostrophierte kommende Nacht, in der niemand wirken kann (Joh 9,4), ist jedenfalls die des Todesschlafs, in der ja auch kein Torah-Studium möglich ist:
„Die Tage, die er im Grabe ist, sind lang zum Schlafen und kurz für die Beschäftigung mit der
Tora und den Geboten“
Raschi, zit. nach: Strack-Billerbeck, 529
c) Den Beginn des Schabbat als herausgehobene Zeit markiert das Licht der Kerzen und ihr
Anzünden – seit Maimonides (Rambam) durch die Frau des Hauses. Die entsprechende Vor-
schrift ist rabbinisch. Segensspruch und Anzünden gehören eng zusammen, ihre Reihenfolge ist je nach Tradition diskutabel. Durch die Kerzen scheint immer ein Licht in der Finsternis:
„Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott, du regierst die Welt. Du hast uns durch deine Gebote
geheiligt und uns geboten, die Schabbatkerzen anzuzünden.
Allmächtiger Gott, Licht der Welt, segne uns mit deinem vollkommenen Segen. Habe Gefallen an uns und lass in unseren Augen das Licht deiner Wahrheit strahlen, so wie das Licht der Schabbatkerzen jetzt vor uns leuchtet. Lass den Geist der Wahrheit und der Liebe in unseren Häusern wohnen. Das Licht deiner Gegenwart erhelle unseren Lebensweg, denn in deinem Lichte sehen wir das Licht. Dein Segen komme über jede Familie in Israel und über die ganze Welt. Amen.“
Das jüdische Gebetbuch, S. 139
d) Mag eine Zubereitung einer breiigen Masse in der Erzählung (Joh 9,6) analog zum Anrühren eines Teiges (Joh 9,13.16) am Schabbat verboten gewesen sein, eine Salbung war erlaubt, wenn sie mit Flüssigkeiten erfolgte, die auch an Wochentagen verwendet wurden.
„Man darf ein Kamel nicht mästen und ihm nicht das Futter einzwingen, aber man darf ihm Futter ins Maul schütten. Man darf Kälber nicht mästen, aber man darf ihnen Futter ins Maul schütten. Und man darf Hühnern Futter in den Schnabel stopfen und man darf Wasser über grobe Kleine gießen, aber nicht umrühren.“
Schab XXIV 3 (a) und (b), zit. nach: Correns, 168
e) Das apokryphe Nikodemus-Evangelium (dessen erster Teil „Pilatusakten“ genannt wird) tradiert als Legendenstoff, „was Nikodemus nach der Passion des Herrn am Kreuz über das Vorgehen der Hohenpriester und der übrigen Juden festgestellt und überliefert hat“ (Prolog Hs. Griechisch A). Der legendarische Stoff polstert die Passionsgeschichte auf, in die er insgesamt integriert ist. Die von Jesus Geheilten treten vor dem römischen Richter als Entlastungszeugen für ihn auf:
„Und ein anderer Jude eilte herbei und sprach: ‚Ich wurde blind geboren, hörte wohl eine Stimme, sah aber kein Gesicht. Und als Jesus vorbeiging, rief ich mit lauter Stimme: „Hab Erbarmen mit mir, Sohn Davids!‘ Und er hatte Erbarmen mit mir, legte seine Hände auf meine Augen und ich konnte sogleich sehen.“
Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I, 246
3. Beobachtungen am Text
Das vierte Evangelium gestaltet nicht das, was man bei den Synoptikern Perikopen nennt, die
man bruchlos aus dem übrigen Text herauslösen könnte. Regelmäßig eröffnen im JohEv die
Heilungsgeschichten (hier 9,1-7) einen mehrstufigen Diskurs (konkret in den Szenen 9,8f;
9,10-12; 9,13-17; 9,18-23; 9,24-34), der den Ausschluss des Geheilten aus der Gemeinschaft zum Ergebnis hat (9,34). Man könnte sogar das folgende Credo des Geheilten – „Kyrie!“ –in der folgenden Szene (9,35-38) und den Disput Jesu mit den Pharisäern (9,39-41) noch zum Diskursteil rechnen. Die vorgeschlagene offizielle Abgrenzung des Predigttextes nach 9,8 nimmt darauf keine Rücksicht und ist also zu korrigieren. Unbedingt zum Text dazu gehört
9,9, wodurch der Geheilte dann das letzte Wort hat.
V 1: Die Krankheit ist die bildgebende Metapher. Gäbe es Menschen, die von Natur aus für das Licht nicht empfänglich sind? Die übliche These der älteren Auslegung, dass das JohEv hier nur das Mirakelhafte der Erzählung verstärkt, greift deshalb zu kurz. Zudem ist die Heilung in Joh 9 tatsächlich synoptisch gar nicht überliefert.
V 2: Die Jünger stellen die Gretchenfrage. Traditionell ist als Antwort nur klar, dass die Krankheit Ausdruck von Sünde sein muss. Rabbinisch sind aus späterer Zeit beide möglichen Positionen belegt: kindliche und elterliche Schuld. Seit Hiob – der wohl kein Jude war – und seinen Reden im gleichnamigen Buch ist diese Frage dogmatisch-theologisch nahezu unbeantwortbar.
V 3: Jesus hat an dieser Stelle gar kein Interesse an den üblichen Auslassungen zur Theodizee, in denen sich seine Jünger offenbar gerne stürzen, als gäbe es darin irgendwelche verwertbare oder gar einfache Antworten. Von Bedeutung ist nicht die Krankheit, sondern die Heilung. Am Blinden soll sich der Wille Gottes erfüllen! Und zwar exemplarisch.
V 4: Meint der Plural des Verbs wirklich, dass Jesus die Jünger in sein Handeln mit einbezieht? Dann liegt hier ein Verweis auf ihre nachösterliche Beauftragung (20,21-23) vor. Jesus ist das Licht der Welt, seine Stunde kommt – als er am Kreuz stirbt, wird es Nacht. Es ist die gleiche theologische Nacht, in die zuvor schon Judas hinausgeht (13,30).
V 5: Der singuläre Heilsruf aus Joh 8,12 bekommt hier seinen theologischen Fixpunkt. Er dient dazu, der Welt ihre wahre Bestimmung zu zeigen, auf die hin sie auch geschaffen ist. Kurz nach dem ersten Ertönen des Rufes hat Jesus schon angekündigt, dass er die Welt bald verlassen wird (8,21.28). Liegt der Ton dann doch auf der Warnung, die Zeit des Lichtes nicht zu verpassen?
VV 6-7: Die Heilung erfolgt durch die Taufe, nichts anderes ist hier mit dem Wasser im Teich gemeint. So wird die Sünde, die pränatal zur Blindheit geführt hat, jetzt postnatal abgewaschen. Und so wird zudem die für die Wahrheit blind machende Wirkung der Sünde beseitigt.
VV 8-9: Das Stimmengewirr der Nachbarn ist der Resonanzraum, in dem dann das zweite
„Ich-bin“-Wort dieses Abschnittes ertönt. Nach dem „Ich bin das Licht der Welt“ Jesu (9,5) offenbart sich jetzt der, den man bisher nur als Bettler und Blindgeborenen kannte. Oder ist er durch die Taufe ein anderer geworden?
4. Homiletische Konkretionen
Bleibt man dem Text hermeneutisch verpflichtet, verträgt die keine narrative Entfaltung der
Heilungsgeschichte. Die Auslegung sollte stattdessen am Diskurs über Licht und Finsternis anknüpfen, den der Text und sein Kontext führen. Heutige Lichtdiskurse in Religion und Philosophie lassen sich leicht aufrufen. Und sogar die moderne Kunst – zuletzt etwa die Arbeit spectra III (2008/2019) von Ryoji Ikeda (May You Live In Interesting Times, S. 176) auf der Biennale in Venedig, aber auch das breite Opus von Dan(iel Nicholas) Flavin, aufzufinden den Katalog der deutschen Nationalbibliothek https://portal.dnb.de – bietet reiche Beispiele für Lichtinstallationen, durch die deutlich wird, wie unwidersprochen kraftvoll und manchmal fast überwältigend sogar künstliches Licht wirkt.
Lichtdiskurse sind nicht notwendig ambivalent oder exklusiv. Vielmehr wird am Licht grundsätzlich deutlich, dass die Finsternis kein echter Gegenspieler ist. Sobald das Licht erscheint, setzt es sich gegen allen Widerspruch durch. Auch nur ein wenig Licht reicht aus, um die Finsternis zu vertreiben. Man darf sich an dieser Stelle durch die moderne, sowohl urban, als auch ländlich allnächtliche Lichtverschmutzung in Stadt und Land nicht irremachen lassen! Und auch die Tatsache, dass das menschliche Auge bei zu wenig Lichtstärke am Abend schneller ermüdet, spricht nicht gegen das Licht und seine grundsätzliche Wirkung, um die es dem JohEv geht. Vielmehr gibt es eine Reihe von kleinen Geschichten vom Licht (als umlaufende Legende über einen König und seine zwei Söhne), das den Raum füllt, die an dieser Stelle aus der Mottenkiste gezogen werden können.
Eine schöne Realrepräsentation des Lichtes ist die Kerze, angefangen von den Kerzen, die angezündet werden, um den Beginn des Schabbat anzuzeigen, fortgeführt durch die Osterkerze, die das theologische Kirchenjahr (neben dem kalendarischen vom Advent her) beleuchtet, aufgegriffen durch Kerzen, die bei Kasualien als Tauf- oder Traukerzen verwendet waren, bis
hin zu den Kerzenlichtern, mithilfe derer im Gottesdienst am Sonntag der Verstorbenen der Gemeinde gedacht wird. In vielen Gemeinden wird das Licht an Ostern besonders gedeutet – manchmal ja auch durch das gesungene Exsultet der agendarischen Lichtfeier der Osternacht (vgl. Agende II,1 der VELKD, S. 133-143) mit dem Ruf „Christus, Licht der Welt“. Am Sonntag Kantate, also nur vier Wochen später, kann man dies erneut aufgreifen und das Anzünden der Kerzen durch eine erhellende Lichtpredigt deuten.
Schließlich bietet die ausgehende dunklere Jahreszeit noch die Möglichkeit, auf die Qualität von Tageslichtlampen und ihre heilsame Wirkung durch sonnennahes Licht im Kontext von Depression, Erschöpfung und seelischer Ermüdung hinzuweisen. Letztlich bieten solche technischen Geräte einen entscheidenden Hinweis darauf, dass das Licht der Sonne durch kein vom Menschen erzeugtes künstliches Licht zu ersetzen oder zu verbessern ist, sondern wir diesem Licht immer nur versuchen können, nachzuahmen. So ist auch das Licht der Welt, Christus, durch kein menschliches Licht oder Gelichter ersetzbar. Nur das Licht der Welt heilt umfassend, nur die Begegnung mit ihm erlöst. Und diese Begegnung ist das, was die Predigt über Joh 9 ermöglichen soll.
5. Liturgievorschläge
Lieder
EG 452 „Er weckt mich alle Morgen“, auch wegen Strophe 5 „er will mich früh umhüllen“
Introitus
Psalm 37, vor allem wegen Ps 36,10 „in deinem Lichte sehen wir das Licht“
Literatur
Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. I. Band Evangelien und Verwandtes Teilband 1, herausgegeben von Christoph Markschies und Jens Schröter in Verbindung mit Andreas Heiser, 7. Auflage der von Edgar Hennecke begründeten und von Wilhelm Schneemelcher fortgeführten Sammlung der neutestamentlichen Apokryphen, Tübingen 2012.
Barrett, Charles Kingsley: Das Evangelium nach Johannes, KEK Sonderband, Göttingen
1990.
May You Live In Interesting Times, Biennale Arte 2019 Short Guide, La Biennale di Venezia, First edition May 2019.
Die Mischna, ins Deutsche übertragen, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von
Dietrich Correns, Wiesbaden 2005.
Passion und Ostern. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Band II, Teilband 1, herausgegeben von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Lutherisches Verlagshaus, , Hannover 2011.
Sefer Tehilot. Das jüdische Gebetbuch. Gebet für Schabbat und Wochentage, herausgegeben von Jonathan Magonet in Zusammenarbeit mit Walter Homolka, Berlin 5762 – 2001.
Strack; Hermann L./Billerbeck, Paul, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Zweiter Band. Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, München 1924.
