Predigten von 2020, Teil 2
Hier finden Sie die Predigten, die ich zuletzt in Starnberg oder einer der benachbarten Kirchengemeinden gehalten habe.
Zwei Sammelbände mit Predigten habe ich zudem im Fromm Verlag veröffentlicht:
- „Nach der Kraft, die in uns wirkt“ (Epheser 3,20). Starnberger Predigten, 2017
- „Du tust mir kund den Weg zum Leben“ (Psalm 16,11a). Lied- und Psalmenpredigten, 2018
Bitte melden Sie sich, wenn Sie daran Interesse haben: Tel.: 0173 2646401 oder E-Mail: stefan.koch(@)elkb.de
Predigt über Num 6,22-27
(gehalten am 07. 06. 2020)
Liebe Gemeinde,
ich weiß, welcher Teil des Gottesdienstes für mich der Wichtigste ist, für Sie kann ich nur Vermutungen anstellen. Auf manche Elemente müssen wir derzeit verzichten, weil sie den lautstarken Wechsel von Gemeinde und Liturg brauchen. Nicht verzichten möchte ich auf die Gebete und die Lieder, obwohl man das alles auch zuhause für sich sprechen und singen könnte. Wie ist es mit der Predigt, sei sie eingängig und begeisternd, einschläfernd und beruhigend? Auch sie ließe sich im Fernsehen prominenter besetzen. Für viele Menschen würde im Gottesdienst Wesentliches fehlen ohne den Segen! So ist es ganz passend, dass uns heute die Worte des Schluss-Segens zum Hören und Auslegen aufgegeben sind. Sie stehen in der Bibel im Alten Testament, und zwar im 4. Buch Mose Kapitel 6:
Und der HERR redete mit Mose und sprach: Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet: „Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“ Denn ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.
So wie zur erzählten Zeit Moses und Aarons klingt es auch heute im Gottesdienst. Der Segen, der am Ende ausgesprochen wird, hat eine lange Geschichte! Seit womöglich bis zu drei Jahrtausenden wird mit diesen Worten die Gemeinde aus dem Gottesdienst in die Welt draußen vor der Tür gesendet. Wie vielen Menschen mag dieses Wort hier in diesem Gemäuer schon zugesprochen worden sein? Wie oft habe ich diese Worte in meinem Leben schon gehört? Und was verbinde ich als Pfarrer und Sprachrohr, dem der Segen aber genauso gilt und nötig ist, mit diesem Segen? Welche Gefühle tauchen da auf?
Montagvormittag in der Fachoberschule. Religionsunterricht der 12. Klasse. Die Schüler und Schülerinnen sind unruhig, weil heute eine schwere Arbeit ansteht. Das Thema bei uns: Ethische Fragen wie die nach dem Umgang mit Schuld in ausweglosen Situationen. Lernziel: Die Schülerinnen und Schüler begreifen, dass es Lebenslagen gibt, in denen man nicht schuldlos bleibt, sondern auch Verzeihung und Vergebung angewiesen ist. Ich habe zwar keine Mühe, mit dem Stoff durchzukommen, aber ich merke, die Schülerinnen und Schüler machen mehr oder weniger nur wegen mir mit, sie selbst hat das Thema nicht erfasst. Am Ende der Stunde das Ritual, das wir gleich zu Beginn des Schuljahres eingeübt haben. Jeder schreibt einen Zettel, auf dem er notiert, was heute beachtlich war. Die ersten sind schnell fertig, anderen fällt wenig ein. Einer der größten Unruhestifter heute sagt zu den Zögernden: Jetzt macht mal, danach kommt der Segen. Tatsächlich kehrt Ruhe ein. Alle hören zu, wie ich nach den sehr persönlichen Zetteln am Ende der Stunde einen Segen vorlese, der alle begleiten soll in den weiteren Tag und am Ende mit den Worten schließe: „Der Herr segne dich und behüte dich.“ Damit endet die Stunde. Der Segen ist freilich keine Zauberformel. Die gehetzten Schüler und Schülerinnen werden weiter unruhig bleiben. Der Segen ist keine Garantie für eine gute Leistung in der folgenden Schulaufgabe. Aber der Segen ist eine Unterbrechung des Alltäglichen im Schulgetriebe, das oft so vehement Einzug hält. Der Segen ist ein Atemholen. Ein Moment der Ewigkeit mitten in der Zeit. Das mögen die Schülerinnen und Schüler und spüren, dass es guttut. Danach gehen sie ruhiger.
Ich kann nicht schlafen. Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit und dem Alleinsein, aber der Kopf kommt nicht zu Ruhe, viele Fragen drehen sich darin, wie es jetzt weitergeht. Irgendwann bin ich mit meinem Selbsterziehungs-Latein am Ende und setze mich auf. Aus einer inneren Eingebung heraus spreche ich den Kindersegen, den ich auswendig kann: „So wie meine Hand auf Deinem Kopf beschützt Dich Gottes Segen. So wie ein Mantel Dich umhüllt – warm und weich – umgibt Dich Gott auf allen Deinen Wegen. Nun schließe die Augen – und atme ruhig ein – denn Du sollst heut und morgen gut behütet sein!“ Es ist nicht mein Segen, den ich mir selber sage, es ist Gottes Segen, den mir zuzusprechen gerade niemand da ist.
Der Segen ist freilich kein Schlafmittel. Er hilft nicht automatisch für das, was ich gerne hätte. Der Segen hat meinem Herzen in diesem Moment vermittelt: du bist nicht allein. Du musst nicht verzweifeln, dir kann nichts geschehen. Es gibt es einen, der auf dich aufpasst.
Ich werde aus dem Klinikum angerufen, weil eine alte Frau gestorben ist. Sie liege noch in ihrem Hospiz-Bett, wo sie eingeschlafen ist, die Angehörigen sind bald alle da. Ob ich sie aussegnen darf, frage ich am Telefon und merke, wie die Krankenschwester durchatmet. Nur eine kleine Feier wird es, mit einer Kerze, Psalm 23, einem Lied von Paul Gerhardt, „Befiehl du deine Wege“. Ich lege der Toten die Hand auf den Kopf und spreche ihr den Segen des dreieinigen Gottes zu. Die Angehörigen weinen. Die Tränen waschen die erste Unordnung im Herzen durch, der Segen hilft, dass auch so etwas wie Zustimmung dazu möglich wird, dass es so ist, wie es ist. „Es ist gut jetzt“, wagt die Tochter zu sagen, ein erster friedlicher Gedanke nach all dem Chaos seit der eigentlich ja gar nicht so unerwarteten Nachricht.
Der Segen nimmt freilich die Trauer nicht weg. Die Tote bleibt tot und wird durch meine Worte nicht wieder lebendig. Die Trauernden müssen noch einen weiten Weg gehen, sie müssen alleine bis zur Beisetzung noch viele Tränen weinen. Der Segen hilft aber, loszulassen und einen Toten in größere und ewige Hände zu legen. Der Segen erinnert: Unser Anfang und unser Ende stehen unter Gottes Zusage der Endlosigkeit, der Ewigkeit.
Gesegnet werden muss guttun und tut gut. Bei der Trauung, der Taufe, der Konfirmation, im Gottesdienst. Segensworte stimmen aus sich heraus und tun gut. Worte und Gesten, die ins Herz sprechen. Manche kommen wegen des Schluss-Segens zum Gottesdienst. Ein persönlicher Segen, bei dem mir die Hand aufgelegt wird, wirkt auch im Innern berührend. Ich fühle den Frieden, den der Segen mir von Gott her verspricht. Noch lange spüre ich die Wirkung der Worte.
Das deutsche Wort Segnen kommt vom Lateinischen ‚signare‘, also bezeichnen. Wenn wir gesegnet werden, werden wir mit einem Zeichen versehen. Im Segnen wird Gottes Name auf uns gelegt, damit wir behütet sind. Wir werden mit Gottes Namen bekleidet und geimpft. Eltern zeichnen ihren Kindern ein Kreuz auf die Stirn: Es gibt niemanden neben Gott, der über dich verfügt, auch wir Eltern nicht oder dein Chef später oder deine Frau der die Schwiegermutter. Und nicht einmal deine Ängste werden das letzte Wort über dein Leben haben, nicht deine Schuld, noch nicht einmal der Tod. Das letzte Wort hat Christus, zu dem du durch Gottes Segen gehörst.
Auf Lateinisch heißt segnen ‚benedicere‘ und auf Griechisch „eulogein“, beides bedeutet gut sprechen. Wenn wir gesegnet werden, werden wir gut gesprochen. Alles, was uns ausmacht, alles Schöne und alles Schwere, kommt in einen inneren Raum, in dem Gott segnend zu uns sagt: es ist gut! Segnen meint nicht, etwas positiv zu nehmen, das nicht gut ist. Segnen ist kein „absegnen“ wider besseres Wissen oder wider Willen. Wo ich gesegnet, gut gesprochen werde, wird meine Person in ihrem Kern angesehen. Im Kern der Person sind wir Menschen in Gottes Augen gut. Auch wenn ich nicht einschlafen kann, gehe ich nicht in meiner inneren Unruhe auf. Die verstorbene Frau wechselt nicht ins namenlose Dunkel hinüber. Wir alle gehören zu Christus, der die Auferstehung und das Leben ist. Menschen, die gesegnet werden, werden gut gesprochen: so, wie sie sind. Du als Person wirst von Gott angesehen und geliebt.
Die Geschichte Gottes mit den Menschen ist eine Geschichte des Segens: Der biblische Schöpfungsbericht erzählt, wie Gott sogar die Welt, die im Lauf der Zeit entstanden ist, gut gesprochen hat. Gott sprach und es geschah, und Gott sah, dass es gut war – heißt es. Am sechsten Tag schafft Gott den Menschen und segnet Mann und Frau. Später segnet Gott Abraham, mit dem alles beginnen soll, was über den einzelnen Menschen hinausgeht, was später zu Nation und Volk wird. Nation und Volk tragen keinen Sinn und keine Bedeutung in sich vor Gott, sie haben dienenden Charakter, dafür werden sie gesegnet. Gottes Urteil vom Anfang von Welt und über Mensch und Gemeinschaft – es ist gut – wird von Gott immer weitergetragen, bis dahin, dass Gott auch uns segnet. Gleichzeitig wird der Segen bei uns wie bei Abraham, dem Vater unseres Glaubens, zum Auftrag: „Du sollst ein Segen sein.“ Deshalb spreche ich vor jedem Segen eine kurze Sendung, mit dem ich die Menschen an den Auftrag erinnere, bevor ich den Segen zusage.
Manchmal muss man um den Segen ringen. Das erfährt der nach Abraham bald folgende Stammvater Israels: Jakob. Kurz bevor er seinem Bruder Esau wieder begegnet, mit dem er sich zerstritten hat, ringt er mit einem ihm immer unheimlicher werdenden Gott eine ganze Nacht lang: „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!“ Und er nötigt Gott tatsächlich den Segen ab. Jesus schließlich erinnert uns daran, dass wir nicht nur die Lieben segnen sollen, nicht nur die Verwandten und Freunde, sondern auch die Verfolger und Feinde. In der Bergpredigt sagt Jesus: „Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.“ (Lk 6,27f) Jesus verlangt das, weil er weiß, dass der Segen Kraft hat. Segen verändert: aus Scham wird Vertrauen, aus Feindschaft kann Versöhnung entstehen! Segen verwandelt auch mich selbst, der segnet. Und diejenigen, die ich segne.
„Der Herr segne dich und behüte dich“ – mit Gottes Schutz beginnt es, Schutz vor Bösem und Gnade zu allem Guten. Der Segen schafft Ruhe in der Unruhe. Eine wohltuende Unterbrechung. Im Segen wird gut gesprochen, was zerbrechlich ist.
„Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig“. Wer sich unter den Segen Gottes stellt, der stellt sich unter das Wort, das von Gott ausgeht. Im Segen wendet Gott uns sein leuchtendes Angesicht zu. Es strahlt Liebe und Wärme aus, es zeugt von Gnade. Nach der Vorstellung des Alten Testamentes müsste sterben, wer Gott ins Gesicht sieht. Aber umgekehrt gilt das nicht. Wem Gott segnend sein Angesicht zuwendet, der wird erfüllt von Zuversicht. Du bist nicht allein. Auch nicht im finsteren Tal, dass dir im Leben manchmal bevorsteht.
„Der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden“. Friede, der größer ist als unsere Vernunft, ist das letzte Wort Gottes im Segen. Schalom, im Frieden sein, ausgesöhnt mit dem, wie ich bin, das will der Segen bewirken. Alle Tage eures Lebens versöhnt leben und ganz am Ende dieser Tage friedlich sterben können, dazu verhelfe euch der Segen Gottes.
Amen.