Stefan Koch
13. Sonntag nach Trinitatis: 1.Joh 4,7-12
„Definiert durch Liebe“
1. Annäherung
Von Liebe redet alle Welt. Hauptwort und Verb gehören zu den häufigen Vokabeln, die Men-
schen in Munde führen: besonders als so vertraute wie normale Anrede mündlicher oder geschriebener Kommunikation. Allerdings: wer von Liebe redet, legt quasi automatisch ein Bekenntnis ab, das nicht hinterfragt werden kann. Die menschliche Sprechweise von der Liebe und vom Lieben hat wohl immer auch apotropäische Funktion – sie soll alles zurückweisen, was die genannte Liebe in Frage stellen könnte. Neben der verbalen Kommunikation über Liebe gibt es unzählige Formen, Liebe und Zuneigung zu zeigen. Wer das studieren will, belege als Fach die Disziplinen „Haustierliebe“ und „Verliebte“. Oder erinnere sich selbst …
Im gottesdienstlichen Rahmen geht es ohne die liebe Anrede gar nicht. „Sehr geehrte Gemeinde“ klingt viel zu distanziert. Wie gut auch immer der Redner oder die Rednerin die Anwesenden kennt, nach der trinitarischen Eröffnung muss es schon die „liebe Gemeinde“ sein. Eine solche Anrede ist weniger ein Bekenntnis, sie ist eher ein Programm. In der Gemeinschaft der Glaubenden soll so viel Vertrautheit vorausgesetzt werden dürfen, schließlich geht das Miteinander so weit, dass man bei Gelegenheit aus dem gleichen Becher trinkt und von einem Tellerchen isst. Die biblische Quelle für diese Redeweise ist vorzüglich das Johannesevangelium und der Erste Johannesbrief. Ein Gegencheck an einem der Predigttexte, der den harten Kern des Briefes umfasst, kann gut tun, um sich zu vergewissern, was man da sagt.
2. Kontexte
a) Zentraltext der Liebe Gottes und ihrer Wirkung in der Torah ist Dtn 6,5, die entsprechende
Auslegung der Parschat Wa’etchanan (Dtn 3,23-7,11) bezieht sich regelmäßig zuallererst auf diesen Vers:
„Höre Israel! Adonaj ist für uns Gott, einzig und allein Adonaj ist Gott. So liebe denn Adonaj, Gott für dich, mit Herz und Verstand, mit jedem Atemzug, mit aller Kraft.“
Dtn 6,5, Bibel in gerechter Sprache, S. 319-320
b) In der biblischen Tradition des ersten Testaments ist zunächst beim Propheten Hosea, später dann auch im Buch Deuteronomium und beim Propheten Jeremia von der Liebe Gottes selbst die Rede. Die Erwählung Israels drückt sich nach Hosea darin aus, dass Gott sein Volk wie ein Vater und ein Gatte liebt. Diese Liebe ist unhintergehbar. Sie wird nicht mit dem Verhalten Israels begründet, sie würde auch nicht durch ein Missverhalten dauerhaft negiert.
„Er sprach zu mir: geh noch hin, liebe ein Weib, vom Genossen geliebt und buhlerisch, wie ich die Söhne Jißraels liebte, da sie doch zu andern Göttern sich wenden, Liebhabern von Trauben-Gebildkuchen.“
Hos 3,1, Buber/Rosenzweig, Buch der Kündung 3, S. 597
„ … um des Bösen ihrer Handlungen willen aus meinem Haus treibe ich sie, nicht kann ich fortan sie noch lieben, all ihre Fürsten sind die Fernsten.“
Hos 9,15, Buber/Rosenzweig, Buch der Kündung 3, S. 608
„Als Jißrael jung war, liebte ich ihn, von Ägypten an rief ich meinem Sohn zu … Ich hielt sie
an Menschenbanden, an Stricken der Liebe, so war ich ihnen …“
Hos 11,1.4a, Buber/Rosenzweig, Buch der Kündung 3, S. 612
„Ich werde ihre Abkehrung heilen, werde sie aus Willigung lieben, ja, mein Zorn kehrt sich von ihnen ab.“
Hos 14,5, Buber/Rosenzweig, Buch der Kündung 3, S. 612
c) Für die rabbinische Theologie ist alles, was auf Erden geschieht, von Gottes Liebe umschlossen. Im babylonischen Talmud beginnt mit diesem Hinweis – in dem dann mit Gen
2,22, 3,27 und Dtn 34,6 die Eckpunkte des Handelns Gottes in der Torah benannt werden – die „Weisung zum Leben“. Von diesem zentralen Traditionsgut sind verschiedene Varianten überliefert: Deren Unterschiede sind so bemerkenswert wie ihre große Übereinstimmung:
„Rabbi Simlai legte aus: Die Weisung – ihr Anfang ist der Erweis von Liebestaten, und ihr Ende ist der Erweis von Liebestaten. Ihr Anfang ist der Erweis von Liebestaten, denn es steht geschrieben: Da machte der Herr, Gott, für den Menschen und für sein Weib Fellröcke, damit er sie bekleide. Und ihr Ende ist ein Erweis von Liebestaten, denn es steht geschrieben: Da begrub er ihn im Tale.“
Sota 14a, Babylonischer Talmud, Weisung zum Leben
„Rabbi Simlai (um 250) hat gesagt: Willst du wissen, dass alle Wege Gottes Liebe sind (Ps
25,10)? Im Anfang der Tora hat er eine Braut geschmückt, s. Gen 2,22; an ihrem Ende Liebe, denn er hat einen Toten begraben, s. Dtn 34,6; und in ihrer Mitte hat er einen Kranken besucht, s. Gen 18,1.“
Tanchuma B 1 42a, Strack-Billerbeck IV, S. 778
d) Immer wieder werden auch literarische Formen der Verarbeitung der Thematik vorgelegt, etwa durch den britischen Schriftsteller Ian McEwan in der Novelle „The Children Act” (2014). Im Plot geht es um die Entscheidung einer Familienrichterin, ob im Scheidungsfall einer traditionellen jüdischen Chareidi-Familie das Sorgerecht für die beiden kleinen Mädchen beim traditionell gebundenen Vater oder bei der aus dieser Tradition heraustretenden Mutter liegen soll. Zur Entscheidung listet die Richterin auf, welche Zutaten ein Mensch im Leben braucht, um ein gutes Leben zu führen:
„Economic and moral freedom, virtue, compassion and altruism, satisfying work through engagement with demanding tasks, a flourishing network of personal relationships, earning the esteem of others, pursuing larger meanings to one’e existence, and having at the centre of one’s live one or a small number of significant relations defined above all by love.”
Ian McEwan, The Children Act, S. 15
3. Beobachtungen am Text
Der Text ist dicht und prall gefüllt mit geprägten Begriffen. Es gilt als typisch für die Literatur
der johanneischen Texte, dass der Gedankengang nur langsam vorankommt. Am Ende steht man wieder am Anfang, um ein paar Hintergründe und besondere Sprachbilder reicher.
V 7 Das Liebesgebot an die Leserinnen und Leser des Abschnittes ist nicht neu. Zum ersten Mal freilich im 1.Joh nimmt es die reine Form des Imperativs an. Nur mit Mühe entkommt man dem Eindruck, in der Logik sei eine Kasuistik am Werk. Hilfreich ist es, nach Henne und Ei zu fragen: Zuerst ist Gottes Liebe da, aus ihr leitet sich die Geschwisterliebe ab. Wo Menschen Liebe weitergeben, geben sie Gottes Liebe weiter, vermitteln Gott an andere. Wer die Liebe so weitergibt, bezeugt damit zugleich, dass er zu Gott gehört.
V 8 Die Reihe der Gottesdefinitionen wird hiermit verlängert: Gott ist Geist (Joh 4,24), Licht (1.Joh 1,5), ewiges Leben (1.Joh 3,5) – und eben insbesondere Liebe (1.Joh 4,7). Wobei Gott damit nicht abstrakt definiert wird. Immer wird Gott durch die Beziehung auf den Menschen hin konkret, die sich in Geist, Licht, Leben und Liebe ausdrückt. Die Rechnung der Attribute ist keine Addition. Gott ist nicht Geist und Licht und Leben und Liebe. Sondern durch Gott wird dem Menschen der Geist, das Licht, das Leben und die Liebe zugeeignet. Es handelt sich also eher um Distribution, Ermöglichung.
V 9 variiert Joh 3,16. Adressatin der Erlösung ist sehr allgemein „die Welt“, genauer die Menschenwelt. Das zugesagte ewige Leben ist im Blick auf die Glaubenden deren gegenwärtiger Zustand, keine zukünftige Erwartung. Der Sohn hat das Leben gebracht. Die Liebe Gottes ist nicht nur Gefühl, kein blankes Symbol, kein abstraktes So-sein. Die Liebe Gottes wird erfahren als Tat für, als Einsatz zugunsten von, als Hingabe an … Diese Liebe ist konkret, spürbar, man kann sie hören, anfassen, sehen!
V 10 Allerdings ist die Liebe Gottes für den Menschen nicht einfach zu haben, sie ist für ihn schon gleich gar nicht verfügbar. Gottes Liebe ist keine Antwort auf menschliches Tun. Gottes Liebe hat keine natürliche Quelle und keine menschliche Analogie. Die Liebe bleibt Gottes Eigenschaft und Kennzeichen. Der vorzügliche Ort, Gottes Liebe zu erfahren, ist der Ort, an dem der Mensch von seinen Sünden befreit wird. An jüdische Opferterminologie angelehnt wird für diese Ortsbestimmung Jesu Tod in einer Art der Zuspitzung traditioneller Vorstellungen als „Sühnung“ gedeutet.
V 11 Die theologisch spannendste Stelle des Abschnitts ist erreicht. Zum letzten Mal werden die lieben Leserinnen und Leser (vgl. 2,7; 3,2.21; 4,1.7) angeredet. Man versteht, was gesagt ist, wenn man sich klar macht, was nicht gesagt wird. Nicht vom lieben Jesus und liebenden Christus ist die Rede, von Gottes Liebe sehr wohl. Es geht doch tatsächlich nicht um Jesusfrömmigkeit und das Vorbild des Offenbarers. Der Akzent wird aber ebenso wenig auf Gottes oder Jesu Tun gelegt. Sondern jetzt sind die Menschen dran zu tun, was sie schulden. Dieses Schulden ist theologisch sehr aufgeladen, es ist nicht weniger als eine unabdingbare Pflicht, eine indiskutable Selbstverständlichkeit.
V 12 setzt 4,7-11 bis zu Vers 16 hin weiter fort. Man könnte freilich auch mit Vers 15 enden. Der theologische Spitzensatz „Gott nicht sehen können“ erinnert an vergleichbare Aussagen der jüdischen Tradition. Freilich wird hier nicht die bedrohliche Fremdheit einer Gotteserscheinung herausgestellt. Sondern es wird Gottes Erreichbarkeit durch praktizierte Liebe betont. Wie in 4,11 die Liebe nicht mit Jesus, sondern mit Gott konnotiert wird, erscheint in 4,12 die Geschwisterliebe als Ziel, nicht die Liebe zu Jesus. Die Glaubenden sollen ja auch nicht
„bei Jesus bleiben“, sondern „in Gott“ und damit in der Liebe.
4. Homiletische Entscheidungen
Im Kern geht es darum, etwas weiterzugeben, was ich selbst nur empfangen konnte. Eine ent-
sprechende Erfahrung hat jeder Mensch schon oft gemacht. Inbegriff und Urbild dafür ist die Liebe, die eine Mutter dem Kind schenkt. Am Beispiel der liebenden Mutter kann in vorzüglicher Weise erfahrbar werden, dass man nicht zuerst liebt, sondern zuerst lieb gehabt wird. Für Martin Luther war die Mutter, die sich ihrem Kind in Liebe – ganz selbstverständlich – zuwendet, Inbegriff für einen tätigen Glauben, der gute Frucht bringt.
Kaum zufällig kommen sowohl bei der obigen Annäherung wie den genannten biblischjüdischen Kontexten familiäre Bezüge zum Tragen. Auch wenn die gesellschaftlichen Strukturen des Zusammenlebens und die Institution der Familie vielen Menschen fraglich und in sich fragil geworden sein sollten: neuere Untersuchungen zur Weitergabe von Religion und Glauben schlagen in die gleiche Kerbe. Ohne Familie und die Liebes- und Glaubenserfahrung dort verliert die christliche Religion ihren Haftpunkt und fängt an zu verschwimmen. Aufgabe von Gemeinde und Kirche wird es immer mehr werden, die Familien als Ort der Liebeserfahrung zu deuten – und die darin erlebten Emotionen für eine Deutung auf Gottes Liebe offen zu halten – ohne sie zu überhöhen.
Auch weil es in jeder Predigt um mehr als um Religion geht, und sei es die christliche Religion, gilt für eine Predigt über 1.Joh 4, erst recht aus jüdischer Perspektive: Mut zur Rede von der Familie unserer Herkunft! Courage zur Rede von der ersten Liebe, die ein Kind von seinen Eltern erfahren hat, immer noch erfährt und den alt gewordenen Eltern zurückgibt! Dazu trete die theologische Freiheit, Gottes Liebe als Konkretion menschlicher Liebeserfahrung zur Diskussion zu stellen. So könnten Menschen anhand eigener Erfahrungen erleben, dass ihr Leben durch Gott offen ist für eine Liebe, die von Gott herkommt und zu anderen Menschen hin reicht. Dass damit die Aufgabe besteht, auch die Erfahrungen zu besprechen, die der Liebe zu widersprechen scheinen, ist darin impliziert.
Viele Familien sind in den letzten Jahrzehnten eher Orte des Schweigens über den christlichen Glauben und unbesetzte Leerstellen religiöser Übung geworden. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei gesagt, dass es nicht darum gehen muss, „jetzt erst recht die Familie“
hochzuhalten. Es soll das Evangelium laut werden, in dem Gottes Liebe alles umgreift, was menschliche Liebe beantwortet.
Warum sollte die Familie kein Ort sein, an dem das Evangelium erfahrbar wird? Womöglich ist dieser Ort und sind seine Gelegenheiten zur Liebe im Hinblick auf die Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums tatsächlich eine Art Lakmustest, ob wir das Evangelium so alltagstauglich und alltagsrelevant kommunizieren, dass es im menschlichen Miteinander zur Verantwortung vor Gott und den Menschen hilft. Dass ein menschliches Leben, um vor Gott und den Menschen gelingen zu können, auch die Dimension der Liebe braucht, ist ein moderner Anknüpfungspunkt für die Vermittlung der christlichen Botschaft.
Da der Predigttext eher begriffslastig daherkommt, gibt es zwei einfache Alternativen: ebenso mit Begriffen weiterdenken oder die Begriffe in Narrative umfließen lassen. In einem solchen Narrativ könnte davon die Rede sein, wie das Scharnier zwischen Gottesliebe und menschlicher Liebe genau funktioniert. Zur Konkretisierung eignen sich viele alltägliche, typische Familiensituationen, in denen die Erfahrung des Vorrangs, geliebt zu werden, gut tut und erinnert werden soll. Konkrete Beispiele gibt es an jeder Ecke: Aufgeschlagene Knie von trostbe-
dürftigen Kindern gehören ebenso dazu wie streitende Geschwister, die den Weg zurück aus der Emotion nicht mehr finden. Die ewige Hassliebe der zurückgesetzten Tochter ihrer Mutter gegenüber gehört ebenso dazu wie die aufopferungsvolle Liebestat der ihre Schwiegermutter pflegenden Schwiegertochter. Das ehrenamtliche Engagement junger Senioren in ihrer Freizeit, die sie Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflegeheimen widmen, um ihnen vorzulesen oder mit ihnen zu spielen, gehört ebenso dazu, wie das Engagement der Altenheimbewohner für die Morgenandacht in der Hauskapelle oder im Therapieraum, wohin sie Mitbewohnerinnen bringen, die sonst nicht hinkommen könnten …
5. Liturgievorschlag
Lesungen
Lk 10,25-37
I Kor 13*
Lieder
Liebe, die du mich zum Bilde (EG 401)
So jemand spricht, ich liebe Gott (EG 412)
Gott liebt diese Welt (EG 409) – auch als gesungenes Credo
Kollektengebet
Herr, ewiger Gott, gütiger Vater. Du bist die Liebe.
Alle Menschen leben aus deiner Liebe,
und alle wissen wir auch, dass Liebe zu unserem Leben gehört. Befreie uns von Selbstsucht und Hartherzigkeit.
Erfülle mit deinem Großmut und deiner Großzügigkeit auch unsere Herzen. Lass uns, was wir von dir empfangen,
mit anderen teilen und an andere verschenken. Durch unseren Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir und dem Heiligen Geist
lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Manfred Josuttis, Erleuchte mich mit deinem Licht, S. 193
Literatur
Der babylonische Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Meyer, überarbei-
tete Auflage, München 1963.
Bibel in gerechter Sprache, herausgegeben von Ulrike Bail, Frank Crüsemann, Marlene Crüsemann, Erhard Domay, Jürgen Ebach, Claudia Janssen, Hanne Köhler, Helga Kuhlmann, Martin Leutzsch und Luise Schottroff, Gütersloh 2006.
Die Briefe des Neuen Testaments und die Offenbarung des Johannis erläutert aus Talmud und Midrasch von Hermann Strack und Paul Billerbeck, in: Kommentar zu Talmud und Midrasch dritter Band, München 1926.
Bücher der Kündung, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, achte
Auflage der neubearbeiteten Ausgabe von 1958, Stuttgart 1992.
Josuttis, Manfred, Erleuchte uns mit deinem Licht. Gedanken und Gebete zu den Gottesdiensten des Kirchenjahres, Gütersloh 2009.
McEwan, Ian: The Children Act, London 2014. Stefan Koch
Dr. Stefan Koch, Pfarrer, *1965, Himmelreichstraße 2, 80538 München, Stefan.Koch@elkb.de
Christfest I: 1.Joh 3,1-6
„Der treue Vater“
1. Annäherung
Der Anfang tut allen den Männern einer Gesellschaft gut, in der immer noch die Liebe zu den
Kindern zu allererst mit der Mutter verknüpft wird. Damit fängt der Text an: wir sollen aufmerksam sein für Vaterliebe! Natürlich ist im ersten Johannesbrief von dem ganz anderen Vater die Rede als von einem irdischen Erzeuger – aber die hermeneutischen Frage bleibt: welche modernen Bilder für den Vater ermöglichen dem (post-)modernen Menschen, sich der Erkenntnis des Bibeltextes anzunähern und sich in ihrem Licht zu erkennen? Der Predigt ist an dieser Stelle rabiat deutlich, wenn er konstatiert, dass die Welt solches nicht erkennt, weil sie den Vater in Ewigkeit nicht kennt. Mag diese Diagnose auch stimmen und bitter sein, gibt es von ihr aus überhaupt einen Weg aus der Negativspirale des fehlenden Erkennens heraus? Und hätten wir dabei eine Aufgabe und eine Rolle? Bis der Vater am Ende allen klar sein wird, dauert es noch. Aber das heißt dann auch für uns: bis dahin ist Zeit für unser Tun.
Für die wahre Erkenntnis gibt es einen alternativen Rahmen neben dem der Liebe. Die Liebe lässt die Glaubenden erkennen und führt sie zur Heiligung, so macht es der Johannesbrief deutlich. Dieser alternative Rahmen des Erkennens ist „die Sünde“. Sie fungiert als Unterscheidungsmerkmal, ist wie ein Lackmustest mit Farbfärbung, eine PH-Wert-Bestimmung im sauren oder alkalischen Bereich. Wo Sünde ist, ist keine Heiligkeit, ist kein Glaube, ist keine Erkenntnis des Vaters. Wo keine Sünde ist, ist Heiligkeit, ist die Liebe, ist die Erkenntnis der Kindschaft, ist der Vater. Der Text organisiert den Weg zu Gott als unaufhörlich aufsteigende Kaskade. Alternativ ginge es die Klippe des Abgrunds hinab – und das an Weihnachten!
2. Kontexte
a) Die Bezeichnung Gottes als Vater hat auch im Alten Testament verschiedene Kontexte. Sie
ist zwar dort nicht zentral, aber behält ihren Platz, um das Treueverhältnis Gottes zu seinem
Volk zu akzentuieren.
„Bereits der hebräische Text des Alten Testaments beinhaltet etwa 20 verschiedene Gottesbezeichnungen, daneben ca. 90 zusammengesetzte Bezeichnungen, sowie zahlreiche Genitivattribute. Am häufigsten sind dabei JHWH (6828 mal), Älohim (2600 mal), Adonai (439 mal), El (238 mal), Schaddai (48 mal) und (El) Eljon (31 mal) …
In vorexilischer Zeit ist die Vaterbezeichnung Gottes entstanden als ein Element der Königsideologie, d.h. der davidische König wurde verstanden als Sohn Gottes via Adoption … In exilischer Zeit wird die Vaterschaftsvorstellung ausgeweitet auf ganz Israel als dem Volk, das die Davididen einst regierten. Ganz Israel ist nun Sohn Gottes, nicht mehr nur der König. Für Israel gilt die Treue Gottes ebenso wie für den König. Für seine Treue verlangt der Vater Israels Gehorsam von seinen Kindern. In nachexilischer Zeit tritt das Thema der Treue Gottes aufgrund des in Jerusalem erneuerten JHWH-Kultes in den Hintergrund. Möglicherweise war die Anrede „unser Vater“ im Kult des zweiten Tempels eine liturgische Anrede für JHWH … Die Anrede Gottes als Vater findet sich im hebräischen Text insgesamt 7 mal“ (Jes 63,16 2 mal; Jes 64,7; Jer 2,27a; Jer 3,4; Jer 3,19; Ps 89,27; vgl. Sir 51,10; III Makk 6,2-15), „sie wird
ins Griechische zumeist als Aussagesatz übertragen“.
Zimmermann, Die Namen des Vaters, S. 29.49f
b) In der rabbinischen Tradition sind „Väter“ insbesondere auch die namhaften Gelehrten der talmudischen Tradition, denen im Buch Nezikim, dem vierten Buch der Mischna, ein eigener Traktat Abot („Väter“) oder auch Pirke Abot („Sprüche der Väter“) gewidmet ist. In diesem Traktat finden sich zahlreiche Hinweise auf die Frage, wie man mit Sünden bzw. Übertretungen umgehen sollte oder solche vermeiden kann.
„Akabja ben Mehalal’el sagt: Bedenke drei Dinge und du wirst nicht in eine Übertretung geraten: Wisse, woher du gekommen bist, wohin du gehst und vor wem du künftig Rechenschaft und Rechnung abzulegen hast. Woher bis du gekommen? Aus einem übelriechenden Tropfen. Und wohin gehst Du? An einen Ort des Staubes, der Made und des Wurms. Und vor wem legst du künftig Rechenschaft und Rechnung ab? Vor dem König der Könige, dem Heiligen gepriesen sei er.“
Ab III 1, Die Mischna, S. 588
„Rabbi Hanina ben Dosa sagt: Jeder; dessen Furcht vor Sünde seiner Weisheit vorangeht, dessen Weisheit hat Bestand, aber jeder, dessen Weisheit seiner Furcht vor Sünde vorausgeht, dessen Weisheit hat keinen Bestand.“
Ab III 8 a, Die Mischna, S. 590
„Rabbi Jakob sagt: Diese Welt gleicht einem Vorzimmer zu der künftigen Welt, bereite dich im Vorzimmer vor, damit du in den Speisesaal eintreten kannst.“
Ab IV 16, Die Mischna, S. 594
c) Im wöchentlichen Abendgebet am Freitag wird in der Synagoge Gott vor allem als „der Ewige“ gepriesen. Im Jedid Nefesch dann, noch im Eingangsteil des Gebetes vor den Psalmenlesungen, wird Gott als „barmherziger Vater“ angerufen:
„Geliebter meiner Seele, barmherziger Vater, erziehe deinen Diener dazu, dass er entsprechend deinem Willen lebe, dass er zu dir hinlaufe wie ein Hirsch und angesichts deiner Pracht anbetend niederfalle, dass deine Freundschaft ihm angenehmer sei als Honig und alle Köstlichkeiten“.
Sefer Hatefilot, Abendgebet für Schabbat, S. 23.
3. Beobachtungen am Text
V 1 dient als Überschrift und erinnert die Grundlage für alles Weitere. Die Angeredeten sollen
sich als unerkannte Weltfremde verstehen. Sie sind durch Gottes Liebe erlöst und deshalb von allen Sünden befreit.
V 2 schärft den Hörerinnen und Hörern ein, dass erst noch offenbar werden muss, was sie sind. Insbesondere muss ihre Gleichheit mit dem Offenbarer erst noch offenbar werden. Mutmaßlich kann man dies zusammenfassend mit François Vouga so sagen, dass „die Erlösung bereits stattgefunden hat, die endgültige Verklärung jedoch noch aussteht“ (Vouga, HNT
15/III, S. 51) – eine Interpretation, die I Joh 3,2 nahe an Kol 3,4 heranrückt.
In V 3f folgen Gegenüberstellungen. Nach V 3 besteht die Gleichheit mit dem Offenbarer auch in der gleichen Heiligkeit. Es ist freilich derzeit für die Glaubenden eine Heiligkeit „auf Hoffnung“. Das drückt aus, dass der Glaubende eben dadurch definiert ist, dass er Hoffnung hat (vgl. I Tess 4,13), der Ungläubige dadurch, dass er ohne Hoffnung ist. In V 4 wird konsequent gefolgert, dass die Ungleichheit mit dem Offenbarer – im schieren Gegensatz zu denen, die Gottes Kinder (3,1) genannt werden – in Unglaube und Lüge besteht, die sich konkret in Sünde und Ungesetzlichkeit äußern. Die Ungesetzlichkeit ist hier typisch jüdisch die Unkenntnis (vgl. so auch in Qumran, 1QS I,23-24; III,18-21; IV,17.23; V,1-2).