Predigt über Jer 31,31-34
(gehalten am 24. 05. 2020)
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der Herr; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den Herrn«, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der Herr; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Liebe Gemeinde,
das prägende Stichwort in diesem Text für den heutigen Sonntag heißt „neu“. Gott lässt durch den Propheten damals öffentlich ankündigen: Ich will einen „neuen“ Bund mit meinem Volk machen. Man mag denken, dass viele Menschen das gerne hören, „neu“ ist oft ein gutes Stichwort! Ich brauche nicht nur eine neue Brille, sondern auch ein oder besser zwei Paare neue Schuhe – an gebrauchte Ware ist da ja gar nicht zu denken –, dazu ein neuer Anzug, alles bekommt man ja in Starnberg, ich habe meine Geschäfte dafür. Mutige junge Familien bauen sich ein neues Haus, manche noch bevor sie heiraten. Im Beruf eine neue Stufe erklimmen; in der Ehe eine neue Perspektive gewinnen; im Glauben müde Gewordenes abwerfen, um ganz frisch die Kraft Gottes zu empfangen; als Kirchengemeinde medial neu anfangen und ab sofort viel mehr im Internet präsent sein, wo andere Menschen als die bisherigen Gottesdienstbesucher sich tummeln und die Videos am Sonntag von einer vielfachen Zahl angeklickt werden …
Doch inzwischen hat sich auch dies herumgesprochen: zum Ich-Tarif ist das Neue nicht zu haben. Und auch zum Nulltarif nicht. Die Geschichte hält genug Beispiele breit dafür, wie großspurige Neuheitsprojekte stürzten. In der französischen Revolution wurde mit großem Pathos Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit postuliert, die zehn-Tage-Woche eingeführt und der Kult des höchsten Wesens ausgerufen! Heute sind wir in Europa so nahe dran an der Verwirklichung jedenfalls der Maximen wie noch nie, aber zunächst war die neue Gesellschaft, die von Paris aus errichtet wurde, die blanke Diktatur, und dann die schnöde Restauration des Veralteten, woraufhin sich der Esprit in die Innerlichkeit der eigenen Wohnung und der Geist ins eigne Herz zurückzog. Bei uns haben sich viele Menschen im Westen nach der Wende 1989 das Neue erwartet, doch sind lange Zeit die Grundmuster des Denkens und Verstehens die alten geblieben. Die größere Freiheit für den Einzelnen war mehr als willkommen, der Umgang miteinander wurde kälter. Neu werden bleibt in Ost und West eine Aufgabe für den langen Atem.
Gott schließt mit seinem Volk den neuen Bund – wo wir dieses Bündnis auch auf uns beziehen dürfen (zuerst geht es ja um Israel, die erste und letzte Liebe Gottes als Volk), entbirgt unser Bibelabschnitt als Antwort auf die Hinsicht des Neuen drei verschiedene Aspekten. Zuerst: Gott spricht durch Prophetenmund von einem neuen Bund mit seinem Volk Israel. Nicht, dass der alte Bund von Gottes Seite aus unzulänglich gewesen wäre. Das Volk war nicht in der Lage, den eigenen Teil zu erfüllen. Wenn wir heute unser Verhältnis zu Gott aussprechen, ist von einem Bund kaum noch die Rede, nur selten wird die Taufe noch so bezeichnet, wie das alte Lieder tun.
In der Umgangssprache ist uns der Begriff eher geläufig. Wir leben in einer Bundesrepublik, zu der Bundespräsident, Bundestag, Bundeskanzlerin, der Bundesrat und ein Bundesverfassungsgericht gehören. Wer heiratet, schließt einen Bund fürs Leben, und viele haben die Spiele der Bundesliga erwartet. Dabei geht es um Zusammenschlüsse auf derselben Ebene derer, die sich verbinden. Auch wenn zwischen dem Meister am Ende der Saison und den Absteigern viele Plätze liegen, alle Teams waren doch Mannschaften in der einen Bundesliga. Auch wenn die Bundesorgane einer protokollarischen Hierarchie unterliegen, sie alle sind unsere Bundesrepublik.
Der Bund Gottes mit seinem Volk Israel schließen sich unterschiedliche Größen zusammen, dass man sich wundern muss, wie beide Seiten auf eine Ebene zueinander finden. Der Schöpfer aller Dinge neigt sich zu seinen Geschöpfen und will mit ihnen zusammengehören. De Geschöpfe sollen sich zu ihm strecken und seinen Bund in den Geboten bewahren. Als Gott sich am Berg Sinai mit Israel verbindet, erfährt das Volk Gottes eine besondere Gnade. Schon vorher hatte Gott Abraham seinen Segen mit Blick auf den Bund zugesagt. Schon davor hatte Gott mit Noah den Bund mit der Menschheit gegen zukünftige Weltfluten geschlossen. Das Volk Israel hatte die schon erste, und nun auch die erneute Zuneigung, von der Jeremia spricht, alles andere als verdient: „Den alten Bund haben sie gebrochen, obwohl Gott doch ihr Herr war“ (Jer 31,32). An einer anderen Stelle steht beim Propheten sogar: „Mein Volk tut eine zweifache Sünde. Mich, das lebendige Wasser verlassen sie und machen sich Brunnen, die doch kein Wasser geben“ (2,13).
Gott nun freilich, statt sich zu denken wie er dieses Volk entbindet und sich von ihm lossagt, überlegt, wie er es Israel erleichtern kann, sich mit ihm erneut einzulassen und dieses Mal treu zu bleiben. Bisher musste man sich gegenseitig in Israel belehren, um Gott zu erkennen, in der größten Not übernahmen prophetische Gottesboten diese undankbare Aufgabe der Ermahnung und Warnung. Es sah oft so aus, als wäre Gott und der Bund mit ihm und das Gebot als Zeichen des Gehorsams eine strenge Autorität von außen, etwas, was dem Volk fremd blieb oder fremd wurde – so wie man sich in einer Wohnung einrichtet, die einem anderen Menschen gehört, der sie für sich möbliert hat, in der man für eine Zeit unterkommt und gerne lebt, sie aber irgendwie nicht zur eigenen Behausung machen kann.
Da alle bisherigen Versuche Gottes fehlgeschlagen sind, die Menschen – darunter auch die Frommen und Gutwilligen – zum freiwilligen Befolgen der Bundesregeln zu bewegen, greift Gott schließlich zum radikalen Gegenmittel gegen die menschliche Versagenslust. Gott geht aber nun nicht hin und macht uns darauf aufmerksam, dass unsere Mund-und-Nase-Bedeckung verrutscht ist, falsch sitzt, gereinigt gehört oder mutwillig gar nicht aufgesetzt wurde, und tadelt uns alleine schon durch diesen Hinweis in entblößender Weise. Sondern Gott will sein Gesetz in der Menschen Herz schreiben, damit es ihr Denken und Handeln bestimmt, ohne nur äußerlich zu bleiben und übergestülpt zu wirken. Damit die Menschen von sich aus tun, was richtig ist.
Für uns heute heißt das: Gott will uns mit seinem Geist erfüllen, damit wir seine Zuwendung zu uns Menschen überhaupt erst einmal erfassen können. Im Alten Testament war das Herz der Sitz der Ideen, Planungen und Gedanken – also das, was wir heute unser Gehirn nennen. Wir sprechen vom Herzen als wichtigsten Organ, weil die ganze Blutzirkulation in unserem Körper von diesem Muskel gesteuert wird. Wenn diese innere Schaltzentrale, die in jeder Sekunde unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod oft zuverlässig funktioniert, von Gott erfüllt wird, dann können alle, vom Kleinsten bis zum Größten in jeder Situation erkennen, dass ein Gott ist, wer unser Gott ist, dass er in Jesus Mensch wurde, im Himmel seinen Thron hat, uns bei sich haben will …
Ein zweiter Aspekt nach dem Hinweis auf Gottes Diagnose, dass es einen neuen Bund braucht, der in des Menschen Herzen angesiedelt gehört: Gott verändert uns innerlich, damit das Herz seine neue Bestimmung leben kann. Heute meinen viele sachkundige Leute: wir brauchen in unserem Gemeinwesen eine neue innere Haltung! Die Fortschritte in der Medizin müssen ethisch reflektiert und aus dieser Verantwortung heraus verantwortet betrieben werden. Die Wissenschaft muss neue Wege finden, ihre Erkenntnisse zu vermitteln, damit Verschwörungstheorien austrocknen. Die Politik muss zu klaren Aussagen zurückfinden, wie sie unser Gemeinwesen verbessern will, damit sie ihr in der Krise zurecht erworbenes Vertrauen behält. Und in der Kirche brauchen wir neue Ideen, den Menschen das Evangelium von Gottes Gnadenbund so zu vermitteln, dass sie die Taufe für sich und ihre Kinder suchen, die Bibel auf ihre Botschaft für ihren eigenen Alltag hin durchlesen, das Gebet als wohltuenden Habitus neu erlernen, in den Familien sich gegenseitig konfirmieren und unter den Generationen aneinander Seelsorge üben …
Tote Punkte und abgestorbene Formen der Machtverteilung müssen bei schwierigen politischen Verhandlungen in Pattsituationen komplizierter Wahlergebnisse und Verteilung der politischen Funktionen und Stellvertretungen überwunden werden. Und auch in den Kirchgemeinden brauchen wir mehr als nur alte Bündnisse überkommener Angebote. Ich habe gelesen, die Rede vom toten Punkt stamme aus der Fortbewegungstechnik: wo Pleuelstange und Antriebskurbel eine gerade Linie bilden, spreche man von einem toten Punkt. Dort bewegt sich die Pleuelstange weder vor noch zurück. Aber der tote Punkt ist auch der Punkt, an dem sich die Bewegungsrichtung umkehrt und mit neuem Schwung in die andere Richtung fortsetzt, wenn neue Energie ins System kommt. So kann auch in einem Menschenleben, in einem Volk, in einer Gemeinschaft und einer Gemeinde ein toter Punkt zum Wendepunkt werden. Zu einer neuen Bewegung in eine neue Richtung. Und womöglich will Gott uns dazu verhelfen, wenn wir entdecken, dass wir an der Sackgassenwand stehen. Womöglich ist es dieser Punkt, an dem die Wende zum Guten eintritt, für die Gottes Geist uns vorbereiten will.
Das sagt dazu unser Predigttext: (1) Gottes Diagnose: es braucht einen neuen Anfang. (2) Unsere Einsicht: es gibt tote Punkte, die uns freilich neu ausrichten können, wenn sie überwunden werden, weil neue Energie aufgebracht wird. Beides kommt (3) zusammen, wo Gottes innere Erneuerung in uns in seiner Vergebung wirksam wird. Dass Gott vergibt ist lebensnotwendig. Gott kann ein Gesetz in unser Herz schreiben, wo es Herz aufnahmebereit ist. Da aber niemand sein Herz selbst entlasten kann, ist es nur gut, dass Gott dies für uns schafft. Indem er durch den Tod seines Sohnes einen Weg gefunden hat, die Menschen von aller Schuld zu befreien, der Gekreuzigte Christus ist ja die Vergebung in Person, sodass auch uns vergeben werden kann.
Und so deute und appliziere ich also unseren Predigttext: (1) Gott lässt uns erkennen, dass es einen neuen Anfang braucht. (2) Gott verändert uns von innen. Und (3) Gottes innere Erneuerung wirkt durch seine Vergebung. Das klingt als Programm nicht so leicht wie das schlichte „jetzt muss es wieder weitergehen, egal wie“, von dem heute immer wieder im Blick auf die Zeit nach Corona die Rede ist. Ich halte diesen Weg aber für zielgerichteter und am Ende sogar gangbarer, weil er als Weg vor uns liegt, der menschlich zu uns passt.
Es kommt heute nicht darauf an, mit neuen Forderungen, die uns nicht entsprechen, eine neue Runde der Anforderungen einzuläuten, an denen wir dann erneut krachend scheitern und auch den neuen Bund Gottes diskreditieren und unsere Taufe ad acta legen. Sondern es geht darum, durch Gottes Geist einen gangbaren Weg zu entdecken, der uns aus der Forderung an uns selbst herauslöst, uns neu zu erfinden, indem wir neu aus der Taufe kriechen, gerne jeden Morgen neu. Es geht um einen Bund, der uns mitnimmt, im Rahmen unserer Möglichkeiten dem zu entsprechen, was Gott in uns sieht, zu erkennen meint und uns aufträgt zu tun. Diesen Weg will Gottes Geist mit uns gehen. Gebe Gott, dass uns dieser Geist, den die Taufe über uns ausgegossen hat, erneut ergreift und auf den Weg bringt.
Amen.
Predigt über II Chr 5,2-14
(gehalten am 10. 04. 2020)
Liebe Gemeinde,
spät nachts dringen die Geräusche von den Arbeiten an der Bahn herüber, man kann die Güterwagen, die den ausgetauschten Gleisbettkies entladen und das warnende Signalhorn durch die geschlossenen Scheiben hören. Neben dem Schlafzimmer rauscht der Kirschbaum im Wind, von der Lindenallee her dröhnt gelegentlicher nächtlicher Autolärm. Die späte Putzkolonne säubert laut die Büros nebenan, das Pfarrhaus ist hellhörig.