V 5 Die damit aufgemachte Grundsatzunterscheidung von Heiligkeit und Sünde hat ihren Angelpunkt und ihr Scharnier in „jenem“ (3,5), „der erscheint“ (3,2, terminus technicus für das Christusereignis als Offenbarung in der johanneischen Tradition), „auf den“ die Kinder Hoffnung haben (3,4), „der heilig ist“ (3,4), durch dessen Offenbarung bzw. deren Erkenntnis die Sünden beseitigt werden. Aus dieser Perspektive ergibt sich Christus als roter Faden des Textes, auch wenn er nicht jedes Mal namentlich erwähnt wird, was die hymnische Sprache auch gar nicht erfordert.
V 6 Auf die These von 3,5 folgt in 3,6 die Antithese. Die Unterscheidung von Heiligkeit und Sünde ist empirisch nachprüfbar, man frage schlicht nach der menschlichen Tat. Wer Christus erkannt hat, sündigt nicht. Wer in Christus bleibt, sündigt nicht. Wer Christus nicht kennt,
sündigt. Wer Christus (noch) nicht gesehen hat, sündigt. Der Text endet auf der Höhe des Anspruchs an die Glaubenden, ihre Aufgabe ist klar beschrieben.
4. Homiletische Entscheidungen
Man wird sich entscheiden, ob man die Verbindung von Lebenswelt und Predigttext, die jede
Predigt leisten will, auf der Seite der Lebenswelt startet, oder ob man dem Bibeltext das erste Wort gibt. Ein guter lebensweltlicher Anknüpfungspunkt – neben der oben bereits genannten gesellschaftlichen Verschiebung zur Bedeutung der Vaterrolle in den Familien und zur Vatertreue heutzutage – wäre die Hoffnung, die es gegenwärtig landauf-landab zu behalten gilt, auch angesichts gegenwärtiger Unsicherheitslagen und zukünftiger Sicherheitsfragen auf den Weihnachtsmärkten, die auch nach dem Fest noch betrieben werden. Wobei dann schnell deutlich wird, welche Hoffnung die Glaubenden haben und behalten, und welche sie gelegentlich auch selbst fahren lassen: die Hoffnung, mit der Gott uns mandatiert, hat Kraft über den Tag hinaus, unsere eigene Hoffnung bleibt menschlich und damit enttäuschbar.
Ein anderer möglicher lebensweltlicher Anknüpfungspunkt wäre das Anknüpfen an der Diastase Heiligkeit-Sünde, die aber nur aufgemacht werden sollte, wenn beide Begriffe dabei dezidiert nichttheologisch gefüllt werden. Kirchliches Gerede über mangelnde Heiligkeit und
„ein bisschen Sünde“ gehört auch an Weihnachten nicht auf die Kanzel. Und im Gottesdienst am Heiligen Abend sollte man eine weltliche Rede von Heiligkeit-Sünde angesichts der Fremdheit des Publikums besser nicht versuchen; am ersten Christfesttag sieht die Kommunikation mit den Gottesdienstbesuchern schon wieder anders aus. Andererseits kann ich mich selbst gut daran erinnern, sogar am Heiligen Abend des Jahres der Wiedervereinigung in meiner Geburtsstadt eine überraschend schöne und anrührende Predigt über weltliche Heiligkeit und politische Sünde (Anknüpfungspunkt: die „Kerzendemokratie“ des Oktober 1989) bekommen zu haben. Wäre in diesem Jahr am ersten Feiertag ein Opus zum Thema „die Sünde des europäischen Projektes“ und ihre mögliche Wiedergutmachung denkbar? Es geht keinesfalls darum, die EU heilig zu sprechen, dazu ist alleine schon ihre Ausrichtung vor ihrer derzeitigen Dauerkrise, auf eine reine Wirtschaftsunion nämlich, viel zu problematisch. Aber die in Europa erreichte Verständigung und insbesondere die französisch-deutsche Freundschaft ist
durchaus ein Hoffnungszeichen für weite Teile der Welt. Die Tatsache, dass viele Kirchengemeinden über Partnergemeinden international vernetzt sind, gibt dem Internationalismus des christlichen Glaubens eine beeindruckende Qualität und gesättigtes Erfahrungswissen. Womöglich drückt sich darin sogar etwas von der (freilich immer nur im Glauben bekannten)
„Heiligkeit“ der Kirche (Jesu Christi) aus, die der internationalen Kommunikation glaubwürdige Alternativen zum Neoliberalismus a la TTIP wie zu erneuten Mauerbauplänen à la Trump zeigt?
Wenn man dem Bibeltext das erste Wort gibt, sollte der rote Christusfaden des Johannesbriefes von Anfang an deutlich werden und hymnischer Charakter die Rede bestimmen. So wäre dann zu bekennen, dass mit der Christusoffenbarung alles am Tag ist, was für die Glaubenden von jetzt bis ans Ende der Welt wichtig ist und wichtig wird – im Sinn von „fortan keine unliebsamen Überraschungen mehr“, „die Richtung stimmt“, „Übergabe des Staffelstabes an uns
– vorerst“ …
In jedem Fall wird man in der Predigt auszusprechen haben, was mit Heiligkeit und Sündlosigkeit im Text und in der Wirklichkeit gemeint ist, dies wurde oben schon angedeutet. Vorsicht dabei vor dem empirischen Fehlschluss, der darin bestünde, die fehlende Heiligkeit insbesondere der Organisation Kirche und aller ihrer irdischen Repräsentanten als Widerspruch zur Heiligkeit Gottes zu betrachten. Die Kirche, die Gemeinden und ihre Hauptsamt allen Ehrenamtlichen sind allenfalls Trabanten wie unser guter alter Mond am Winternachthimmel, der von der Sonne beschienen wird und nur deshalb auf der Erde hell erscheint.
Ein beide Bereiche, Lebenswelt und Bibeltext, verknüpfender Zugang wäre ein roter Faden
durch den „Vater“-Begriff. Angefangen bei der Zuspitzung der hebräischen Bibel und der
rabbinischen Tradition, dass mit dieser Gottesbezeichnung besonders die Treue zu Israel unterstrichen wird, ließe sich wunderbar auch Weihnachten betrachten. Die Geburt Jesu in Niedrigkeit und in ärmlichen Weltverhältnissen ist Ausdruck der Bundestreue Gottes gerade auch in den Ställen und Flüchtlingslagern dieser Zeit, bei den Menschen ohne Herberge und ohne Leitstern. Dieser rote Faden ließe sich weiterspinnen, indem man dann auch die neutestamentliche Wirkungsgeschichte aufgreift und die Bedeutung der Gottesanrede Abba („lieber Vater“) aus dem Mund Jesu (Mk 14,36/Mt 26,39; vgl. Lk 22,42 „Vater“; Joh 17,1ff „Vater“) verdeutlicht, die im Gottesdienst der christlichen Gemeinde mit dem Ruf „Abba, lieber Vater“ (Gal 4,6; Röm 8,15) ihre kongeniale Fortsetzung findet …
5. Liturgievorschlag
Lesungen
Jes 63,15-16 (sonst Lesung am 2. Advent) oder Jes 63,7-16 (sonst Lesung am 1. Sonntag nach dem Christfest)
Röm 8,(1-11.)12-16 (sonst Epistel 14. Sonntag nach Trinitatis)
Lieder
EG 188 „Vater, unser Vater“ als Predigtlied, oder auch aus „Kommt, atmet auf. Liederheft für die Gemeinde“ LH 035 „Vater, unser Vater“
EG 328 „Dir, dir, o Höchster will ich singen“, insbesondere Strophe 4, oder EG 351 „Ist Gott für mich so trete“, insbesondere Strophe 7
Kollektengebet
Herr, du großartiger und großmütiger Gott. Auch an diesem Weihnachtsfest willst du uns reich machen. Durch das große Geschenk deines Sohnes, durch die kleinen Gaben, die wir untereinander austauschen dürfen.
Deshalb bitten wir dich: Lass deinen Reichtum einziehen in unsere Herzen, dass wir großmütig werden und mit anderen teilen, auch wenn wir selbst nicht viel haben; dass wir großzügig bleiben und einander vergeben, wenn wir schuldig geworden sind. Lass uns dein gutes Wort hören und deine starke Kraft in uns wirken. Lass uns bei dir bleiben in Zeit und Ewigkeit durch unseren Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir und dem Heiligen Geist lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Manfred Josuttis, Erleuchte mich mit deinem Licht, S. 15.
Literatur
Die Mischna, ins Deutsche übertragen, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von
Dietrich Correns, Wiesbaden 2005.
Sefer Hatefilot. Das jüdische Gebetbuch, herausgegeben von Jonathan Maginot in Zusammenarbeit mit Walter Homolka, Übersetzung aus dem Hebräischen von Annette Böckler, Gebete für Schabbat und Wochentage, Berlin 5762 – 2001.
Josuttis, Manfred: Erleuchte uns mit deinem Licht. Gedanken und Gebete zu den Gottesdiensten des Kirchenjahres, Gütersloh, München 2009.
Vouga, François: Die Johannesbriefe, Handbuch zum Neuen Testament HNT 15/III, Tübingen
1990.
Zimmermann, Christiane: Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont, in: Ancient Judaism and Early Christianity, Berlin 2005.
Stefan Koch
Dr. Stefan Koch, Pfarrer, *1965, Himmelreichstraße 2, 80538 München, Stefan.Koch@elkb.de
Epiphanias: Joh 1,15-18
„Morgenglanz der Ewigkeit“
1. Annäherung
Lange hatte ich Schwierigkeiten, die angelsächsische Zeit richtig zu verstehen. Da gibt es in
Zahlen von 1 bis 12 die konkrete Stunde, dazu wird ein „a.m.“ (heute weiß ich: ante meridiem, „vor dem Mittag“) oder „p.m.“ (past meridiem, „nach dem Mittag“) gesetzt. Ich konnte mir früher nie merken, welche Abkürzung was genau heißt. Und ich habe immer wieder mal
„nach Mittag“ (stimmt so) und „nach Mitternacht“ (gibt’s gar nicht) durcheinandergebracht.
Wenn man es nie richtig gelernt hat …
Im Prolog des Johannesevangeliums gehen die Zeiten eine eigene Mischung ein und überkreuzen sich. Johannes „war eher“ als Jesus, der also aus Sicht des Johannes „nach mir kommt“. Und doch ist Jesus für Johannes „mir zuvor gekommen, weil er eher war als ich“. Damit dürfte darauf angespielt sein, was die hohe Christologie „Präexistenz“ nennt. Die Verhältnisbestimmung beider zueinander scheint nicht leicht – aber irgendwie wichtig. Denn schon im ältesten der kanonisch gewordenen Evangelien geht es wie beim spät kanonisch gewordenen Johannesevangelium am Anfang um diese beiden: Jesus und Johannes, Johannes und Jesus. Als ob man Jesus, den „Sohn Gottes“ (Mk 1,1) bzw. das „Wort“ (Joh 1,1) nicht gut genug versteht, wenn man von Johannes absieht. Das Zeugnis des Johannes über Jesus (Mk
1,7-8: Taufe mit dem Heiligen Geist durch Gott bzw. Jesus; Joh 1,33: Taufe mit dem Heiligen Geist durch Jesus) scheint notwendig, um nicht nur den Anspruch Jesu zu begreifen (Mk), sondern auch die Zeiten in ihrer inneren Verschränkung recht zu erkennen (Joh) …
2. Kontexte
a) Das Wort kommt in die Welt (Joh 1,10) und verortet sich. Auch wenn das Wort im Anfang
bei Gott war (1,1), behält das Wort Gottes in der Torah (1,17) seine Bedeutung. Abgekürzt wird jeweils der Name „Mose“ genannt, wenn es um die Weisung Gottes geht. In der jüdischen Auslegung ist treuhänderisch tätig, wer die Torah des Mose lehrt. Die Weisung ist das Erbteil Israels bis heute:
„Raw Jehuda sagt, Raw habe gesagt: Jeder, der vor einem Schüler eine Lehrentscheidung zurückhält, ist wie einer, der ihm das Erbe der Väter raubt, denn es heißt (Dtn 33,4): Die Weisung hat uns Mose geboten, zum Erbteil für die Gemeinde Jakobs. Ein Erbteil ist sie für ganz Israel seit den sechs Schöpfungstagen.“
Sanhedrin 91,5, babylonischer Talmud „Vom Lernen der Lehrer und Schüler“, S. 268
b) Wichtigster Dual des Textes Joh 1 sind die Termini „Gnade/Güte“ und „Wahrheit“ (1,14.17). Wie eng beide zusammengehören, unterstreicht die rabbinische Kommentierung der Psalmen an vielen Stellen, etwa bei Ps 25 (vgl. auch Ps 40,11):
„Alle Pfade JHWHs sind Güte und Wahrheit (Ps 25,10). Als Mose zu Gott sprach: Geh, sage den Israeliten: ‚JHWH euerm Gott geht nach‘ (Dtn 13,5), sprachen sie zu ihm: Unser Lehrer Mose, kann man denn hinter ihm hergehen? Steht nicht geschrieben (Nah 1,3): JHWH, in Sturm und Windsbraut ist sein Handeln? Und (Ps 77,22): Im Meer war dein Weg und dein Pfad in vielen Wassern? Mose antwortete ihnen: Ich will euch damit sagen: Die Wege Gottes, alle Pfade JHWHs sind Gnade und Wahrheit. ‚Gnade‘ … damit sind die Liebeserweisungen (seitens Gottes) gemeint, und ‚Wahrheit‘ … damit ist die Torah gemeint. Und wem schenkt er sie? Denen, die seinen Bund bewahren (Ps 25,10).
Midrasch zu Ps 25 § 11 (107a), Strack-Billerbeck II, S. 361
c) Die – mitunter eigenwillige – Kommentierung des Johannesevangeliums durch Wolfgang Feneberg hält mit erfreulicher Klarheit die „Leseregel“ fest, mit der man in der „Bibelschule“ Jesu vorgegangen sei, um das Miteinander von Moses, Johannes und Jesus zu beschreiben:
„Natürlich sind auch Gnade und Wahrheit durch Mose gegeben; denn diese Begriffe sind die Mitte der Tora. Johannes der Täufer, der Hymnendichter, der Evangelist und jeder an Jesus Christus Glaubende darf deshalb als Leseregel für das JE (Verf: das Johannesevanglium) diese eindeutig und zentral im Text verankerte Leseregel mitnehmen: Das, was in der Tora zentral und wesentlich verkündet ist, geschah in Jesus Christus. Aus dieser Leseregel folgt, dass alle Konflikte, alles Neue in Jesu Christus nichts zu tun haben können mit einer Überbietung, mit einem Schema von Verheißung und Erfüllung.“
Feneberg, Kommentar zu Johannes 12 im Gespräch der Religionen, S. 16
3. Beobachtungen am Text
Der Text Joh 1,15-18 ist eng mit den vorhergehenden Versen 1,1-14 verknüpft, die er zu ei-
nem vorläufigen Ende bringt. Die Achterparallelität von 1,14 mit 1,18 wird durch „sehen“ und „einziggeboren“ hergestellt. 1,15-18 ist eine Art Abschlussstrophe des Prologs. Grundsätzlich ist damit alles über den Logos bzw. das Wort gesagt. Es folgt die erzählerische Konkretion, der „Jesusnarrativ“ des vierten Evangeliums.
V 15 Das parenthetische Zeugnis des Johannes – in 1,7 zeugte er, ebenso parenthetisch eingeführt, vom Licht – ist der Verweis auf den Fleisch gewordenen Logos, der folglich mit der konkreten Person (dem freilich dennoch nicht genannten Jesus Christus) identifiziert wird. Das synoptische Setting der Taufe am Jordan ist hier ebenso als bekannt vorausgesetzt wie der Kerkerort, aus dem heraus Johannes (im vierten Evangelium nie „der Täufer“) sogleich spricht. Mit beiden Bezügen vollzieht sich „ein intertextuelles Spiel unseres Autors mit synoptischen Texten“ (Thyen, HNT 6, S. 101). Konsequent kann in der Predigt die damit verbundene Jordan-Narration also vorausgesetzt und bei Bedarf verwendet werden. Gleiches würde für die Narrationen des gefangenen Johannes zu gelten haben.
Das Selbstzitat des Täufers ist theologisch qualifiziert, Johannes ist der „von Gott gesandte Mann“ (1,6). Wie anders könnte er die Vorzeitigkeit Jesu bezeugen, wie sonst von der Präexistenz des Logos wissen, wenn nicht aus Gott? Das textliche Verwirrspiel um die Zeiten (die Tempi der Vergangenheit und des Präsens – letzteres auch noch durch die verschiedenen Zeitstufen ausgedrückt – wechseln sich im griechischen Wortlaut munter ab) sollte nicht den Gegenwartsbezug verschleiern, den Johannes und vor allem sein Zeugnis dadurch bekommt, dass er im Evangelium zitiert wird, das in der jeweiligen Gegenwart der Hörerinnen (so die antike Gewohnheit) und Leser (so die akademische Studierstube) verkündet wird.
V 16 Das Hendiadioyn „Gnade und Wahrheit“ ist Sprechsprache (ausschließlich!) des Prologs, den inhaltlichen Ton dürfte die Wahrheit tragen – so jedenfalls in der unmittelbar nach dem Prolog folgenden Evangeliumsoffenbarung. Zugleich wird damit auf das Johannesevangelium als impliziten Gnadennarrativ vorverwiesen. Eine umfassende Auslegung des Textes sollte neben der noëtischen, denkenden, auch diese auf die Gnade bezogene, soteriologische Dimension stark machen.
Die nur in der deutschen Übersetzung schwierige Formulierung „Gnade über Gnade“ lässt das Gesetz als Gnadengabe (und Christus als ihren Geber) erkennen, sodass man eigentlich nun nicht wieder in alt und neu (Thyen, S. 103f) aufteilen müsste. Gottes Gnade ist weder steigerungs- noch aktualisierungsbedürftig, auch nicht bei oder nach Mose. Sie umfasst das Gesetz so gut wie das Christusgeschehen, dessen inkarnatorisch verankerte Seite gleich umfassend erzählt werden wird. Wobei eben auch das Gesetz nicht ohne Christusbezug auskommt:
V 17 Der Satz bildet einen schönen Parallelismus membrorum, der zweite Teil (Christus) bringt den ersten (Mose) zum Ziel und stellt so die Zusammengehörigkeit beider heraus. Auch die verwendeten Verben („gegeben sein“ und „werden“) differenzieren die Offenbarung im
Ergebnis nicht, sie gehören in der Prologsemantik seit 1,3 benachbarten Feldern an. Der eine, identische Quellgrund aller Gnade, der nun fleischgewordene Logos, wurde ja schon in 1,16 benannt.
V 18 leitet rhetorisch geschliffen (konkret liegt ein Epiphonem vor, also eine ins Allgemeine geweitete Sentenz) über zur Evangeliumsnarration (1,19ff), die ja inhaltlich (gegenüber den Synoptikern zugespitzt und verfeinert) auffüllt, was hier mit „Kunde“ bezeichnet wird. In ihr ist das Maximum dessen bewahrt, was es von Gott zu erkennen gab, gibt und geben wird, und was es nun vor der Welt zu offenbaren und zu verkündigen gilt.
Theologisch bedeutsam und letztlich von 1,3 her konsequent ist daran, dass auch schon das Sprechen von der Schöpfung (Gen 1 in Joh 1) so zu vollziehen ist, dass es ein Sprechen von Christus her wird. Und jedes Sprechen von Christus aus (1,14) hat als dieses inkarnatorisch begründete Reden immer eine entsprechende, die ganze Schöpfung umfassende Dimension. Erst wenn beides zusammenkommt bzw. zusammenbleibt ist die Offenbarung ganz erfasst.
4. Homiletische Entscheidungen
Jeder Predigtstil hat seine eigene Lösung, mit dem Problem des Beginns umzugehen. Wer auf
eine Anknüpfung an existenzielle Erfahrungen zielt, könnte die unterschiedlichen Dimensionen der Zeit und der menschlichen Zeiterfahrung aufgreifen und von daher beginnen, Johannes nachzusprechen. So würde es unter anderem auch möglich, die traditionelle Rede des geborgen Seins in Gottes guter Hand (so oft für Situationen am Lebensende) christologisch zu qualifizieren. Denn diese gute Hand Gottes ist ja die ausgebreitete Hand des Sohnes, die die Male der Kreuzigung herzeigt, damit Menschen, und seien es Menschen wie Thomas (Joh
20,27-29), glauben und bekennen können. Aber auch der Lebensbeginn – dem Menschen als Modus eigener Erinnerung entzogen – könnte über das hinaus qualifiziert werden, was traditionell (von Jeremia herkommend) zugesagt wird, dass nämlich der Mensch als solcher schon im Mutterleib von Gott erwählt (Jer 1,5) wurde. Diese (in der Auslegung allzu oft individuell bzw. individualistisch gewendete) Erwählungstat lässt sich christologisch qualifizieren, indem die Fleischwerdung des Prologs zugezogen wird. Denn erst durch diese christologische Qualifikation bekommt das Leben des/der Menschen dann einen Zielpunkt: zur Heiligkeit in der Wahrheit (Joh 17,17) sind alle berufen, um so die Herrlichkeit Gottes zu bezeugen (17,1-2), und in Gott die (17,24: vor der Gründung der Welt gegebene!) Herrlichkeit des Sohnes zu erkennen.
Neben einer solchen, individuell ausgerichteten, „Existenztheologie“ wäre auch eine stärker kosmologisch organisierte Herangehensweise denkbar. Wohl zuerst der Kirchenvater Augustin hat die Erkenntnis formuliert, dass Gott mit der Welt auch die Zeit geschaffen hat. Und die christliche Rede von der Unendlichkeit und Ewigkeit des Lebens bei Gott denkt ja letztlich eine temporäre Vorstellung weiter, die dadurch freilich – weil unkonkret – für Menschen unanschaulich zu werden droht. Immerhin wäre damit die Möglichkeit eröffnet, über die Qualifikation von Zeit nachzudenken und die Zeitqualifikation der Gegenwart einzuholen. Da hinein passen auch etwaige fast schon überkonkrete Beobachtungen zur digitalisierten Zeitwahrnehmung, zu Flow-Erfahrungen und zur Funktion von Kirchturmuhren und dem Läuten der Kirchenglocken. Die Narration des Johannesevangeliums macht die Zeit im Übrigen mit der Rede von der „Stunde“ Jesu (Joh 2,4; 17,1) konkret und bietet letztlich die Gewähr, mit einem solchen Zugang in der Erkennenslinie der ursprünglichen Narration des Prologs und des gesamten Evangeliums mit seiner Hochschätzung der Erhöhung Jesu am Kreuz zu bleiben. Denkbar wäre freilich auch, an dieser Stelle den „Tag“ Gottes (Am 5,18-20; Mal 3,2-5.22-24, I Joh 4,17, Apc 6,17) oder den „Tag des Herrn“ (also den Sonntag als Tag der Auferstehung, vgl. I Tess 5,2-4; II Kor 1,14) als soteriologische Zeitdimension zu apostrophieren, der dem Tag Gottes letztlich seine christologische Qualität aufprägt.
Schließlich bietet sich als Zugang an, die Narration des Johannesevangeliums als wahrhafte
Gnadennarration durchzuführen. Das würde theoretisch bedeuten, die Offenbarung der Wahr-
heit Gottes, wie sie an dem und durch den Sohn sichtbar wird, als ewige Gnadentat begreifbar werden zu lassen. Praktisch werden könnte das dort, wo das vierte Evangelium die Offenbarung durch den Sohn narrativ entfaltet. Die Menschen eigentlich unmögliche Wiedergeburt aus dem Geist (Joh 3) – durch die Sendung des Sohnes wird sie zur Möglichkeit der gnadenhaften Rettung (3,17). Die für die Menschen eigentlich unerreichbare Gabe des lebendigen Wassers (Joh 4) – wer dieses vom Sohn bekommt, wird selbst zu einem Gnadenbrunnen des Wassers ewigen Lebens (4,14) …
Konkret werden könnte das auch dort, wo das vierte Evangelium im Modus des Missverständnisses operiert. Am resignativ-abschließend wirkenden Ende des Schicksals des getöteten Gerechten (an dem sich freilich die Schrift erfüllt, vgl. Joh 19,23-37, womit schon die wahre Dimension des Geschehens angedeutet ist) mit seinem vermeintlichen Schlusswort „es ist alles aus“ (19,30) kann der Glaube „es ist vollbracht“ erkennen! Dass die christliche Existenz um diese Veränderung der Perspektive weiß und zu ihr aufgerufen ist, soll bezeugt werden. Wobei mit dem Prolog eine theologische Wahrnehmungstheorie zur Verfügung steht, die solches auch theoretisch-programmatisch leistet.
Schließlich wäre es auch – biblizierend – möglich, schlicht die synoptische Narration der Taufe Jesu (im Kontext seines beginnenden Auftretens Mk 1,9ff; Mt 3,13ff; Lk 3,21-22) und der Frage an den Täufer (im Zusammenhang mit der Klärung der Funktion Jesu Mk 6,14ff; Mt
11,1ff; Lk 7,18-23) durch die Brille der johanneischen Prologtheorie (Joh 1,6-8.15) zu betrachten. Damit ließe sich eine narrative Entfaltung des Propriums des Sonntages Epiphanias trefflich verknüpfen. Die Frage wäre dann ja nur noch, wer heute das Licht-Zeugnis des Johannes (1,7) weitergibt, wie man dieses Zeugnis heute aktuell in menschliche Sprache bringt (1,14) und wie dadurch das Wort bzw. der Sohn als Anfang, Mitte und Ende der Zeit kenntlich werden kann (1,15).