Und auch hier in der Kirche gehen einem sonst die Ohren über. Stimmen zur Begrüßung, schnelle Sätze für letzte Klärungen, Hallo und Willkommen an der Tür, Bankgemurmel, Orgelmusikstücke, Glocken. Zwischenzeitlich war hier viel Ruhe und auch heute ist manches gedämpft. Unsere Kirche ist tagsüber oft und nachts immer ein Ort tiefer Stille. Im Gottesdienst ist sie Klangraum voller Schwingungen und Echos, Brechungen und Tonüberlagerungen. Das war sie, seit es sie gibt, beginnend mit dem ersten Gottesdienst, den ersten Gebeten, den ersten Liedern, den ersten Gesängen. Die Mauern dieses Raumes sind voll gesogen mit Klang und Laut, Musik, Ton. Das Gerede und der Gesang von Gottes Herrlichkeit und zu seiner größeren Ehre bröckeln hier manchmal regelrecht von den Wänden, die langsam die Frische ihres Anstrichs vor drei Jahren verlieren und Gebrauchsspuren durch den Gottesdienst wie eine edle Patina herzeigen.
Eine Kirche ist eine Kirche ist eine Kirche. Hier drinnen wird nie ein Wirtshaus sein, keine Wohnung für Menschen mit Geschmack für das außergewöhnliche Ambiente, keine Disko und keine Moschee. Dieser Raum wurde als Kirche geweiht und seitdem ist er Raum für den Dienst an unseren Gott. Dieser Ort umgibt den Altar für das heilige Abendmahl, hoffentlich bald wieder allen ohne Berührungsangst gereicht. Hier wartet der hölzerne Taufstock für die Heilige Taufe am übernächsten Sonntag auf den Mann, der in der Osternacht verzichten musste, dass wir feiern. Sie mag nicht die hübscheste sein, unsere Friedenskirche, oberbayerisch überladen ist sie jedenfalls nicht. Sie dokumentiert ihre gute Luft an den Spinnweben, zu weit oben, um sie immer schnell zu beseitigen. Gut, dass sie als Raum groß genug ist, um hier auch in Corona-Besetzung zu sitzen. Gerade jetzt ist diese Kirche eines der offenen Häuser Gottes in Starnberg, Raum für die aktuelle Erfahrung von Gottes ewiger Herrlichkeit, geöffnet für die Menschen, weil sie nicht zugeschlossen sein darf.
Lesung II Chr 5,2-14
Da versammelte Salomo alle Ältesten Israels, alle Häupter der Stämme und die Fürsten der Sippen Israels in Jerusalem, damit sie die Lade des Bundes des Herrn hinaufbrächten aus der Stadt Davids, das ist Zion. Und es versammelten sich beim König alle Männer Israels zum Fest, das im siebenten Monat ist. Und es kamen alle Ältesten Israels, und die Leviten hoben die Lade auf und brachten sie hinauf samt der Stiftshütte und allem heiligen Gerät, das in der Stiftshütte war; es brachten sie hinauf die Priester und Leviten. … und alle Leviten, die Sänger waren, nämlich Asaf, Heman und Jedutun und ihre Söhne und Brüder, angetan mit feiner Leinwand, standen östlich vom Altar mit Zimbeln, Psaltern und Harfen und bei ihnen hundertzwanzig Priester, die mit Trompeten bliesen. Und es war, als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man eine Stimme loben und danken dem Herrn. Und als sich die Stimme der Trompeten, Zimbeln und Saitenspiele erhob und man den Herrn lobte: »Er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewig«, da wurde das Haus erfüllt mit einer Wolke, als das Haus des Herrn, sodass die Priester nicht zum Dienst hinzutreten konnten wegen der Wolke; denn die Herrlichkeit des Herrn erfüllte das Haus Gottes.
Der Tempel in Jerusalem bekommt in diesem alten Bericht des alttestamentlichen Chronisten sein Zentrum. Alles andere ist da, Altar, Kerzen, Öllampen, Opfergaben. Jetzt wird erzählt, dass die Lade hereingebracht wird, der Thron der Herrlichkeit Gottes, wie man sie theologisch deutete. Man sagte im damals geübten priesterlichen Jargon „Herrlichkeit Gottes“ und meinte natürlich Gott selbst, dessen Namen man immer scheuer wurde auszusprechen, um das erste Gebot in jedem Fall zu achten. Der Tempel, den Salomo errichtet hat, ist fertig, nun wird er eingeweiht. Aber nicht Menschen weihen Gott diesen Ort. Gott kommt in sein Haus und nimmt Platz. Erst dann ist das Haus zu dem geworden, was es beansprucht zu sein. Erst wenn jemand hereinkommt und dasitzt und man still oder wir alle gemeinsam Gottesdienst feiern, wird diese Friedenskirche zu dem Ort, der sie sein will und sein muss.
Der Platz Gottes kann neben den großen auch in kleinen Häusern, und ja auch im Kleinsten und im einsamsten Herzen sein. Unser Gott hat uns seine Größe als Niedrigkeit am Kreuz gelehrt, seitdem finden wir ihn garantiert auch anderswo als in Domen, der Natur oder der Ekstase. Im Alten Testament formulierte man es bildlichgegenständlich und betonte, dass Gottes Größe den Tempel allein mit dem Saum seines Gewandes völlig ausfüllt. Damals empfand man es als Herausforderung, Gott und diesen einen einzigen Tempel zu verknüpfen, als gäbe es keine anderen Orte als Jerusalem, um dort Gott und seiner Heiligkeit zu begegnen. Heute wissen wir, wo ein Kreuz steht, da ist auch Gott zugegen, und sei es am Wegrand oder im Vorgarten oder im Herrgottswinkel daheim. Immer wusste man, dass es unmöglich ist, Gott in einen Tempel zu sperren. Wir heute wissen, dass er Platz in jedem Herzen nimmt.
Schauen wir kurz zurück auf die Tempelszene aus der Ära des Königs Salomo. Alle sind da, fast so wie heute: die singenden Leviten Asaf, Heman und Jedutun und ihre Söhne und Brüder, mit Zimbeln, Psaltern und Harfen – nichts davon wäre heute coronaverboten. Und bei ihnen einhundertundzwanzig Priester mit Trompeten, eine stattliche Zahl, noch größer als jeder Chor, den Frieder Lang bisher in unsere Kirche gebracht hat, um das „Jauchzet, frohlocket“ aus dem Weihnachtsoratorium mitzusingen. Das Ensemble damals singt: »Er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewig«, sie singen und eine wohltuende Ruhe kommt über mich. Das Leben besteht nicht aus Musik und Klang allein, sondern oft auch aus viel Lärm und Krach einer viel zu lauten Welt und aus mancher Stille, die man selbst wählt oder derzeit länger als gut tut aushalten muss. Natürlich wird kein epidemologisches Detailproblem durch einen Klang oder ein Lied wie das im Tempel gelöst. Und doch möchte ich am liebsten sofort mitsummen.
So sehr ich immer für Vielklang bin und unterschiedlichen Standpunkten Raum geben möchte, hier trägt mich die Einmütigkeit der Musik. „Und es war, als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man eine Stimme loben“. Unisono. Einstimmig. Geht das heute nur allein? Oder ist der Weg hin zu dieser Erfahrung auch uns gemeinsam möglich, sodass wir am Ende sogar alle einstimmig Gott loben? Heute tun wir es so: eine singt und wir summen mit, wir üben die Einstimmigkeit auf diese Weise. Nachher wird Familie Lang uns durch ihr „Ich harrete des Herrn“ aus der 2. Symphonie von Mendelssohn zeigen, wie weit solche Einstimmigkeit zur höheren Ehre schon reichen kann, auch wenn man zweistimmig singt …
Und „als sich die Stimme der Trompeten, Zimbeln und Saitenspiele erhob und man den HERRN lobte … da wurde das Haus des HERRN erfüllt mit einer Wolke …; die Herrlichkeit des HERRN erfüllte das Haus Gottes.“ In den Breitleinwandfilmen meiner Fernsehkindheit hat man viel Rauch und Dampf bemüht, heute wird virtuell animiert, die Fülle der Herrlichkeit Gottes im Tempel zu zeigen. Man könnte es mit Worten beschreiben von einem Musiker mit dem zum Monat passenden Namen: „Schon wenn der erste Ton erklingt, beginnt der Raum zu atmen und zu leben, ist es wie ein Erschauern, wie ein Schweben, als ob ein Zauber uns bezwingt“ (Reinhard Mey). Wird aus diesem Klang dann mehr, so werden wir befreit aus dem Irrgarten unserer Gedanken. Die Schleusen und Schranken der Seele öffnen sich und wir werden Teil des Klanges.
Die Bibel erzählt von der großen Inszenierung des Klanges durch Salomo und alle Tempeldiener, der entsteht, als Gott im Tempel Platz nimmt. Als man diese enigmatische Szene dann niederschrieb, da wusste man schon, dass es ein einmaliger Klang gewesen war. Seitdem hat er sich auch nicht einmal wiederholt, nicht im Tempel, der mit Jerusalem zerstört, mickrig wiederaufgebaut, zurzeit Jesu zum x-ten Mal jahrelang umdekoriert, von den Römern final zerstört und bis heute nicht wieder erbaut wurde. Gott und Gottes Herrlichkeit habe sich zurückgezogen an andere Orte, sagte man, die heiligste Einwohnung im Tempel warte auf den neuen, erwartet den wahren Tempel, in dem sie Wohnung nimmt und sie will unser Herz im Geiststurm erobern.
Alle Dombauhütten haben unter diesem Anspruch gewirkt, alle Kirchen wurden mit dieser Idee in Betrieb genommen. Auch in der Friedenskirche hat es solche Szenen der musikalischen Darbringung mit den jeweils aktuellen Zimbeln, Harfen und Posaunen gegeben. Bei ihrer Einweihung am 28. August 1892. Bei ihrer Wiedereröffnung samt Umbenennung als Friedenskirche am 8. April 1979. Und heute, bei der Wiedergewinnung für den Gottesdienst am 10. Mai 2020, nach 48 Tagen ohne Sonntagsdienst, weit länger also, als es das Wort Quarantäne aus der italienischen Sprache mit seinem Bezug auf die 40 Tage der Fastenzeit vorgibt.
Ein einziger, reiner Ton reicht aus, um uns vor Ohren zu stellen, die ein Klang alle Klänge in sich trägt. Weil wir alle die älteste Erinnerung an diesen Ton in uns tragen. Sie ist zugleich die älteste Erinnerung an einen Klang überhaupt, aus einer Zeit, in der wir theoretisch keine Erinnerungen haben können. Was ist der Klang der Herrlichkeit Gottes anderes als das Abbild des Herzschlags der Mutter, mit dem wir in der Urflut unserer persönlichen Erschaffung das Bewusstsein unseres Lebens erlangt haben, bevor es Licht um uns wurde, weil wir auf die Welt kommen mussten? Den Klang Gottes im Schlagen des mütterlichen Herzens kennen wir aus einer Zeit, wo wir kein Du wussten, sondern eins waren. Unisono. Einmütig. Damals und dort hat unser Gott uns zuerst seine Herrlichkeit offenbart, der uns alle wie eine Mutter im Leib der Mutter geschaffen hat. Der Urklang unseres Lebens ist dieser Herzschlag, den wir gehört haben, ohne es zu wissen.
Postnatal erreicht uns Gottes Herrlichkeit nur vermischt mit äußeren menschlichen Tönen und Lauten. So wie wir Gottes Gnade postlapsarisch, vertrieben aus dem Paradies, nur am Kreuz ganz genau betrachten können, so hören wir von Gottes Herrlichkeit (auch außerhalb jeder Kirchenmauer und manchmal auch an ihrer Stelle) umso besser, wenn wir auf das Herz hören, das in einem Menschen schlägt. Auf unser eigenes und zugleich auf das des Menschen, der uns direkt am Herzen liegt. Und Gottes Herrlichkeit wird auch der letzte Klang unseres Lebens seit weit über die irdischen Tage hinaus. Am Ende werden wir ihn unmittelbar von Gott hören, Gott und seine Herrlichkeit sind dann nicht zu unterscheiden. Unisono.
Auf dem Weg vom ersten Herzschlag zum ewigen Klang der Herrlichkeit Gottes machen wir heute am Sonntag Kantate eine vermeintlich kurze, in Wahrheit aber epochale Station in der Starnberger Friedenskirche. Gut, dass wir das miteinander erleben. Gott sei Dank, dass der Ewige unsere Ohren heute dafür öffnet. Sagt es denen, die heute nicht gekommen sind, dass sie herkommen, um ihr eigenes Herz neu zu entdecken und von hier aus beherzt in die Zukunft zu starten. Sagt es allen, die ihre Kirchen noch nicht geöffnet haben. Wir leben in einer Zeit, durch die wir lernen mussten, dass wir viel verwundbarer sind, als fast alle unter uns glaubten. In der wir aber auch begreifen können, dass Gott diese Verwundbarkeit dadurch behebt, dass er sie teilt, weil wir ihm am Herzen liegen, und er zu unserer Hilfe und Heilung in Jesus Mensch wurde.
Amen.
Predigt über Lk 9,57-62
(gehalten am 15. 03. 2020)
Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Er aber sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!
Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
Liebe Gemeinde,
bei diesen Jesusworten wird auch denen Angst und Bange, die etwas mit Jesus anfangen können und seine Geschichten nicht für schlicht überholt halten. Wir leben heute und fühlen momentan ganz anders, als Jesus es hier verlangt. Wir leben in beunruhigenden Zeiten, in denen Irrationalität und Panik keine großen Auslöser brauchen, in denen mehr nach Toilettenpapier und Desinfektionsmitteln gehetzt wird als nach der Wahrheit über das eigene, oft schon ein wenig immobil gewordene Leben an Rande oder mitten drin in der Corona-Krise.
Grundsätzlich wissen wir die Gemütlichkeit unserer vier Wände immer noch mehr zu schätzen als den Aufbruch ins Ungewisse, den Jesus hier zu propagieren scheint, wenngleich wir uns derzeit auch jetzt schon ein wenig daheim eingesperrt fühlen, sei es in häuslicher Quarantäne oder im home office. Wir halten die Friedenskirche offen und nutzen sie in Zeiten wie diesen für Menschen, die Zuflucht suchen und versuchen so dem Glauben und der Unsicherheit und der Sorge ein Obdach zu geben. Wir finden ja durchaus, dass unsere Gemeinschaft ins Dorf gehört und dort bleiben soll, wo sie heute steht. Jesus dagegen warnt den Nachfolgewilligen, der mit ihm leben will: mein Geschick teilen heißt, Heimatlosigkeit auf sich nehmen …
Wir haben Freunde und Verwandte, sie sind Teil unseres Lebens. Mit ihnen verbinden sich unsere Sorgen und wir wollen ab und an mit ihnen feiern. Und wir brauchen sie derzeit vielleicht sogar mehr denn je, wenngleich wir zögern, sie zu besuchen oder sie zu uns einzuladen, damit nicht noch mehr Reisen und Ansteckung nötig werden, da wir hören, dass Opa und Oma, Großmutter und Großvater derzeit nicht so recht enkeltauglich sind. Jesus dagegen sagt zu denen, die mit ihm gehen wollen: wer Rücksicht nimmt auf seine verwandtschaftlichen Bindungen, der ist nicht frei für Gott …
Und schließlich ist da dann auch noch das harte Wort, mit dem ich als Pfarrer – und vielleicht ist das tatsächlich durchaus ein wenig feige, wie es hinter meinem Rücken einmal vorgeworfen wurde, um aus Neid mich zu kränken – bisher niemandem konfrontiert habe, mit dem ich eine Beerdigung wie die am Montag zu planen hatte: „Lass die Toten ihre Toten begraben du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes!“ Stattdessen gehe ich morgen um 13 Uhr auf den Friedhof und ans Grab und kann hoffentlich mit dafür sorgen, dass die Tote würdig beigesetzt wird und der Abschied von ihr einen Erinnerungsort auf dem Acker Gottes bekommt. Aber anscheinend verliere ich dadurch meinen Jesus, der mir im Evangelium sagt, dass mein Gang ein Irrweg ist …
Nun gibt es natürlich viele Versuche, dieses Jesus und diese Worte im Evangelium zu bagatellisieren. Man hört, dass der schroffe Ernst der Nachfolge, von dem Jesus hier spricht, gar nicht für alle Christen gelte, Jesus meine nur besonders Berufene, die sich so wie er heimatlos und bindungslos auf den Weg machen sollen. Das wären dann Menschen wie in die Einsamkeit auswandernde Mönche und Nonnen oder solche Einzelgestalten wie Antonius von Padua oder Franziskus von Assisi oder Mutter Teresa von Kalkutta. Lange und mit gutem Grund wurde diese Auslegung in der römischen Schwesterkirche hochgehalten. Die Reformatoren fanden sie dagegen deshalb abwegig, weil sie zu wenig von der allgemeinen Christengemeinde erwartet und das Volk vorschnell entschuldigt, dass seinen Hirten hohe Maßstäbe setzt und sie selbst gerne unterläuft. Wer in einer Ethik in Stufen denkt, wer also beispielsweise sagt, dass die Pfarrer bessere Christen sein müssten als alle anderen (die es leider nur nicht sind), denkt konsequent dann oft so weiter: Für alle anderen gelten eher die milden Jesusworte wie das „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Mt 11,28).
Es hat in der ältesten Jesusgemeinde tatsächlich zwei Gruppen gegeben, die sich in der Radikalität ihres Lebens stark unterschieden haben: da waren ein paar wenige Wanderprediger, die wirklich ohne Beutel und Tasche durchs Land zogen, nie länger als drei Tage irgendwo zu Gast blieben, allein von der Güte Gottes lebten und sein kommendes Reich ohne Wenn und Aber predigten. Nur gab es da immer auch die anderen, die diese manchmal recht großmäuligen und großspurigen Verkünder aufgenommen und bewirtet haben. Auch Jesus selbst ist ja bei solchen zu Gast gewesen, die Haus, Hof und Familie behielten. Auch der radikale Prophet muss essen und ausruhen und übernachten, und auch ein Radikalinsky konnte am Ende des Tages schlecht die verdammen, die ihm etwas zum Lebensunterhalt gaben, aber eben nicht wie er aufgebrochen waren, sondern Familie und Haus behalten haben, um sie zugleich in den Dienst seiner Sache zu stellen und immer auszuhelfen, wo Not an Mann oder Frau war …
Unter den Christen heute gibt es vermutlich kaum noch jemanden, der alle Bindungen um des Reiches Gottes willen abgebrochen hat. Ich jedenfalls bin kein konsequenter und kompromissloser Flammenwerfer des Rufs in die ungezähmte Nachfolge. Im Duktus der damaligen Zeit wäre ich allenfalls ein Sympathisant, womöglich sogar nur ein Mitläufer. Trotzdem haben sich viele in der Gemeinde daran gewöhnt, zu unterscheiden zwischen solchen, die eben irgendwie besonders berufen sind, die die Sache Gottes also zu ihrem Beruf gemacht haben und Pfarrer wurden, und den anderen – den meisten – die wohlwollend unterstützen, aber nicht aus ihren Bindungen an Haus, Familie und Besitz aufbrechen. Und so stehe ich als Pfarrer in jedem Fall auf der anderen Seite: den einen nicht radikal genug, die es mit dem biblischen Jesus halten und meine berufliche Sicherheit kritisieren; den anderen eine problematische Existenz alleine schon deshalb, weil der Pfarrer es ja eigentlich doch ganz ernst mit der Kirche und dem Glauben nehmen muss, ernster jedenfalls als ein normaler Mensch, der mitten im Leben steht.
Da ich nun sowieso zwischen den Stühlen sitze, fasse ich mir heute ein Herz und betrachte mit Ihnen diese drei kurzen, schwerwiegenden Wortwechsel Jesu mit drei uns heute ganz unbekannten jungen Männern seiner Zeit auch im Blick auf unsere gegenwärtige Situation. Alle drei Gespräche Jesu gehen offen aus, wir hören nicht, wie die Gesprächspartner von damals reagieren, ob sie überredet zustimmen oder dankend ablehnen. Und das wird deshalb nicht berichtet, weil der Leser damals und der Hörer heute gefragt ist, für den jeweiligen jungen Mann die Antwort zu geben: Und du? Was tust Du jetzt, wo Jesus das so deutlich sagt?
Und so sind auch wir heute gefragt. Was tun wir angesichts des Stillstands unserer Gesellschaft, die sich duckt, um unter der Ansteckung mit dem Corona-Virus hindurch zu tauchen? Die starr dasteht und damit das versucht, was sie nachweislich am Schlechtesten kann: einmal Ruhe geben, häuslich werden, die eigenen Kinder selbst betreuen, daheim arbeiten, nicht in Hamsterpanik verfallen, hoffen, dass es am Montag wieder Hefe und Nudeln zu kaufen gibt und der Gasthof in der Au auch dann noch für ein Mittagessen offen hat …
„Ich will dir folgen, wo du hingehst!“ Der erste, den Jesus konfrontiert, ist ein Begeisterter, ein ‚die-hard-fan‘, würden die Amerikaner sagen, einer, der sogar zu Auswärtsspielen mitreist, auf jeden Fall eine Dauerkarte hat und sich lauthals zu seinem Idol bekennt. Er war damals gewiss fasziniert von einem Jesus, der frei scheint von allen Bindungen (und vielleicht auch Verpflichtungen), der um sich diesen Geruch von Weite und Unabhängigkeit und Freiheit verbreitet, die heute erst wieder die Werbung für Zigaretten formuliert und in Kamel- und Pferdebilder gesetzt hat. Spontan gibt der damals so Begeisterte Jesus gegenüber eine Blanko- Bereitschaftserklärung ab: „Ich komme mit, wo du auch hingehst!“ Lass uns gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten, Kumpel! Nur dass Jesus diese Begeisterung nicht goutiert.
Jesus weist den an von Freiheit und Weite berauschten Fan darauf hin, welchen Preis diese Freiheit am Abend des Tages dann hat, wenn die Romantik dem Abstreifen der durchgelaufenen Sandalen von den schmerzenden Füßen weicht: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester. Der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen könnte“. Wer bei Gott seine wahre Heimat sucht, dem wird sehr wohl als erstes einmal die ganze Welt zur Heimat. Aber ein festes Zuhause, ein Nest, hat er dann nicht mehr. Die Freiheit mit Jesus wird folglich immer mit Verzicht erkauft. Es geht hier ums Loslassen können vieler bunter Dinge, die das Leben so angenehm, aber eben auf gewisse Weise auch unfrei machen.
Ich deute diese Freiheit heute zudem auf die Ewigkeit hin, auf die sie Jesus damals vielleicht gar nicht bezogen hat. Ich finde, auch hier ist Jesu Wort sprechend. Es geht darum, zu der Zeit, die Gott uns gesetzt hat, dann auch in den Himmel aufbrechen zu können. Ja dazu zu sagen, dass es mich nicht mehr auf dieser Welt gibt. Schaffen sie das? Ich hoffte, ich könnte es, ganz sicher bin ich mir nie. Und ich erlebe viele Menschen, die sich auf dem Sterbebett schwer damit tun loszulassen. Denen ich viel mehr von der Freiheit zur Ewigkeit wünschen möchte, soviel jedenfalls, dass sie erleben, dass wir am Ende nichts mehr festhalten müssen, wo wir doch zu Gott und in sein himmlisches Reich aufbrechen, in dem wir schon erwartet werden …
Die Wärme der eigenen Behaglichkeit wirst du verlassen müssen, wenn du die herrliche Freiheit der Kinder Gottes erleben willst – das mutet Jesus dem Begeisterten zu. Kann es sein, dass Jesus das heute auch mir sagt, dass hier mein wunder Punkt ist, an dem mein Leben stehengeblieben ist, wo ich schon seit Jahren auf der Stelle trete? Wo ich zögere, den nächsten Schritt zu gehen, der schon lange dran ist? Wo ich im Alltag oder im Bisherigen feststecke, weil ich mir so viel Begeisterung und Kompromisslosigkeit einfach nicht mehr zutraue?
Und Jesus redet einen zweiten an, solange der erste noch zögert und vermutlich kneift: „Folge du mir nach!“ Der nun hat wirklich etwas Schwerwiegendes einzuwenden, was doch Gewicht hat und zählen sollte, wenn das Leben mit Jesus etwas mit Pietät zu tun hat: „Erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe.“ Das ist ja nun wahrlich keine schlechte Ausrede, es ist fromme und auch heute noch Kindespflicht, wie weit auch immer man sich von den Eltern emotional entfernt hat. Aber wer so mit Jesus argumentiert und sich auf familiäre Moral beruft, der bekommt von Jesus sehr schroff zu hören: „Lass die Toten ihre Toten begraben – du aber gehe hin und verkünde das Reich Gottes!“
Es geht für mich hier nicht konkret um die Praxis der Bestattung, die Jesus in Frage stellt. Der junge Mann, so übertrage ich Jesu Anliegen und weite es aus, er scheut vielmehr die Ablösung, besonders die von seinen Eltern und findet so nie seinen eigenen Lebensweg. Er schiebt die fromme Rücksicht auf andere vor, gegen die man schlecht etwas einwenden kann. Und dazu sagt dann Jesus: Hör endlich auf mit der Klage über Menschen, die dich angeblich daran hindern zu tun, was du als deinen Weg erkannt hast! Schieb nichts anderes vor, wenn du dein eigenes größtes Hindernis bist, sondern schau bei dir hin, wo du dir selbst am meisten im Weg stehst. Wo ich für mich eigentlich schon weiß, dass ich Mut haben sollte aber mich vor den Konsequenzen echter Entscheidungen drücke …
Schließlich bittet ein Dritter: „Ich will dir nachfolgen, aber erlaube mir zuvor, dass ich einen Abschied nehme von denen, die in meinem Hause wohnen.“ Wenn wir in unserem Leben einen neuen Weg einschlagen, dann bleibt Abschiednehmen niemandem erspart. Jeder kennt seinen eigenen Trennungsschmerz, jede und jeder von uns hat eine eigene Herzkammer dafür. Aber man kann so und so Abschied nehmen: mit dem Blick auf das Neue, das vor einem liegt, oder mit dem Argusblick zurück, der uns hindert, das Neue auch zu wagen. Jesus sagt: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht tauglich für das Reich Gottes.“ Wer sich nur im Rückspiegel orientiert, fährt zwar geradeaus, aber übersieht die Kurven, die zu nehmen sind. Wer beim Pflügen zurückschaut, der zieht Furchen krummer als ein Rattenschwanz. Kann es sein, dass Jesus das auch mir sagt, dass ich endlich aufhören soll mit dem Herumgeeiere? Dass ist aufhören soll, mich von der Vergangenheit bestimmen und definieren zu lassen, wenn ich die Zukunft meistern will? Dass ich mich mutig bekennen sollte zu dem, was ich wirklich will, weil es mir eine wahre Herzensangelegenheit ist?