Dahinein die Schöpfungsmittlerschaft des Logos als tragende Säule des Prologgerüstes zu verweben, bleibt freilich eine Aufgabe. Vielleicht ließe sie sich durch das Herausstreichen der dem Menschen zu aller Zeit zuvorkommende (Belege etwa in den Heilsankündigungen der Propheten) und auch den fallenden Menschen noch auffangende Gnade Gottes (Belege beginnend mit der Urgeschichte Gen 1-11) erreichen. Und hier schließt dann im Reigen möglicher Predigtanfänge dieser homiletischen Überlegungen wieder die erste hier genannte Möglichkeit der Zeitbetrachtung an, dieses Mal als „Gnadenzeit“ …
5. Liturgievorschläge
Introitus
Ps 145 – eigentlich für den Sonntag Trinitatis vorgeschlagen, aber oft wegen der Pfingstferien nicht mehr als hoher Festpsalm wahrgenommen; der traditionelle Epiphanias-Psalm 100 kommt nämlich in der Terminologie des Joh-Prologs nicht so sehr zum Leuchten, wie er es aus sich heraus tut
Lesungen
Mt 3,13-17 – klassisch, Mk 1,9.11(12-13) – verschränkend; Lk 3,1-6.15-20.21f – integrierend
Oder schlicht Joh 1,1-14, damit der Gesamtzusammenhang des Prologs deutlich wird
Lieder
EG 450 „Morgenglanz der Ewigkeit“, Strophen 1.4-5
Sodann entweder
EG 67 „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ und EG 399 „O Lebensbrünnlein tief und groß“,
Strophen 1-2.4
oder EG 149 „Es ist gewisslich an der Zeit“, Strophen 1.5-7 und EG 64 „Der du die Zeit in
Händen hast“, je nach Zuspitzung mit den Strophen 2 und 3
Kollektengebet
Ewiger Gott, allmächtiger Vater. Am Anfang aller Lichtjahre hast du das Licht geschaffen. In der Mitte der Zeit ist dein Stern über Bethlehem erschienen. Am letzten Tag wird uns dein ewiges Licht umfassen.
Herr, lass dein Licht die Dunkelheit unseres Lebens erhellen. Befreie uns von Angst und Zweifel, von Schwermut, Hass und Hoffnungslosigkeit. Erleuchte unsere Seele durch die Kraft deines Wortes.
Darum bitten wir dich im Namen unseres Herrn Jesus Christus, der mit dir und dem Heiligen
Geist lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Manfred Josuttis, Erleuchte mich mit deinem Licht, S. 42
Literatur
Der babylonische Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Meyer, überarbei-
tete Auflage, München 1963.
Die Briefe des Neuen Testaments und die Offenbarung des Johannis erläutert aus Talmud und Midrasch von Hermann Strack und Paul Billerbeck, in: Kommentar zu Talmud und Midrasch zweiter Band, München 1924.
Wolfgang Feneberg, Mystik und Politik. Ein Kommentar zu Johannes 1-12 im Gespräch der
Religionen, Stuttgart 2004.
Manfred Josuttis, Erleuchte uns mit deinem Licht. Gedanken und Gebete zu den Gottesdiensten des Kirchenjahres, Gütersloh 2009.
Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005.
Dr. Stefan Koch, Pfarrer in Starnberg, *1965, Himmelreichstraße 2, 80538 München, Stefan.Koch@elkb.de
Laetare: Joh 6,47-51
„Speise mich mit Himmelsbrot“
1. Annäherung
„Um am Leben zu bleiben, braucht man Lebensmittel“ (Josuttis, S. 89). Ein Leben, das sich
einzig und allein auf ihren Erwerb und Verzehr konzentriert, verliert seine himmlische Weite und stirbt am Ende den irdischen Tod. Ein Leben, das sie ganz leugnet, hat die Inkarnation noch nicht zu Ende gedacht. Denn Jesus wird Fleisch (Joh 1,14), um Brot zu sein (6,35). Nur so können die Menschen irdisch sorgenlos und himmlisch befreit das Brot empfangen, das ihnen irdisch und himmlisch zugedacht ist.
2. Kontexte
a) Das „Brotkorn vom Himmel“ (Ps 78,24), „Brot der Engel“ (Ps 78,25) bzw. „Brot vom
Himmel“ (Ps 105,40) wird im AT mit Hilfe vieler hapax legomena beschrieben. Dazu passt die ätiologische Herleitung seines Namens „Man“ in Ex 16, in der die Fremdheit der Speise unterstrichen wird:
„Den wohl arabischen Namen Manna leitet die Bibel von dem Ausruf des Erstaunens ab, mit dem die Israeliten die ihnen bisher unbekannte Speise entdecken: ‚Man hu? Was ist das?‘ (Ex
16,5)“.
Calwer Bibellexikon, 862
b) Zur Vorbereitung auf den großen Versöhnungstag gehört die Überlieferung der Alten über die Fragen von Umkehr und Vergebung. Für die Wüstengeneration tradiert der Babylonische Talmud deshalb die Manna-Gabe (es wurde am sechsten Tag in der Dämmerung vor dem Sabbat erschaffen, für Heiden ist es ungenießbar, nach der Wüstenzeit ist es den Himmelsbewohnern vorbehalten, seine Mühlen stehen im dritten Himmel) als Hinweis auf das (uneinheitliche) Vertrauen Israels zum Vater im Himmel:
„Es steht geschrieben: Und wenn nachts Tau auf das Lager fiel, fiel auch Manna darauf; ferner steht geschrieben: hinausgehen soll das Volk und sammeln; ferner steht geschrieben: es streifte das Volk umher und sammelte. Auf welche Weise ist dies zu erklären? Den Bewährten fiel es an die Tür ihrer Häuser; die Mittelmäßigen gingen hinaus und sammelten; die Frevler streiften umher und sammelten.
Es steht geschrieben: Brot; ferner steht geschrieben: Fladen; ferner steht geschrieben: sie mahlten. Auf welche Weise ist dies zu erklären? Die Bewährten hatten Brot, die Mittelmäßigen Fladen, und die Frevler mahlten mit Handmühlen.“
Babylonischer Talmud Joma 75a, zit. nach: Meyer, 122
„Die Schüler fragten Rabbi Schimon, Jochais Sohn: Warum kam das Manna auf Israel nicht auf einmal fürs Jahr herab? Er sagte zu ihnen: Ich will euch ein Gleichnis sagen: Wem ist diese Sache zu vergleichen? Einem König von Fleisch und Blut, der einen einzigen Sohn hatte. Er teilte ihm seinen Unterhalt auf einmal fürs Jahr zu, so dass dieser seinen Vater nur einmal im Jahr besuchte. Da machte er sich auf und teilte ihm seinen Unterhalt für jeden Tag zu, so dass der Sohn seinen Vater jeden Tag besuchte. So war es auch mit Israel. Wer vier oder fünf Kinder hatte, der war immer besorgt, indem er sagte: Vielleicht fällt morgen kein Manna herab, und daraufhin würden wir alle Hungers sterben. Daraufhin richteten alle ihr Herz auf ihren Vater im Himmel.“
Babylonischer Talmud Joma 76a, zit. nach: Meyer, 122f.
c) Die neutestamentliche Geschichte erinnert an das Märchen „Tischlein – deck dich!“ Für den hier bedeutsamen Zusammenhang kommt es gar nicht auf den erzählerischen Rahmen der Verstoßung der drei Söhne durch den Vater sowie des späteren Tischdiebstahls, der Blamage
des heimgekehrten ältesten Sohnes bei der erfolglosen Vorführung und der Wiedergewinnung des Wundertisches durch den jüngsten Bruder an. Vielmehr ist das Märchen der Kasseler Geschichtensammler in seinem ersten Teil eine säkulare Entsprechung sowohl der biblischen Manna-Erzählung wie der Brotrede im Rahmen der Schlaraffenlandtradition – am Rande auch dahingehend, dass es die aufgetischten Speisen mit Ausnahme des Weines nicht spezifiziert:
„Der älteste Sohn war indeß zu einem Schreiner in die Lehr gegangen, und als seine Jahre herum waren, und er auf die Wanderschaft wollte, gab ihm dieser ein Tischgen deck dich. Er brauchte nur zu sagen: Tischgen deck dich! so war das Tischgen mit weißem Tuch gedeckt, ein silberner Teller stand da, silberne Messer und Gabel lagen dabei, vorn ein Cristallglas mit rothem Wein gefüllt, und rund herum die schönsten Schüsseln voll Essen. Damit zog er vergnügt in die Welt, und wo er war, im Feld, im Wald oder in einer Wirthsstube, wenn er sein Tischgen hinsetzte und: ‚Tischgen deck dich sagte, so hatte er die prächtigste Mahlzeit.‘ Einmal kam er in ein Wirthshaus, wo die Gäste schon alle versammelt waren, sie fragten ihn, ob er mitessen wollte, er antwortete: nein ‚aber ihr sollt mit mir essen.‘ Damit stellte er sein Tischgen in die Stube, sprach: ‚Tischgen, deck dich!‘ da stand es voll von dem kostbarsten Essen und wenn eine Schüssel abgehoben war, kam alsbald eine neue an ihre Stelle, und alle Gäste wurden herrlich tractirt.“
Kinder- und Hausmärchen I, Nr. 36, 164
3. Beobachtungen am Text
Der Predigttext ist eng mit seinem Kontext in Joh 6 verflochten. Die Szene lässt sich in Ge-
spräche Jesu mit sieben Dialogpartnern (Thyen, 331) gliedern: mit den Jüngern (6,1-13), mit einer Menge von Menschen (6,14-15), mit den Jüngern (6,16-21), mit der zuvor gespeisten Menge (6,22-40), mit „den Juden“ (6,41-58 – obwohl die ganze Szene doch in Galiläa spielt, vgl. 6,1.16f.22.59), mit „vielen der Jünger“ (6,59-65) und mit „den Zwölf“ (6,66-71).
Die Abgrenzung des Predigttextes ist schwer nachzuvollziehen, eigentlich gehören die Abschnitte 6,45-48 und 6,49-51 in der Szene von 6,41-59 eng zusammen. So muss bei den Beobachtungen am Text der Blick auch ein wenig im Kapitel 6 und seinem erzählerischen Zusammenhang des „Passahfestes der Juden“ (6,4) und der Brot-Diskurse schweifen.
V 45: Dass sich Jesus auf die Schrift (vgl. Jes 54,13) als Zeugin seiner Lehre beruft, eint ihn mit den Menschen der Menge (6,31), deren Speisung sie an die Erzählung von der Gabe des Manna in der Wüste (Ex 16) erinnert.
V 46: Die Verben stehen im Tempus des Perfekt, sie drücken aus, dass Jesus – und für das Johannes-Evangelium nur er – den Vater ständig vor Augen hat. Das kommt daher, dass er ständig „beim Vater ist“. Und daraus folgt, dass er – und für das Johannes-Evangelium nur er, vgl. Joh 1,18 – diese Wahrnehmung des Vaters vermittelt.
VV 47f.: Das doppelte Amen unterstreicht wie in Joh 6,26a, dass Widerspruch hier nicht erlaubt ist. Und auch der Hinweis auf das ewige Leben stammt aus diesem Kontext: Notwendig ist nicht eine vergängliche Speise, mag sie einem auch wunderhaft aufgetischt worden sein (6,1-13), sondern notwendig ist die ewig bleibende Speise (6,27a.47), die der Sohn des Menschen gibt (6,27), ja die er selbst ist (6,48).
V 49: Der Text verkürzt. Die Väter und Mütter Israels sind nicht wegen unzureichenden Man-
nas gestorben, dessen Qualität als Himmelsbrot ist unbestritten. Sie mussten vor der Landgabe sterben, weil sie sich gegen ihren Gott und seinen Gesandten aufgelehnt hatten (vgl. Num
14.22f.35).
VV 50.f markiert ein typischen johanneisches Missverständnis (so auch 6,52): Jesus fordert nicht deshalb dazu auf, ihn in kannibalisch anmutender Manier zu essen, weil er ein besseres Manna wäre. Jesus identifiziert allerdings das Brot, das er gibt (6,11) bzw. geben wird (6,51), mit seinem „Fleisch“ (1,14), das in die Welt gesandt wurde. Gemeint ist hier folglich nicht die Eucharistie oder das Heilige Abendmahl, in dem Jesus sich für die Glaubenden gibt, sondern die Menschwerdung Jesu (1,14) und das Kreuz, gegeben „für das Leben der Welt“ (vgl.
3,15f.) – eine sonst im NT nicht zu findende personale Verdichtung und zugleich kosmische
Universalisierung der vitalen Bedeutung des Todes Jesu …
4. Homiletische Konkretionen
Der Sonntag Laetare, das „kleine Ostern“, markiert nicht nur die Mitte der Passionszeit und
verweist schon einmal auf die heilige Woche und Ostern. Auch inhaltlich werden hier die Zeitebenen verschränkt, indem uns mit Jesus die Himmelsspeise verabreicht werden soll, die uns eigentlich erst nach dem Tod erwartet, sofern wir zu den Gesegneten zählen, denen das ewige Leben bereitet ist. Der Modus dieser Darbietung und Dosierung ist die konkrete Predigt, in der das Brot zum Wort wird, das man sich dadurch einverleibt. Also muss die Predigt etwas zu kauen, zu schmecken und zu schlucken geben – und sie muss das alles so tun, dass darin Manna verkostet werden kann. Das kann freilich kein menschliches Wort im gebotenen Sinne und Umfang leisten, das kann letztlich ja nur das Wort Jesu selbst erreichen. So muss die Predigt versuchen, Jesus möglichst als Wort im Wort zu Wort kommen zu lassen. Die Frage ist nur: Wie soll das geschehen? Erkenntnistheoretisch? Kerygmatheologisch? Durch eine sakrosankte Sprache, in der die babylonische Sprachverwirrung aufgehoben ist? Oder gar säkular, weil die Menschen heute auch so bedeutungsvoll vom Brot reden können?
Zu den theoretischen Zugangsweisen gibt es genug Ansätze für Predigtentwürfe. Der säkulare Ansatz verdient an dieser Stelle weiterführende Gedanken, sofern er im jüdischen Kontext bleibt. Was also nährt (und segnet damit) ein Leben, stärkt es auf überraschend-anhaltende und soziale Weise? Was macht so satt, dass dafür das Himmelsbrot im übertragenen Sinn als Zielperspektive stehen darf?
Dafür auf die Erfahrung zurückzugreifen, dass ich bekomme, was ich brauche, weil ich es brauche, für diesen Zugang stehen die jedem Menschen vertrauten Erfahrungen gelingender Tischgemeinschaft mit beglückenden geistreichen Gesprächen, die mich weiterbringen, weil sie etwas im Leben klären oder lösen. Dafür steht sicher das Stillen des leiblichen Hungers nach fast zu langem Warten. Ein Stück frisches Brot, noch warm aus dem Backofen, das mir hingehalten wird. Ein herzhaftes Vollkornbrot mit Schnittkäse, wie es früher meine Mutter für die große Pause in der Schule geschmiert hat, einmal durchgeschnitten und beide Teile aufeinander zusammengelegt. Das Segenszeichen der Großmutter auf dem frischen Laib. Ein Schluck Wasser aus der mir gereichten Trinkflasche auf dem Gipfel des Berges, der mir den ausgetrockneten Mund erst anfeuchtet und dann auch die Stimme wieder befreit. Wie gut, dass jemand noch einen Mund voll in seiner Flasche hat und ihn mir reicht; bei ihm kommt es erfahrungsgemäß ja nicht auf Kühlschrankfrische an. Aber der ganze Körper spürt, was Vitalität bedeutet. Es gibt solche himmlischen Erfahrungen von Stärkung durch Lebensmittel, die im Moment so viel mehr sind, als schlichtes Essen und irdisch-alltägliche Speise. Solche Erfahrungen gibt es auch bei den Menschen, denen die Predigt gesagt wird. Sie lassen sich herauslocken, indem man diese Predigthörer so konkret wie möglich imaginiert, und sie lassen sich dann narrativ entfalten. Sie lassen sich zudem auch im Gottesdienst als geteiltes Brot real erfahrbar machen.
Entscheidend ist dabei dann die Einsicht, dass diese Erfahrungen stets und verlässlich Gottesgeschenke – gerne aus der Hand liebevoll sich kümmernder Menschen, wie auch anders? – sind. Entscheidend ist der Signalcharakter solcher Erfahrungen, sie weisen über den Tag des Glückes hinaus, sie sind Zeichenhandlungen und Segensgesten. Und entscheidend ist der Verweis, dass diese Erfahrungen des Höchsten großherzige Geschenke an uns sind, auch die, in denen sich ein Mensch hingibt. Ausgehend von der allgemein menschlichen und humanen Erfahrung des Teilens muss in der Predigt am Ende mehr stehen als die Ansage, dass genug übrigbleibt, wenn alle alles in die Waagschale werfen. Brot des Lebens ist nicht nur geteiltes Brot, es ist das Brot, das dem einen zum Leben hilft, auf das aber der andere, der es gibt, sehr konkret um meinetwillen verzichtet und diesen Verzicht auch als solchen erleidet, womöglich weil es vom Mund abgespart wurde. Insofern lässt sich in der Predigt die Schlaraffenlander-
fahrung des „Tischgen, deck dich!“ nicht zu weit treiben, mit der man gleichwohl die Rede überraschend beginnen kann.
Weil Zeichen gedeutet werden müssen, braucht es in der Predigt auch den Hinweis, dass Jesus in besonderer Weise dieses Brot (und dieser Schluck Wasser) ist. Und weil das Brot auf Jesu Kreuzigung verweist, braucht es die Absicherung, dass das Himmelsbrot keine mit leichter Hand zur Verfügung stehende Sache ist, sondern eine echte Hingabegabe. Ein Brot, das den Geber etwas kostet – Brot des Lebens, das Jesus Christus das Leben kostet – und er gibt es fraglos und klaglos, weil wir es brauchen.
5. Liturgievorschläge
Lieder
„Tut mir auf die schöne Pforte“, insbesondere die titelgebende Strophe 6 (EG 166)
„Seht, das Brot, das wir hier teilen“, insbesondere die Brot-Strophen 1-2 und die Gemeinschaftsstrophen 5-6 (EG 226)
„Vater unser, Vater im Himmel“ (EG 188), weil es aufzeigt, worin das Vaterunser kulminiert:
in der Heiligung des Gottesnamens
Introitus
Psalm 104
Kollektengebet
Herr, großer Gott, gnädiger Vater. Du gibst uns auch heute unser tägliches Brot. Dafür danken wir dir. Aber du weißt auch, dass wir nicht vom Brot allein leben können. Unsere Seele braucht Trost, wenn wir traurig sind. Unser Leib braucht Kraft, wenn wir müde sind. Unser Gewissen benötigt Vergebung, wenn wir schuldig geworden sind. Um all das bitten wir dich durch Jesus Christus, unseren Herrn, der mit dir und dem Heiligen Geist lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Josuttis, 89
Literatur
Der Babylonische Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Meyer, überarbeitete Auflage, München 1979.
Von dem Tischgen deck dich, dem Goldesel und dem Knüppel aus dem Sack (1812), in: Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen. Große Ausgabe 1, 161-171.
Calwer Bibellexikon, in fünfter Bearbeitung herausgegeben von Karl Gutbrod und Reinhold
Kücklich, von Theodor Schlatter, Stuttgart 61989.
Josuttis, Manfred, Erleuchte uns mit deinem Licht. Gedanken und Gebete zu den Gottesdiensten des Kirchenjahres, Gütersloh 2009.
Thyen, Hartwig, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005.
Stefan Koch
Jubilate: Joh 15,1-8
„Lasst uns miteinander ...“
1. Annäherung
In der deutschen Schriftsprache bezeichnet der „Weinstock“ durchgängig immer das ganze
Gewächs im Gegensatz zur einzelnen Weinrebe. Das Wort findet seinen Weg letztlich erst durch Luthers Bibelübersetzung in die deutsche Schriftsprache. Freilich war es zuvor in der deutschen Mystik (Johannes Tauler, Albrecht von Eyb) von Bedeutung, um die Verbindung der Reben zu symbolisieren: „Cristus Jhesus, unse ghesundmaker, en ghelijkit sick nicht allene eynen wijnstock, mer he secht: ick byn selven de waerachtighe wijnstock“ (Johannes Veghe, zitiert. nach: Grimm, 995 [„Jesus Christus, unser Gesundmacher, er vergleicht sich nicht alleine einem Weinstock, mehr noch sagt er: ich bin selbst der wahrhaftige Weinstock“]. Eine Predigt über Joh 15 muss also zwingend den Gemeinschaftscharakter des Gotteslobes herausstreichen.
2. Kontexte
a) Der Weinstock ist in traditioneller rabbinischer Sicht regelmäßig das beste Beispiel für Is-
rael. Der großartigste Beleg für diese Auslegung bietet der hebräische Midrasch Leviticus Rabbah bzw. Wayyiqra Rabbah, dessen Entstehung frühestens in das 5. Jahrhundert datiert wird. Älteste Zitate aus der Homilie finden sich bei Nathan ben Jehiel (ca. 1035 bis 1106) und Rashi (1040 bis 1105). Der zitierte Abschnitt legt Lev 26,42 aus: „Und ich werde gedenken an meinen Bund mit Jakob und an meinen Bund mit Isaak und an meinen Bund mit Abraham und werde an das Land gedenken“:
„Wie man einen Weinstock nicht auf eine Stelle großer Felsen pflanzt […], so ‚vertriebest du
Heidenvölker u. pflanztest ihn‘ Ps 80,9. Wie ein Weinstock, je mehr man unter ihm freiräumt
… desto vorzüglicher wird, so war es auch mit den Israeliten … Ps 80,10. […] Wie man den Weinstock nicht in Unordnung pflanzt, sondern reihenweise, so bildeten auch die Israeliten einzelne Banner, s. Nu 2,2 […] Wie der Weinstock der niedrigste unter allen Bäumen ist u. doch aller Bäume Herr wird, so erscheinen auch die Israeliten als niedrig in dieser Welt, aber in der Zukunft […] werden sie Besitz erlangen von dem einen Ende der Welt bis zum andren. Wie von dem Weinstock sein bester Trieb aufschießt u. wer weiß wie viele Bäume bezwingt, so geht auch von Israel ein Gerechter aus u. herrscht von dem einen Ende der Welt bis zum andren [es folgen die Belege für Joseph Gen 42,6, Josua Jos 6,27, David 1.Chr 14,17, Salomo
1.Kön 5,1 und Mordechai Est 9,1]. Wie die Blätter des Weinstocks die Trauben bedecken, so bedecken auch die Gesetzesunkundigen […] unter den Israeliten die Gelehrtenschüler. Wie es am Weinstock große u. kleine Trauben gibt u. die größere niedriger zu sein scheint als die andre, so scheint auch in Israel jeder von ihnen, der sich mit der Tora müht und größer in der Tora ist als der andre, niedriger (bescheidener) zu sein als der andre [… es folgen weitere detaillierte Vergleiche zu den Lobsprüchen, zu Qualität, Wirkung und Keltertechnik, Bodenqualität, Schutzbewuchs durch Zedern, Aufstockung und Position der Weinberghütte]“
Leviticus Rabbah 36 (133a), zit. nach: Strack-Billerbeck , 563[564]
b) Von besonderer Bedeutung sind in der jüdischen Sicht auf den Wein die drei Rebzweige, die der ägyptische Joseph im Gefängnis dem mit ihm inhaftierten (namenlosen) Mundschenk des Pharaos deutet. Sie sind nicht zuletzt für den einflussreichen römisch-jüdischen Schriftsteller Flavius Josephus (36 bis nach 100) ein deutlicher Hinweis auf die große göttliche Befreiung des Menschen, die in der Welt das Ziel hat, durch die Praxis der wahren Religion zu Völkerverständigung und Humanität zu führen:
„Er erzählte ihm also, er habe im Traum drei Rebzweige gesehen, an denen große und ausgereifte Weintrauben hingen; diese habe er in einen Becher ausgepresst, den der König in der Hand hielt, dann habe er den Most durchgeseiht und ihn dem Könige zum Trinken gereicht, der ihn gnädig angenommen habe. Diesen Traum, sagte er, habe er gesehen, und er bat Joseph, ihm eine Deutung desselben mitzuteilen, wenn er dazu die Einsicht besitze. Joseph aber hieß ihn guten Mutes sein, denn in drei Tagen könne er seine Befreiung aus dem Kerker erwarten, und der König werde seine Dienste wieder begehren und ihn dazu wieder berufen. Die Frucht des Weinstockes nämlich sei durch Gottes Freigiebigkeit den Menschen zu ihrem Nutzen gegeben worden, da sie ihm selbst geopfert werde und da sie Freundschaft und Vertrauen unter den Menschen vermittle, Feindschaft löse, Verwirrung und Trauer zerstreue und großes Vergnügen bereite.“
Flavius Josephus, zit. nach: Clementz, 84
c) Den drei Rebzweigen des Mundschenks entsprechen auch die drei Segenssprüche über den Wein, die zudem letztlich auch den drei Teilen des aaronitischen Segens in Num 6,24-26 (segnen und behüten – Angesicht leuchten lassen und gnädig sein – Angesicht zuwenden und Frieden schaffen) im täglichen Segen für Israel entsprechen. Die drei Segenssprüche über den Wein werden konkret über die unreifen Beeren gesprochen, über die reifen Trauben und über den Wein bei dessen festlichem Gebrauch:
Lobspruch über die unreifen Beeren: „Gepriesen sei Jahve usw., der die Frucht der Erde geschaffen!“
Lobspruch über die reifen Beeren: „Gepriesen sei Jahve, der die Frucht des Baumes geschaffen!“
Über den Wein: „Gepriesen sei Jahve, der die Frucht des Weinstocks geschaffen!“
Leviticus Rabbah 36 (133a), zit. nach: Strack-Billerbeck , 563
3. Beobachtungen am Text
Die Gliederung des vierten Evangeliums hat die Auslegenden schon immer zu kreativen Vor-
schlägen seiner Einteilung motiviert. Eine neue Stoffdarbietung in fünf Akten nimmt Hartwig Thyen in seinem großen Kommentar (Thyen, VII-XII) vor. Wir befinden uns demnach mit Joh 15,1-8 in der dritten Szene des fünften Aktes (beginnend in Joh 13,1-17,26; die Passionsgeschichte ist dann der sechste von sieben Akten). Die erste Szene dieses Aktes umfasste die Fußwaschung beim letzten Mahl (13,1-18), die zweite den Abschied von den Jüngern (14,1-
31), die dritte ist die zentrale Weinbergsequenz (15,1-16,3). Es folgen im fünften Akt dann noch die Szenen zum Abschied in Verbindung mit dem Hinweis auf den Parakleten (16,4-33) und die abschließende Szene des Gebetes zum Vater (17,1-26). Wichtig an dieser Gliederung ist in Sonderheit der Hinweis auf die enge Zusammengehörigkeit von 15,1-8 mit der ganzen Weinbergsequenz.