Liebe Gemeinde, diese Aufforderungen Jesu zur kompromisslosen Nachfolge sind nicht nur an ein paar Besondere und eigens Begnadete unter den Christen gerichtet. Entscheidend ist nicht, ob wir uns zu den radikalen Evangelischen zählen oder zu den Gemäßigten oder zu den Zufälligen, die bei der eigenen Taufe ja noch nicht mitreden konnten, ob sie evangelisch oder normal werden. Entscheidend ist, ob wir uns heute von Jesus bewegen lassen. Denn man spürt es einem Menschen sehr wohl ab, ob er nur von sich selbst bewegt ist, oder ob er bewegt ist von etwas Größerem, von Gott, von einer Idee oder gar von einem Menschen, dem er nachfolgen will. Mit dem ich in das Reich Gottes aufbrechen möchte. Dem ich zutraue, mich zum Glück zu führen. Dem ich zumute, mich bis ans Ende zu begleiten.
Menschen, die sich von Jesus bewegen lassen, soll man angeblich daran erkennen, dass sie lebendiger und ein wenig verantwortlicher agieren als andere – wie schwingende Saiten auf einem Instrument, die andere Saiten zum Mitschwingen anregen und die einen Klang erzeugen wollen. So gebe Gott, dass uns sein Wort und Jesu Beispiel so im Herzen berührt, dass wir unsere Aufgabe erkennen, als Einzelne – wie als Gemeinde – ernst zu machen damit, dass es in der Nachfolge viele Gründe gibt, nachzufragen und es genau wissen zu wollen, dass darin aber auch eines Tages der Punkt kommt, wo es darum geht, zu entscheiden und es zu wagen. Und wenn für uns dieser Tag gekommen ist, dann gebe Gott uns die Kraft, nicht unseren Vorstellungen vom behaglichen und durch alle möglichen Konventionen gesicherten Leben zu folgen, sondern Jesus Christus und seinem Weg der Liebe.
Amen.
Predigt über Lk 18,31-43
(gehalten am 23.2.2020)
Liebe Gemeinde,
„Hauptsache gesund!“ – diese Worte sind mir vertraut, ich höre sie als Pfarrer oft. Wenn ein Kind geboren wird und es unterwegs nicht ohne Komplikationen zuging, dann aber das neue Leben auf der Welt ist. Oder am Geburtstag, etwa an einem 60., 70. oder 80. – gerade an solchen Tagen, an denen es angeblich gar kein Problem darstellt, älter zu werden. Dann heißt es häufig „Hauptsache gesund!“ Zweifelsohne ist das gesund sein schön, wem es gegeben und behalten wurde. Weiterhin viele körperliche Möglichkeiten zur Bewegung zu haben, das ist erfreulich. Tanzen und springen zu können, laufen und turnen, Farben sehen und Melodien hören, Angenehmes riechen und Gutes schmecken können, wer wollte das denn nicht immer gut können? Davon nur Abstriche machen und nicht ganz verzichten müssen, ist ja schon viel.
Niemand wünscht sich jemals irgendwelche Einschränkungen seines Lebens. Jede und jeder weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, stets gesund und munter zu sein, und beklagt es dann doch, wenn‘s bei einem selbst anders kommt, wenn die Hauptsache der Gesundheit abhandenkommt. Doch wie hört sich dieser Satz „Hauptsache gesund“ an für jene, die für ihr eigenes Empfinden ganz und gar nicht mehr gesund sind und es womöglich noch nie waren? Wie fühlt man sich, wenn man chronisch krank ist, wenn man zu den Behinderten gezählt wird oder eben alt geworden ist und nicht mehr gesünder werden wird, sondern zum Ende hin einfach die Tage verbringt, die mir noch zugemessen sind, wer weiß schon wie viele?
Wenn man also nicht gesund ist, fehlt dann die Hauptsache? In unseren Krankenhäusern werden Patientinnen und Patienten nach der besten verfügbaren Kraft und den vor Ort möglichen Regeln der Heilkunst behandelt. Nicht immer will sich dann große Besserung oder ganze Gesundheit einstellen. Gar nicht so wenige haben ein Abo aufs Krankenhaus. Viele Menschen müssen ohne die „Hauptsache“ der Gesundheit leben, nicht nur, weil sie alt sind. Dabei geht es den meisten von uns gut, auch im Alter und auch noch mit den Beeinträchtigungen, die wir haben, gut genug, um sagen zu können „gesund genug“. Und manchmal sagen wir auch: es geht mir dem Alter entsprechend, und können es sagen, ohne darüber traurig zu werden.
Als junger Pfarrer in Würzburg habe ich insbesondere unter jungen Menschen auch anderes erlebt. Von drei jungen Menschen mag ich Ihnen heute erzählen. Holger etwa, er saß damals schon im Rollstuhl. Sieht schlecht und kann nicht lesen. Doch er war unverzichtbar im Gottesdienst, konnte alle Kirchenlieder auswendig und sang mit seiner kraftvollen und fröhlichen Stimme: „Lasset uns mit Jesus ziehen …“ Die junge Frau Magdalena M. hingegen war etwas älter und ernsthafter. Mit großer Aufmerksamkeit folgte sie dem Gottesdienst. Das Vaterunser betete sie laut mit und ausgesprochen langsam. So bekam jeder Satz des Gebetes eine besondere Bedeutung, wie jeder Satz im Vaterunser eine besondere Bedeutung hat, die Sätze sind ja gewichtig. Die junge Frau M. war blind, sie hat durch die besondere Betonung der Worte kommuniziert, ohne darüber laut werden zu müssen. Und der Ludwig schließlich saß oft sehr verkrampft da, er hatte es nie bequem mit seinen krummen Beinen. Er konnte nicht singen und auch nicht sprechen. Aber er konnte eines richtig gut: er konnte lachen. Und das tat er von Herzensgrund. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke trafen, strahlte er und schenkte mir etwas von seiner großen Lebensfreude. Wie nun hätten diese drei jungen, auf ihre Weise – von außen betrachtet: grundlos – lebensfrohen Menschen den Satz „Hauptsache gesund“ gehört? Sie hätten mir niemals zugestimmt, wenn ich doziert hätte, dass ihnen die Hauptsache fehlt, wenn sie die Frage überhaupt verstanden hätten. Sondern hätten sich und vielleicht auch mich gefragt, welche Laus mir wohl über die Leber gelaufen ist, wo ich sonst doch eigentlich auch so fröhlich bin wie sie, wenn ich so falsche Fragen stelle …
Aber nicht wenige Menschen denken tatsächlich so: wem es schlecht geht, wer Leid tragen muss, der muss ja nun wirklich schlimm dran sein. Wer aber so denkt, der sagt letztlich über Menschen wie Dich und uns: bedauernswerte Geschöpfe sind das, die Alten, Kranken und Sterbenden. Auch über mich wird so gedacht, dass mein Beruf doch recht schwer sein muss, wo ich doch immer mit Alten, Kranken und Sterbenden zu tun habe. Dabei machen es einem die Alten, die Kranken und die Sterbenden bei weitem nicht so schwer, fröhlich Pfarrer zu sein wie die anderen, die mit Alten, Kranken und Sterbenden überhaupt nicht umgehen können; und auch mit sich selbst nicht, wenn sie selbst einmal alt und krank und sterbend sein werden.
Interessanterweise hört man das mit der vermeintlichen oder realen Schwere im Leben eher von Menschen, die wenig mit Menschen wie meinem Holger, der jungen Frau M. und Ludwig zu tun haben. Wer hingegen mit Menschen wie ihnen vertraut wird, dem öffnen sich die Augen: Trotz aller Mühen und Beschwernisse, trotz aller Hilfsbedürftigkeit ist hier Leben in Fülle. Trotz aller Einschränkungen und Hemmnisse ist hier oft Lebensfreude pur. Und so wie mit Holger, Frau M. und Ludwig geht es mir, ehrlich gesagt, auch mit Ihnen. Jede und jeder einzelne hier ist eine Bereicherung für das eigene Leben und für das Leben in diesem Haus und für mich. Jede und jeder, der sich verabschiedet und geht, wenn die Zeit erfüllt ist, fehlt mir.
Was auch immer die Hauptsache für das menschliche Leben ist, Gesundheit oder Glück oder Geld, diese Hauptsache ist nur auf den ersten Blick identisch mit körperlicher oder seelischer Unversehrtheit. Vielmehr ist die Hauptsache im Leben nicht die Abwesenheit von Leid und Elend, sondern dass wir nicht vorschnell Leid und Elend zuschreiben, nur weil ein anderes Leben anders läuft, als wir es kennen und als viele es für normal halten. Leid und Elend verbergen sich in den allermeisten normalen Leben ja nur und wir bekommen sie dort selten zu Gesicht, wir sollen das Leid und das Elend bei den Menschen ja auch in der Regel gar nicht sehen.
Er [Jesus] nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.
So sind die Jünger Jesu und so sind insgesamt die Menschen oft, sie können mit der Rede von Leid und Tod nichts anfangen, sie verstehen nicht, was wir damit meinen. Dabei haben wir hier die deutlichste Ankündigung dessen vor uns, was in seiner Passionszeit mit Jesus passieren wird. Wir werfen heute einen Blick in die Zukunft, sieben Wochen voraus. Es ist fast schon eine Ankündigung der Gefangennahme, Verurteilung und Kreuzigung, was Jesus den Jüngern hier zu sagen versucht, was auf ihn zukommt: „überantwortet werden“, „verspottet und misshandelt und angespien werden“, „geißeln und töten“. Wer von Ostern zurückschaut, dem gehen die Augen über. Wer ohne den Blick von Ostern auf die Passion schaut, der versteht es nicht.
Aber es tut nichts zur Sache, ob andere Menschen es verstehen, entscheidend ist, was wir begreifen und zu verstehen versuchen. Bedeutsam ist, dass wir erkennen, dass der Weg Jesu ins Leid kein Weg des Scheiterns ist, sondern ein Weg klaren Blickes zu Gott. Freilich wird dann das, was nach Jesu Tod kommt, auch für uns mühsam verstehbar: „und am dritten Tage wird er auferstehen“. Wir kennen diese biblische Überlieferung, haben Geschichten dazu im Ohr, aber es entzieht sich doch unserem Begreifen. So wie es sich dem Verstehen der Menschen entzieht, wenn wir über Alte, Kranke und Sterbende sagen, dass sie getrost leben können. Niemand konnte uns bisher von dieser Zukunft berichten, wir gehen in sie hinein im Glauben, in der Hoffnung, und in der Liebe, dort die wiederzusehen, die uns dorthin vorausgegangen sind.
Liebe Gemeinde, es braucht eine neue Naivität, so in die Zukunft zu blicken. So wie es eine neue Naivität braucht, um das Leben in einem Haus wie diesem getrost so zu nehmen, wie es jeden Tag heraufdämmert, anklopft und erscheint. Der Verstand begreift das nicht. Wer das Leben nur nach dem Verstand organisiert, kommt hier nicht weiter. Für den scheint aber auch das Leben, das wir hier im Haus führen, manchmal schwer erträglich, viel schwerer als für die, die es hier tatsächlich leben.
Diese neue Naivität, der ich das Wort rede, auch im Blick auf Leid und Schmerz und das Leben überhaupt, die lernt man in einem Haus wie diesem besser als anderswo. Hier kann man sich korrigieren lassen in der Hauptsache. Hier begreift man, es heißt nicht: „Hauptsache gesund“, sondern Hauptsache fröhlich und getrost in Gesundheit und Krankheit. Fröhlich, weil nach allem Leid und Elend noch etwas kommt, was wir mit Verstandesmitteln jetzt noch gar nicht richtig beschreiben können. Aber es kommt. Das Leben hinter jedem Leid und Elend. Getrost, weil es am Ende auch alle die verstehen werden, die heute noch in uns und in einem Haus wie diesem nur etwas sehen, worum sie am liebsten einen großen Bogen machen. Schade, sie könnten hier etwas fürs Leben lernen.
Amen.
Predigt über Ez 2,1-5; 3,1-3
(gehalten am 16.2.2020)
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße, so will ich mit dir reden. Und als er so mit mir redete, kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße, und ich hörte dem zu, der mit mir redete. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich zu den abtrünnigen Israeliten und zu den Völkern, die von mir abtrünnig geworden sind. Sie und ihre Väter haben sich bis auf diesen heutigen Tag gegen mich aufgelehnt. Und die Kinder, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen. Zu denen sollst du sagen: »So spricht Gott der Herr!« Sie gehorchen oder lassen es – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist …
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iss, was du vor dir hast! Iss diese Schriftrolle und geh hin und rede zum Hause Israel! Da tat ich meinen Mund auf und er gab mir die Rolle zu essen und sprach zu mir: Du Menschenkind, gib deinem Bauch zu essen und fülle dein Inneres mit dieser Schriftrolle, die ich dir gebe. Da aß ich sie, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.