V 1: Der Artikel bei „der Weinstock“ zeigt an, dass die Redeweise und die Metaphorik den Adressatinnen und Adressaten des Evangeliums vertraut war. Die Quelle dieses Wissen waren vor allem die biblischen Traditionen bzw. die immer wieder herausgestellte Übereinstimmung der Botschaft Jesu mit der Schrift. Jesus tritt nicht an die Stelle Israels als wahrer Weinstock, er vertritt Israel als dieser. Der Vater als Weingärtner verweist natürlich auf Jes 5,1ff.
V 2: Das Beseitigen („abschneiden“) der unreinen und „Reinigen“ der guten Trauben ist im griechischen Text eine Paronomasie, also der Ausdruck zweier Sachverhalte mit letztlich dem gleichen Wort(stamm). Beides sind demnach zwei Seiten einer Medaille.
V 3: Hier spricht schon der zum Vater erhöhte Jesus, was die Verwendung des Perfekt beim
Verb („Ihr seid schon rein“) unterstreicht.
V 4: „Bleiben“ ist das erklärte Lieblingswort Jesu im Johannesevangelium. Es liegt eine soge-
nannte „reziproke Immanenzformel“ (Thyen, 642, vgl. Joh 6,56; 14,20) vor. In ihr wird hier
um das wechselseitige Bleiben des Sohnes und der Glaubenden gebeten. Jesus wendet also sein Verhältnis zum Vater auch auf seine Jünger und ihr Verhältnis zu ihm an!
V 5 nimmt V 1 auf und ergänzt dort, wo in V 1 der Vater erwähnt wurde, nun die Jünger.
V 6: Die folgenden beiden Wenn-Sätze greifen auf Erfahrung zurück, sie sind nicht nur Gedankenspiele. Das Hinauswerfen wäre die Aufgabe des Weingärtners, nicht die Jesu und vor allem nicht die Kompetenz der Jünger. Man wird durchaus an das eschatologische Endgericht denken müssen, nicht nur – unzulässig abschwächend – an ein metaphorisches Handeln.
V 7: Die Art und Weise, wie die Worte in den Glaubenden bleiben, ist auch die Art und Weise, wie die Glaubenden in Jesus bleiben sollen. Der Glaube zielt auf das Wort, nicht aufs Bild. V 8 bildet eine Winzer-Inklusion mit 15,1b. Der Weingärtner muss zwar auch Unfruchtbares beseitigen, viel lieber aber erhört er Gebete. Wo die Glaubenden in Jesus bleiben, verherrlichen sie den Vater, das ist das Ziel. Der Sohn ist ja bereits vom Vater verherrlicht.
4. Homiletische Konkretionen
Man wird sich entscheiden müssen, ob die Bildrede vom Weinstock konkret nahelegt, den
Gottesdienst in jedem Fall mit der Einsetzung des Heiligen Abendmahls zu feiern. Der Predigttext gibt dies nicht zwingend vor und seine Auslegung fordert es auch nicht. Insofern kann es gut bei den jeweiligen ortsgemeindlichen Prägungen bleiben, die in der Regel lange vorher aufgrund der kalendarischen Festlegungen und Gottesdienstpläne festgelegt werden.
Der Sonntag Jubilate ist in der bisherigen wie in der erneuerten Perikopen- und Leseordnung ganz dem Thema Schöpfung verschrieben. Das zeigt die biblische Lesung aus Gen 1,1-2,4a, besonders aber auch die (neue) Epistel über den Altar für „den unbekannten Gott“ aus Apg 17 (zuvor war 1.Joh 5,1-4 als Epistel vorgesehen). Durch den (alten und neuen) Wochenspruch aus 2.Kor 5,17 wird die damit verbundene natürliche Theologie durch das Stichwort „neue Schöpfung in Christus“ orientiert und soll theologisch so zusammengehalten werden. Man wird sehen, ob sich durch die Veränderung nicht doch das Proprium verschiebt …
Die durch diese Textzusammenhänge und gegenseitigen Verweise vollzogene Universalisierung des Gotteslobes darf nämlich nicht nur auf ein allgemeines religiöses Erleben oder Wissen herauskommen, ohne bleibend auf die Gotteserfahrung Israels zu verweisen. Dies ist umso dringlicher, weil durch Israel das Bekenntnis zu dem einen Gott zum Maßstab allen Redens über Gott geworden ist, das auch die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse als norma normata der Schriftauslegung verbindlich gemacht haben. Das gilt kriteriologisch dann ebenso auch für eine postmoderne Jubilate-Theologie.
Theologisch festzuhalten ist zudem: Die Schöpfung ist immer Teil der Heilsgeschichte, der Bund ist um der Erlösung Israels willen und um der Hereinnahme der Völker in den Bund Gottes willen geschlossen worden. Deshalb sollte die Predigt auch beim Blick auf das drängende Thema der Bewahrung der Schöpfung nicht von der biblischen Heilsgeschichte abgelöst werden, die in der Urgeschichte mit dem Segen über Adam und Eva, fortgesetzt mit den Verheißungen für die Erzmütter und Erzväter und nicht erst mit Christus beginnt.
Wie lassen sich nun aber Artensterben und der biblische Weinstock als Bild für die Gesamtheit der Reben miteinander verknüpfen? Ein gemeinsamer roter Faden ist das Thema der Gemeinschaft. Und das wäre eine mögliche Applikation des Predigttextes: wenn wir durch Jesus Christus einen Anteil an der Gemeinschaft bekommen, die er mit dem Vater hat, und wenn unsere Gemeinschaft miteinander letztlich durch Jesus qualitativ dem entspricht, wie der Vater und der Sohn eins sind, wie Gott ja auch seinem Volk die Treue gehalten hat und seinen Bund erneuert, so wird daran deutlich, dass wir auch im gesellschaftlichen, sozialen, diakonischen, caritativen, ja sogar im nationalen und internationalen Miteinander immer ein theologisches Entsprechungsverhältnis benötigen. Um hier nur den Startpunkt der Überlegungen einmal zu benennen, könnte man – sehr hoch gegriffen – diskutieren, ob nicht die Einheit Europas nur zu bekommen ist, wenn sie beispielsweise etwas zu tun hat mit dem Modell der Einheit der Kirchen Europas. Das ökumenische Modell dafür ist die „versöhnte Verschiedenheit“
– was nur noch einmal die Bedeutung der Versöhnung hervorhebt, die aus christlicher Sicht unbedingt mit Jesus Christus verbunden ist, weil er die Versöhnung des Menschen mit Gott verkörpert, die aber schon in der Urgeschichte ihre Konkretion erlebt.
Interkonfessionell und zusammen mit dem zeitgenössischen Judentum ist dieses Entsprechungsverhältnis heute erfreulich problemlos. Im Blick auf andere Religionen und auch auf nichtreligiöse Kontexte stellen sich natürlich aktuell Fragen. Die Auslegung wird im Blick behalten, dass das gemeinsame Gotteslob, wo es gegenwärtig noch nicht als gemeinsames Gebet möglich ist, auch eine eschatologische Zieldimension sein kann. Im Blick auf die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Schöpfung zu bewahren und die Völker Europas und der Welt zu versöhnen, sind aber ebenso neue Koalitionen Williger möglich, in denen die christliche Theologie ihr Proprium der durch Christus (in Vertretung von Israel) ermöglichten und ermöglichenden Gemeinschaft nicht verschweigen darf, sondern aktuell und zeitgemäß einbringen muss.
Eine Predigt über Joh 15 tut also gut daran, auf die verschiedenen biblischen Lesarten der
Weinstockmetaphorik zurückzugreifen und zugleich die gegenwärtige ökologische Herausforderung der Erwärmungsbegrenzung als gesellschaftliche Aufgabe zu benennen – auch für Letzteres bieten sich im Übrigen sogar vinologische Einsichten an, wenn die zu erwartenden Klimaveränderungen in unseren Breiten angeblich dereinst sogar einen auch für Nichtinsulaner trinkbaren englischen Wein möglich machen werden …
Von besonderer Bedeutung ist die Aufgabe, das Miteinander im Gotteslob inklusiv zu denken und integrierend zu predigen. Der Weinstock ist kein Gewächs, das nur immer wieder gestutzt gehört, so sehr es auch nötig ist, die Reben zu pflegen und unfruchtbares Holz auszuschneiden. Aber der Ton in Joh 15,1-5 (und in der ganzen Sequenz 15,1-16,3) liegt doch darauf, dass möglichst alle Frucht bringen. Das Gotteslob ist die Aufgabe der ganzen Schöpfung und aller miteinander, die dafür eine gemeinsame Sprache finden.
5. Liturgievorschläge
Lieder
„Lasst uns miteinander singen, spielen, loben den Herrn“ als Kanon (EG 610, Regionalteil Bayern/Thüringen) und als cantus firmus im Gottesdienst, der liturgisch mehrfach auftauchen darf.
„Jubilate Deo“ als Kanon von Pachelbel (EG 181,5) als Predigtlied oder auch als Responsorium.
„Jubilate Deo omnis terra“ (EG 617, Regionalteil Bayern/Thüringen) als meditativer Taizé- Gesang nach den Lesungen.
„Jauchzet, ihr Himmel“ (EG 41) von Gerhard Tersteegen ist auch ohne die Weihnachtsstrophen 3, 4, 6 und 7 schön zu singen und wäre sowohl ein Schlusslied als auch ein Eingangslied.
Introitus
Psalm 104 wegen der Weinzeile (Ps 104,15) oder der traditionelle Jubilate-Psalm 66 wegen der heilsgeschichtlichen Erinnerung an das Schilfmeerwunder, das hier als Heilsgeschehen auf alle Menschen bezogen wird (vgl. das angegebene Kollektengebet in diesem Duktus)
Man könnte im Übrigen auch auf den Sonnengesang des Franz von Assisi (1181/82 bis 1226) oder auf den Gesang der drei Männer im Feuerofen zurückgreifen, der freilich nur als spätere Erweiterung des Daniel-Buches überliefert ist, aber in der Einheitsübersetzung in Dan 3,51-90 abgedruckt ist (https://www.bibleserver.com/text/EU/Daniel3).
Literatur
Clementz, Heinrich, Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, Wiesbaden 1985.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm, Art. ‚Weinstock‘, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Vierzehnter Band, I. Abteilung 1. Teil WEH – WENDUNMUT, bearbeitet von Alfred Götze und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches zu Berlin, Leipzig 1955, 994-996.
Josuttis, Manfred, Erleuchte uns mit deinem Licht. Gedanken und Gebete zu den Gottesdiensten des Kirchenjahres, Gütersloh 2009.
Strack; Hermann L./Billerbeck, Paul, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Zweiter Band. Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, München 1924.
Thyen, Hartwig, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005.
Stefan Koch