Liebe Gemeinde,
die Propheten sind Künder der Wahrheit Gottes mit Haut und Haar. Da muss Jesaja einmal drei Jahre lang nackt umhergehen, um die Botschaft Gottes nicht nur weiterzusagen, sondern zu verkörpern, dass Israel ein Volk ist, das dem Kaiser gleicht, der nichts anhat, dem das nur niemand zu sagen wagt außer ein Kind, das dann den Bann bricht. So soll der Prophet den Bann brechen durch eine Tat, die wir für uns im intimen Bereich verorten, den wir nur dem wichtigsten Menschen der Welt zeigen, und ansonsten darüber schmunzeln, von wo aus in Starnberg man alles klare Einblicke in nackte Tatsachen von Seebad-Saunalandschaften erhält.
Der Prophet Ezechiel muss eine Schriftrolle essen, die Innen und Außen mit heftigen Unheilsworten beschrieben ist. Diese Worte, die Israels Untergang vorhersagen, beschreiben und begründen, folgen dann im Buch des Propheten kapitellang. Die Pointe der prophetischen Zeichenhandlung – so nennt die Fachwelt diese Sprachereignisse samit Prophetentaten – ihre Pointe liegt darin, dass Ezechiel feststellt: diese Unheilsrolle „war in meinem Munde so süß wie Honig“ (3,3). Dieser Prophet soll also schon bei seiner Berufung (die wir hier vor uns haben) als erster Hörer der Worte die schwere Kost verinnerlichen, die er im Auftrag Gottes dem widerspenstigen Volk sagen soll. Als Prophet und Prediger muss man sich mit der Botschaft und Predigt mit Haut und Haar, Mund und Zähnen identifizieren. Man muss meinen, was man sagt, und wenn man dann sagt, was man meint, kann man durch Gottes Geist überzeugen. Das ist die Aufgabe der Prediger, die sich über die Jahrtausende gar nicht geändert hat als Anspruch an die Weitergabe des Wortes Gottes. Vor einer Predigt isst man reichlich Wort in sich hinein.
Der Prophet folgt der Weisung Gottes aufs Wort. Er isst die Schriftrolle und verdaut sie. Die aufgetragenen Worte werden ihm – trotz bitteren Inhalts – süß. Das ist die wichtigste Nachricht von Ezechiel an uns: Für den, der auf Gott und sein Wort hört (2,2b), der es sich wirklich zu Herzen nimmt, wird auch Bitteres süß. Wie auch sonst in der alten jüdischen Schriftauslegung belegt das Essen der Schriftrolle hier erneut, dass ein Mensch, bevor er im Namen Gottes redet, zunächst besser selbst das Wort Gottes in das Innerste aufnimmt (vgl. Ps 40,9).
Nachdem unser Sonntag heute in all seinen Texten, Liedern und Gebeten darauf abzielt, unseren menschlichen Umgang mit dem göttlichen Wort ansprechen, hat die Predigt heute auch die bitteren Seiten der Bibel des Glaubens anzusehen, die mir auf Anhieb oder auch beim wiederholten Hören und Lesen schwer verdaulich sind. Die uns allen miteinander nicht schmecken oder die wir als faul empfinden. Die Stellen der Bibel, die eine mit den Jahren eingeübte oder aus Kindertagen erhaltene Glaubenssicherheit in Frage stellen. Der Prophet Ezechiel als erster Hörer der bittere Worte Gottes seiner Zeit findet einen Weg, diese Worte zu hören und zu schlucken und zu verdauen und sie so in sich aufzunehmen, dass sie süß werden können.
Zu beneiden ist er dennoch nicht, der Prophet. Seit ein paar Jahren ist Ezechiel in die Fremde verschleppt, lebt fern der Heimat. Zusammen mit anderen Israeliten der ehemaligen obersten Führungsriege befindet er sich in Babylonien, zwangsweise umgesiedelt vom Heer, das seine Heimat militärisch besiegt hat und nun die Oberschicht in einem Genozid auslöscht. Nur die Intelligenz wird weggeführt, das reicht, die Kultur des Volkes zu vernichten, so kalkulieren die Sieger. Entsprechend düster ist die Stimmung unter denen. Exilanten jeder Zeit stellen die Schuldfrage. Sie werfen sich vor, versagt zu haben, weil sie davongekommen sind, während es so viele nicht geschafft haben. Sie sind im Exil am Leben, unverdient! Sie jammern nicht über das Unglück. Noch wissen diese Exilierten freilich nicht, dass erst die halbe Katastrophe über Israel hereingebrochen ist. In Kürze wird in einer zweiten Welle auch der Tempel in zerborstene Trümmer fallen, Israel als Staat für lange Zeit ganz von der Landkarte verschwinden.
Es gäbe unter den Deportierten ja solche, die durchaus Anteile von Schuld bei sich erkennen könnten. Freilich sind gerade sie schnell zur Hand mit Äußerungen wie der, dass sie überhaupt keine Ahnung haben, wie es so weit kommen konnte, und die gerne von sich als „Opfer“ deklamieren. Gerade diejenigen, die sich auf ihre eigene politische Kraft verlassen haben – und nicht auf Gott, die proben in der Zeit des Ez im Exil den moralischen Aufstand. Gerade von ihnen, denen man das Unglück zur Last legen könnte, tönt es wehleidig: „Sicher können wir bald nach Jerusalem zurück. Der Tempel fehlt uns so sehr. Gott wird sorgen, dass uns nichts geschieht.“ Das sagen zurzeit des Ez sehnsüchtig gerade diejenigen, die sich gegen Gott aufgelehnt haben und die trotzdem ihre eigene Schuld nicht erkennen. Und genau zu denen soll der Prophet sprechen. Zu Menschen, die sowieso schon wissen, wo es langgeht. Die sich aber auch gar nichts sagen lassen. Denen soll er im Namen Gottes die nächste schlimme Nachricht verkünden: „Euer geliebtes Jerusalem wird fallen. Der Tempel wird zerstört werden. Es wird noch lange dauern, bis ihr wieder nach Hause könnt. Und dort wird alles ganz anders sein, als ihr es jetzt kennt.“ Und mitten in ihr staunendes Schweigen hinein soll der Prophet der Botschaft dann noch die Krone aufsetzen, die er den maulenden Hörern bisher noch gar nicht unter die Nase gerieben hat: „Das alles kommt, weil ihr es verdient. So will es euer Gott. Denn ihr habt Schuld auf euch geladen“.
So ist das Wort Gottes auch, es konfrontiert. Nicht immer sind es Konfirmationssprüche wie der des verstorbenen Gemeindeglieds, den wir am Donnerstag verabschiedet haben: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“, wo es dann darum ging, dankbar dafür zu bleiben, wieviel gute Frucht er im Leben durch Gottes Gnade brachte. Heute konfrontiert das Wort Gottes, wie es das an Sonntagen offensichtlich hin und wieder ganz gerne tut. Dann ist es besonders schwer zu hören, heute nicht, nächsten Sonntag auch nicht, das sage ich schon voraus. Was meint Gottes Wort, wie soll Ez das schaffen? „Keine Angst und fürchte dich nicht“, spricht Gott. „Die Israeliten sind tatsächlich total verhärtet. Sie widersprechen, wo sie nur können. Du wirst sie durch deine Worte vermutlich nicht weich bekommen. Das ist klar“, bestätigt er seinen Propheten. „Ich will nur, dass du überhaupt mit ihnen sprichst. Sie sollen meinen Willen hören. Niemand soll später mal sagen können: Wir haben’s ja nicht gewusst.“
Was Gott von Propheten erwartet, ist oft eine harte Kost. Unheilspropheten wie Ez sind durch ihre Berufung zu Schwerem auserwählt. Niemand übernimmt so ein Amt von sich aus und füllt es immer nur gerne mit Leben. Viele, eigentlich alle Ankündigungen Gottes sind schwer verdaulich. Vor allem, wenn sie darauf zielen, dass wir uns ändern sollen. Dass wir unsere vermeintliche Sicherheit in den Wind schießen und alle vermeintliche Gewissheit fahren lassen müssen. Was Ez zu sagen hat, ist bitter für alle! Ausgerechnet er soll diese Botschaft überbringen? Sie werden ihn dafür hassen. Kaum einer der Propheten hat sich die Predigt der im aufgetragenen Unheilsbotschaft zugetraut. Jona ist gleich ganz vor Gott geflohen. Jeremia wollte sich herausreden, er sei zu jung. Jesaja widersprach dem Auftrag aufgrund belegter eigener Eignung qua Sünde. Sogar Mose fand eine bezeichnende Ausrede und behauptete, er sei zum Sprechen – und sei es ein stupendes Widerholen von Gottes Worten – eigentlich viel zu dumm. Mit einem „Ich traue mir das nicht zu“ ist Ez in guter Gesellschaft. Auch mit allen, die heute meinen, die Verkündigung des Wortes Gottes sei eine ihnen nicht zuzumutende Mutprobe. Die das Bekenntnis des eigenen Glaubens schon vor Freunden oder in der Familie für eine Zumutung höchsten Grades halten, wo sie doch eigentlich ein Evangelium zu bezeugen haben und keine Strafe für die ewige Sünde.
Auch Ez braucht nicht gleich anzufangen mit der Unheilspredigt. Zuerst kommt etwas Anderes: „Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde“ (2,8b). Ezechiel schaut eine Hand. Die hält eine Schriftrolle. Ezechiel sieht, dass beide Seiten dieser Rolle beschriftet sind. Und er kann sogar einige Worte entziffern: „Klage. Ach. Weh.“ Damit ist Ezechiel klar, worum es sich handelt: In dieser Rolle steht das, was er seinen Leuten sagen soll. Das, was ihm so schwer fällt zu sagen. Wer überbringt schon gern solche Botschaften? „Klage. Ach. Weh.“ Und diese Rolle nun soll Ez essen. Er zögert. Dreimal fordert Gott ihn auf. Ez schluckt sie, ohne dass ihm ein Bissen im Hals steckenbleibt. Er behält alles bei sich. Klage, Ach und Weh werden ein Teil von ihm. Zwischen Ezechiel und der Botschaft Gottes kann nun nicht mehr unterschieden werden. Was an Worten künftig mal aus seinem Mund kommen wird, stammt von Gott. Aber bis dahin wird noch etwas Zeit vergehen. Ezechiel wird Klage, Ach und Weh erstmal gründlich verdauen. Er wird schweigen, sich sammeln, zuhören, bevor er dann später vor die Israeliten treten wird.
Klage, Ach und Weh – auch das kommt von Gott. Aber gerade weil es von Gott kommt, ist es nicht Gottes letztes Wort. Durch das Unheil hindurch wird es gut weitergehen. Während Ez noch so denkt und isst, werden ihm Klage, Ach und Weh auf der Zunge süß wie Honig. Bitteres wird süß bei Gott. Für jüdische Kinder gibt es seit dem Mittelalter einen darauf bezogenen Brauch. Er erinnert an Ezechiels Honigschmecken. Die Kinder, die den Brauch ausüben, sind dann in dem Alter, in dem sie anfangen, Lesen zu lernen. Sie erhalten kleine Schiefertafeln. Auf ihnen stehen Anfang und Ende des hebräischen Alphabets. Die Lehrerin liest den Kindern die vier ersten Buchstaben laut vor: Aleph, Beth, Gimmel, Daleth. Die Kinder sprechen nach. Es folgen die letzten vier Buchstaben des hebräischen Alphabets. Wiederum sprechen die kleinen Kinder nach. Dann beträufelt die Lehrerin die Buchstaben auf der Tafel der Kinder mit Honig. Die Kinder lecken den Honig von den Buchstaben. So schmecken sie, wie süß die Buchstaben sind. Daheim gibt es dann Kuchen in Form von Buchstaben, aus Mehl, Honig, Öl und Milch. Dieser alte jüdische Brauch erinnert an Ez und zudem an ein Wort aus Ps 119: „Dein Wort ist in meinem Mund süßer als Honig“ (119,103), dessen Vertonung wir noch als Lied singen.
Liebe Gemeinde, lernen ist manchmal bitter. Manchmal so bitter wie das Leben selbst. Auch Gottes Wort erscheint manchmal bitter. Doch es wartet auf uns der süße Geschmack von Honig auf der Zunge, wenn wir es tatsächlich in uns aufnehmen und beginnen zu verdauen. Und auch, wenn ich an etwas schwer zu schlucken habe – es besteht bei Gottes Wort die Hoffnung, dass es süß wird. Heute bekommen die Kinder zur Einschulung ihre überbordenden Schultüten. Vielleicht ist das auch ein säkularer Versuch, ihnen das Lernen zu versüßen, das ihnen manchmal mühsam sein wird, bis sie erleben, wie sie richtig lernen, um wirklich fürs Leben zu üben.
Wie gehe ich mit Dingen um, die mir schwer verdaulich sind? Die mir nicht schmecken oder die ich bitter finde? Wie bewältige ich Umstände, an denen ich sehr zu schlucken habe? Ich begegne dann und wann Menschen, die mir klarmachen, wie schwer das Leben sein kann. Gerade in Familien wird mir davon erzählt, wenn es um Kinder oder Geschwister geht. Man liebt sie, möchte, dass ihnen nichts Böses widerfährt. Aber es gibt genug Krisen, Streit, schmerzhaftes Wegbleiben und harte Wortwechsel. So ist das Leben in den Familien viel zu oft bitter.
Gestern noch hat mir eine weltkluge Frau und liebe Freundin von ihrem Leid mit dem Bruder erzählt, der sich derzeit allen durch Vernunft geleiteten Vorschlägen entzieht, die jetzt helfen sollen, um das Erbe der Mutter zu regeln. Wie ist das mit dem Satz vom Honig hier? Bitteres wird süß bei Gott?! Nach einer Weile im Gespräch denke ich dann: Auch der Bruder ist ein Geschöpf Gottes. Ich weiß nicht genau, was Gott Dir damit geben will, dass er Dir diesen Bruder zumutet hat. Aber ich glaube, dass es auch im Leben mit dem Bruder – im Bild gesprochen – Süßes zu finden gibt. Sicherlich nicht jeden Tag. Vieleicht insgesamt zu selten. Aber einmal doch noch! Den Honig im Leben und im Leben ihres Bruders kann nur sie selbst entdecken. Als Pfarrer, der auch Ez kennt und darüber predigen soll, kann ich ihr nur sagen: es gibt diesen Honig. Und es gibt ihn für jeden und für jede von uns, liebe Gemeinde, denen Gottes Wort schon einmal im Gottesdienst auf den Kopf zugesagt oder in einer Taufe, Konfirmation, Trauung oder Segnung für die Ewigkeit ans Herz gelegt wurde.
Und wenn ich als Kind nicht mit Honig beim Lesen lernen erfahren habe, wie Anstrengendes süß werden kann? Oder wenn ich in der Gemeinde nicht derart bepredigt wurde, dass ich mir das Wort Gottes hätte zu Herzen nehmen können? Und wenn ich als Erwachsener einfach niemanden finde, der mir zuhört, der mich versteht, der mich berät, mir weiterhilft? Dem Propheten Ezechiel hat eine Schriftrolle geholfen, die hat er gegessen und gut verdaut. Heute helfen kluge Bücher von Geistlichen, die eine einfache Sprache finden wie Pater Anselm Grün. Es helfen Artikel in Zeitungen wie im Sonntagsblatt, Es helfen Briefe, in denen Menschen aufschreiben, was ihnen in der Krise geholfen hat. Es hilft eine kurze Nachricht, dass man so bald wie möglich miteinander reden kann. Es hilft vielleicht sogar der Anruf auf der Notfallnummer, auf die hin der Pfarrer so schnell wie möglich vorbeikommt und Zeit hat.
Allen diesen Versuchen gemeinsam ist die Wahrhaftigkeit ihres Bemühens, die es auch im Gespräch zu wahren gilt: Schritt für Schritt das Bittere verdauen. Nichts beschönigen. Wenn Sie gerade kein solches Buch zur Hand haben, dann lesen Sie doch einmal das Buch des Propheten Ez. Es ist 48 Kapitel lang, man sollte sich dafür Zeit nehmen. Man kann es nicht an einem Abend verschlingen. Und dann werden Sie selber schmecken: Bitteres wird süß bei Gott. Der Prophet verkündigt Israel Klage, Ach und Weh. An ihrem Verhalten ändert sich dennoch nichts. Dann werden Jerusalem und vor allem der Tempel dort tatsächlich zerstört. Diese Nachricht dringt auch ins entfernte Babylonien durch, wo inzwischen noch viel mehr aus Israel hin verschleppt wurden. Klage, Ach und Weh sind wirklich geworden. Unübersehbar, spürbar für alle.
Wenn Sie so weit gekommen sind im Buch Ez, dann werden sie merken: es ändert sich die Aufgabe des Ezechiel. Nun bekommt der Prophet von Gott einen neuen Auftrag: Er soll die zerschlagenen Menschen aufrichten, ihnen zu neuem Glauben verhelfen. Er soll verzweifelte Menschen trösten, sie auf die neue, gute Zukunft nach der Katastrophe vorbereiten, die für sie anbrechen wird. Auf eine Zukunft, in der das Leben weitergehen wird. Mit einem neuen Tempel. Mit einem Gott, der die Menschen nach wie vor liebt. Der in Israel noch lange nicht am Ende ist mit seinen guten Gedanken. Der am Ende sogar den Tod zunichtemachen wird. Der uns ein neues Herz verspricht, weil er weiß, dass unsere menschlichen Herzen dabei sind, älter und am Ende alt zu werden. Dessen Wort dazu hilft, dass uns auch Bitteres süß wird.
Amen.
Predigt über Mt 20,1-16
(gehalten am 9.2.2020)
Liebe Gemeinde,
Hans ist acht Jahre alt und Hans braucht Geld, 6,50 €. Er möchte sich etwas dafür kaufen. Verdienen kann er noch nichts. Bitte sagen mag er nicht. Da fällt ihm etwas ein. Er schreibt seiner Mutter eine Rechnung: Für das Anziehen der kleinen Schwester 1,50 €, für das Aufpassen 2 €, fürs Einkaufen 3 €. Macht zusammen 6,50 €. Vor dem Mittagessen legt er die Rechnung heimlich unter den Teller der Mutter. Sie findet den Zettel. Sie liest ihn. Sie schaut Hans an. Sie sagt kein Wort und legt den Zettel in die Kommode. Hans weiß gar nicht, was er davon halten soll. Er ist ganz aufgeregt. Am Abend liegen unter seinem Teller zwei kleine Briefe. In dem ersten Brief sind 6,50 €. In dem anderen Brief liegt ein Zettel: Rechnung von der Mutter: Für Essen und Trinken 0,00 €, fürs Waschen, Plätten und Flicken der Sachen 0,00 €, für die Pflege bei Krankheit 0,00 €, für Erziehung 0,00 €. Fürs Liebhaben 0,00 €. Macht zusammen 0,00 €. Als Hans das liest, wird er sehr nachdenklich. Leise steht er auf und geht in die Küche. Leise legt er das Geld auf den Küchentisch. Dann geht er schnell wieder hinaus.(1)
Diese kleine Geschichte, die ich gerne Vorschulkindern und auch in der Grundschule vorlese, kann verdeutlichen, worum es in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg geht. Der Maßstab Gottes ist, wessen wir bedürfen, nicht was wir verdienen. Das sollen alle bekommen. Der kleine Hans rechnet wie die Arbeiter, die am Ende eines langen Arbeitstages vorm Verwalter des Weinbergs in der Lohnschlange stehen und auf die Auszahlung ihres teilweise sehr mühevoll erarbeiteten Tagesverdiensts warten. Auch Hans – wie jedes Kind und jeder Mensch – möchte, dass seine Arbeit gerecht bewertet wird. Zunächst versucht er, den Wert seiner kleinen Tätigkeiten (vermutlich alle im Auftrag der Mutter) selbst abzuschätzen. Auch die Arbeiter im Weinberg schuften um gerechten Lohn. Der Silbergroschen ist damals der Mindestlohn, den man gebraucht hat, um Essen für den nächsten Tag zu kaufen, etwas Brot und ein wenig Wein. Der Weinbergbesitzer ist kein Sozialunternehmer, er kalkuliert genau und zahlt nicht mehr als er muss. Aber er zahlt eben auch nicht weniger, als sozial nötig ist.
Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter anzuwerben für seinen Weinberg. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere auf dem Markt müßig stehen und sprach
zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand angeworben. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.
Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?
So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.
Die, die den ganzen Tag im Weinberg – eine schwere Arbeit damals wie heute – gearbeitet haben, wissen, was als Tageslohn vereinbart ist. Viel ist es nicht, aber es reicht zum Überleben. Sie haben gearbeitet mit der Überzeugung, dass ihr versprochener Lohn nach den damaligen Maßstäben für einen Tag als Lebensunterhalt ausreicht. Für eine Familie, hätten sie eine, würde es schon knapp mit dem Silbergroschen und dem Mindestlohn. Dass sie mehr als das bekommen, bleibt ein Traum, den ihnen damals niemand erfüllt hat, der Arbeitskräfte jeweils für einen Tag gemietet hat, weil sie zusätzlich zum Stammpersonal in der Erntezeit nötig sind.
Alle anderen Arbeiter im Weinberg, die nicht den ganzen Tag Arbeit hatten, mussten darauf hoffen, mit ihrem Bruchteil vom Tageslohn wenigstens genug für eine Abendmahlzeit zu bekommen, damit es bis zum nächsten Morgen reicht. Es gab damals neben dem Silbergroschen schon auch noch kleinere Münzen, die jeweils ein Viertel eines Silbergroschen wert waren. Womöglich sind diese Arbeiter schon hungrig ans Werk gegangen, wenn es gestern auch nur ein kurzer Arbeitstag mit einem Lohn weniger als ein Silbergroschen für sie war. Für diese Arbeiter ist der Tageslohn ein unerwartetes Geschenk. Für den Weinbergbesitzer ist es die Verpflichtung, die er für die Arbeiter übernimmt, wenn er Menschen ohne Lohn und Brot auch noch unter Tags anstellt, und wenn er sozial denkt und handelt.
Sowohl im Gleichnis als auch in der Geschichte von Hans und seiner Mutter nimmt die abendliche Lohnauszahlungserwartung für alle Arbeiter und für Hans eine überraschende Wendung. Die Mutter zählt ihre Leistungen genauso auf wie Hans, sie kommt freilich in der Summe zu einem ganz anderen Ergebnis. Denn sie rechnet nicht auf, was sie verdient hätte, egal ob Hans das bezahlen kann. Sie will ihn nicht beschämen mit seiner Unkenntnis, was sie alles für ihn tut. Deshalb berechnet sie nicht, sie verschenkt im Ergebnis unterm Strich das, was sie getan hat. Und auch der Weinbergbesitzer entlohnt nicht nur nach Leistung, sondern er gibt jedem der Arbeiter so viel, dass es heute zum Leben reicht. Er beschenkt einige, damit sie genug haben, um durch den nächsten Tag zu kommen. Ihm ist es wichtig, dass es allen morgen nicht schlechter geht als heute. Das erkennt er als seine Verantwortung für die Arbeiter.
Dass die Mutter ihre Arbeit verschenkt, überhaupt die Leistungen von Frauen und allen Eltern sind derart bedeutsam, auch unser so reiches Gemeinwesen könnte sie gar nicht vollständig entlohnen. Warum aber verletzt der Weinbergbesitzer mit seiner Art der Lohnauszahlung das Gerechtigkeitsempfinden, damals und heute? Ist es wirklich ungerecht, dass alle, egal wie lange sie gearbeitet haben, den gleichen Lohn erhalten? Wenn es doch der Mindestlohn ist?
Wenn ich dieses Gleichnis in der Oberstufe im Religionsunterricht durchnehme, dann beginnt sofort die Diskussion, wie man die Ungerechtigkeit in der Geschichte beseitigen kann. Die Schülerinnen und Schüler spielen gedanklich durch, dass sich die Arbeiterinnen und Arbeiter zusammenschließen, eine Sprecherin oder einen Sprecher wählen, die oder der für sie und ihre Rechte eintritt, damit doch noch alle zu einem auch für die lange Arbeitenden gerechten Lohn kommen. Wer dabei dann spielerisch und gedanklich in die Rolle des Weinbergbesitzers schlüpft, hat eine schwierige Aufgabe. Den ersten Arbeitern klar zu machen, dass ihnen kein Unrecht geschieht, sondern sie den vereinbarten Lohn bekommen, freilich auch nicht mehr als den Mindestlohn, ist nicht leicht, weil der Vergleich mit den anderen Arbeitern immer wieder zuschnappt. Und wenn ich in der Sicherungsphase des Unterrichts nachfrage, welche Überschrift dieses Gleichnis bekommen könnte, höre ich oft den Vorschlag „vom ungerechten Lohn“ oder gar den Titel „vom ungerechten Weinbergbesitzer“. Die Auszahlungsart des Weinbergbesitzers passt nicht zu unserer Vorstellung von Gerechtigkeit, von menschlicher Gerechtigkeit, von Bezahlung nach Leistung. Deshalb ist es schwer, den jungen Menschen etwas davon näherzubringen, was das Gleichnis vom Weinbergbesitzer über unseren Gott aussagt.
Was gerecht und was ungerecht, das lernen wir als Kinder. Wir begreifen es, wo wir an uns selbst erleben, dass mehr Gerechtigkeit unser Zusammenleben besser macht. Unwillkürlich kommen wir dabei ins Vergleichen und bewerten Abweichungen von der normalen Regel als ungerecht. Schon kleine Kinder achten genau darauf, dass kein Kind mehr als alle anderen bekommt. Als ich am Rand des Starnberger Eiszaubers der kleinen Pauline eine Tafel Schokolade in die Hand gedrückt habe, die ich am Morgen geschenkt bekommen hatte, wollte sie nach dem ersten Schreck dann ganz genau wissen, ob sie die jetzt auch teilen muss oder ob sie ihr alleine gehört. Und weil kein anderes Kind in Hörweite war, konnte ich sie ihr alleine schenken.
Unter Geschwistern wird jedes Gummibärchen abgezählt und geschwisterlich geteilt. Richtig teilen, das bedeutet, der eine teilt, und der andere verteilt die Teile. Wer sich mehr nimmt, auf den sind die anderen sauer. An einem Weihnachtsfest habe ich einmal den Frieden in meiner Familie schwer in Schieflage gebracht, als es zwischendurch auch nur so aussah, als würden meine drei Nichten und Neffen unterschiedlich viel Geld in ihrem Umschlag bekommen. Der damalige Moment der gefürchteten Ungleichbehandlung ist noch heute als verschreckte Erinnerung leicht unter meinen Nichten und Neffen abrufbar. Wenn nicht alle das gleiche erhalten oder zu erhalten scheinen, ist es offensichtlich ungerecht.
Andererseits ärgern wir uns beim Gleichnis gerade darüber, dass alle gleich behandelt werden. Weil Gerechtigkeit, so wie wir sie verstehen, auch immer etwas mit Leistung und Gegenleistung zu tun hat. Und wenn Leistung und Gegenleistung nicht miteinander übereinstimmen, empfinden wir es als ungerecht. Und so bemühen wir uns ein Leben lang, gerecht zu sein und gerade bei unseren Kindern keines zu benachteiligen, wir merken aber immer wieder, dass es jedenfalls im Berufsleben, aber auch sonst, selten ganz gerecht zugeht.
Am vergangenen Freitag musste ich die mündlichen Noten in evangelischer Religionslehre in das neue elektronische Notenerfassungssystem der FOS Starnberg eingegeben und sie zudem händisch in den Schülerakten vermerken. Für gute Leistung ist eine gute Note vorgesehen und für schlechte Leistungen schlechte. Allerdings glauben mir die Leute auch nicht wirklich, dass man auch wegen einer 5 in Religion schon einmal durchfallen konnte, obwohl es zutrifft, wobei diese Note 5 eine von vielen im Zeugnis war. Es freut mich als Lehrer natürlich viel mehr, wenn ich gute Noten vergeben kann. Noch besser fände ich es, wenn ich den Fortschritt eines Schülers bewerten dürfte. Sich von einer Note 5 auf eine 3 hochzuarbeiten ist eine so große Leistung wie eine 2 übers Jahr zu halten. Und eigentlich sollte ich am meisten denen zur Seite stehen, die nicht so gut sind, dass von ihnen Erfolgserlebnisse erwartet werden können. Manchmal sind vor allem die Noten der schlechten Schülerinnen und Schüler nicht gerecht.
Und auch im Berufsleben erwarten wir Gerechtigkeit: Jemandem, der viel und gut arbeitet, soll auch viel Lohn gezahlt werden, und jemandem, der nichts tut, eben weniger. Aber wenn wir uns in unserer Welt umsehen, dann merken wir schnell, dass wir es bei allem Bemühen nicht einmal bei uns selbst oder auch nur in der Kirchengemeinde schaffen, wirklich gerecht zu sein. Denn welcher Arbeitslohn ist gerecht? Warum bekommen Erzieherinnen nicht mehr Gehalt? Arbeitet der Manager wirklich so viel mehr als sie, hat er wirklich so viel mehr Verantwortung, wo unsere Frau Christiane Schumann und Frau Sabine Seemann als die beiden Erzieherinnen im Starnberger evangelischen Kindergarten doch für das Wertvollste da sind, was wir haben, für unsere Kinder? Das wissen auch die Eltern der Kindergartenkinder, weswegen am Freitag beim diesjährigen „Tag der offenen Tür“ aller Kindertagesstätten in Starnberg in unserer Kita mehr als doppelt so viele Eltern ihr Kind für einen Platz gemeldet haben, als wir im nächsten Kindergartenjahr vermutlich freie Plätze haben werden.
Das, was man verdient, muss mindestens dann auch zum Leben reichen, am besten nicht nur von Tag zu Tag. Als Pädagogin eine Stunde in der Woche mehr zu arbeiten, weil fehlendes Personal ersetzt werden muss, das bringt sogar gutmütige Zeitgenossinnen wie die freundliche Grundschullehrerin von nebenan auf die Palme. Von daher ist der Weinbergbesitzer unserer Zeit voraus. Er bezahlt den ungelernten Arbeitern, die auch wegen ihrer mangelnden Qualifikation sonst nicht so leicht oder keine Arbeit finden, einen Mindesttageslohn, nicht nur einen Mindeststundenlohn. Für ihn steht im Vordergrund, dass alle genug zum Leben heute haben.
Natürlich ist diese Geschichte keine Anleitung zu aktuellem betriebswirtschaftlichen Handeln, sondern sie ist ein Gleichnis für das Reich Gottes. Vermutlich würde der Weinbergbesitzer als Ökonom und Geschäftsführer bei einer fortgesetzten Handlungsweise keine Arbeiter mehr finden, die sich am Morgen für den Mindestlohn verdingen. Denn die meisten würden wohl erst kurz vor Schluss kommen, wenn sie wüssten, dass sie noch den vollen Mindestlohn erhalten – so sind Menschen einfach. Unser Gleichnis ist also kein Beitrag zur aktuellen Mindestlohndebatte. Nein, um korrekten Umgang mit Lohn und Gehalt geht es nicht, sondern darum, dass Gott uns das gibt, was wir brauchen, und nicht nur das, was wir verdienen.
Im Gleichnis geht es um den Einklang von Gerechtigkeit und Liebe. Es soll deutlich werden, wie Liebe und Gerechtigkeit zusammenhängen. In Gottes Welt wird der Wert eines Menschen nicht durch den Vergleich ermittelt. Die Mutter in unserer Geschichte von Hans‘ Rechnung – sie wäre auch als guter Vater plausibel – tut genau das, was ich Gott zuschreibe: sie rechnet ihre Liebe, ihr Handeln für ihr Kind und die Sorge um Hans nicht auf. Sie schreibt es auf, um ihrem Sohn etwas deutlich zu machen, nämlich, wie viel Liebe und wie viel Zeit sie für sein Glück und sein Wohlergehen investiert. Wie viel sie gibt, was er vielleicht gar nicht alles sieht.
Gott geht noch weiter als diese Mutter. Auch Gott rechnet die Liebe nicht auf. Er schreibt nicht einmal alles auf, wie viel und was er alles für mich tut. Er sagt uns nur: „Ich will euch geben, was recht ist“. Dabei geht es um das, was Gott für uns recht ist, was er sieht, was wir brauchen. Und das ist weit mehr, als die Arbeiter vom Weinbergbesitzer erwarten. Und es ist auch mehr, als uns oft klar ist. Recht in Gottes Augen ist es, dass es allen Menschen gut geht. Dass alle sich am Leben freuen können. Dass jeder einzelne Mensch sich geliebt fühlt. Dass alle ihr Leben in Würde und Wahrheit leben können.
Gott fordert für seine Liebe zu uns keine Gegenleistung, darin liegt die Grenze dessen, was ökonomische Vergleiche im Blick auf den Höchsten ausdrücken können. Gott bemisst unseren Wert nicht nach einer Leistung, Gott sei Dank ja auch nicht nach einer fehlenden. Sondern Gott schenkt, was wir brauchen. Wir dürfen Gottes Liebe zu uns in der Liebe eines anderen Menschen entdecken, uns über beides freuen und die Liebe an uns wirksam werden lassen.
Allerdings kennt man auch den einen oder anderen Menschen, dem es schwer fällt, ein Geschenk anzunehmen. Vielleicht deshalb, weil er an sich selbst wenig unbedingte Wertschätzung erlebt hat. Wer sich nicht verschenken kann, rechnet den Wert des Präsents aus, das er bekommen hat und meint, beim nächsten Mal in mindestens möglichst gleicher Höhe schenken zu müssen. Das Geschenk der Liebe Gottes ist aber anders gemeint. So sehr es in der Folge stimmt, dass wir das Geschenk der Liebe Gottes nicht vergraben, sondern für andere und für uns selbst wirksam werden lassen und wo möglich damit sogar wuchern.
Können wir im Glauben oder bei uns lieben Menschen spüren, wie schön es ist, beschenkt zu werden? Können wir uns von Gott und unseren lieben Menschen etwas Unverdientes und sogar etwas Unverdienbares schenken lassen? Der Weinbergbesitzer fragt am Schluss sinngemäß:
„Bist du etwa neidisch, weil ich großzügig bin?“ Wir können im Leben immer noch dazulernen, Gottes Gerechtigkeit und das Vertrauen unserer Freunde noch mehr wertzuschätzen. Wir werden so mit einer anderen Gerechtigkeit als der nach Lohn und Leistung beschenkt. Es ist eine Gerechtigkeit, die auch andere Menschen sieht und auch für sie alles Gute will, die ja ebenso wie wir selbst wunderbare, einzigartige und von Gott geliebte Menschenkinder sind.
Amen.
(1) Vorlesebuch Religion 1. Für Kinder von 5-12 Jahren, herausgegeben von Dietrich Steinwede und Sabine Ruprecht, Lahr, Göttingen, Düsseldorf, Zürich, 1971, S. 21f.
Predigt über Jer 14,1-9
(gehalten am 19.1.2020)
Liebe Gemeinde,
Jer ist eine der Riesen der hebräischen Bibel, unseres Alten Testaments. Das nach ihm benannte Werk, das Buch des Propheten Jer ist ein Opus in 52 Kapiteln. Im Unter schied zu den wohlbestallten, am Tempel verbeamteten Heilspropheten, bevor die Hauptstadt Jerusalem, in der er wirkte, vom übermächtigen Heer der Babyloniern belagert und besiegt wurde, warnte Jer penetrant und notorisch vor einer Katastrophe ganz eigener Art. Er klagte die Priester, die herrschenden Könige, die Optimismus-Propheten und das Volk selbst an. Jer verkündet viele knüppelharte Gerichtsworte und hebt darin Gottes gerechte Strafe hervor.
Hoffnungsperspektiven sind rar bei ihm, vielleicht wurden sie diesem Großen des ersten Testamentes sogar erst später hinzugeschrieben. Jer streitet im Auftrag Gottes dafür, den heran nahenden Babyloniern sich von sich aus zu unterwerfen, anders eine bittere Niederlage und dabei die staatliche Vernichtung zu erleiden. Vertraut das Volk seinem Gott oder der eigenen Stärke und politischen Klugheit? Das ist die Gretchenfrage des Propheten. Darin können auch wir als Gemeinde unsere Gretchenfrage hören. Selbstverständlich wird er zu seiner Zeit nicht ernst genug, er wird auch religionspolitisch angefeindet. Allein viermal klagt Jer deshalb über die Bürde seines Auftrags, der schwer auf ihm lastet; „Jeremiaden“ nennt man solche Klagen …
Vielleicht hat Jeremia wirklich in der Zeit um 600 vor Christus gelebt, wie die Wissenschaft heute meint, aus den Texten herauslesen zu können. Er wächst in einem Dörfchen auf, Ana thot, nahe Jerusalem, einer Siedlung für Priester, wie sein Vater einer gewesen sein soll. Stadtleben und geschäftiges Treiben am Jerusalemer Tempel sind ihm suspekt. Er verkündet insgesamt lange 45 Jahre (mit Unterbrechungen) Gottes Willen. Jer wird sehr jung berufen, zu jung für sein Gefühl. Unser Wissen über ihn endet, als er von einigen vor der weit überlegenen babylonischen Heeresmacht Fliehenden nach Ägypten verschleppt wird. Dort verweht jede weitere Spur im Sand. Anders als Jesaja hat er keinen Nachfolger. Dennoch wird er später ungemein wirksam, weil seine Art, Gott zu verkünden, Schule (Dtn) macht.
Unser heutiger Predigttext aus dem Jer-Buch verdankt sich keinem politischen Anlass. Er ertönt vielmehr in eine ähnlich prekäre Situation hinein, wie sie derzeit in Australien herrscht. Statt der dortigen Feuer ist es bei Jer eine grausame Dürre von biblischem Ausmaß. Sie hat das Land fest im Würgegriff. Als Wetterkatastrophe ist sie existenzbedrohend für Mensch und Tier. Die entmutigende Lage im Land wird im Jer in bedrückenden, drastischen Worten beschrieben.
Als Gotteskünder fragt der Prophet, woran es liegt, dass mit der Dürre auch das Leben im Staat so entgleist ist. Ein Mehltau der Verzweiflung liegt offensichtlich über allen, das Leben zerfällt:
Dies ist das Wort, das der Herr zu Jeremia sagte über die große Dürre: Juda liegt jämmerlich da, seine Tore verschmachten. Sie sinken trauernd zu Boden, und Jerusalems Wehklage steigt empor. Die Großen schicken ihre Diener nach Wasser; aber wenn sie zum Brunnen kommen, finden sie kein Wasser und bringen ihre Gefäße leer zurück. Sie sind traurig und betrübt und verhüllen ihre Häupter. Die Erde ist rissig, weil es nicht regnet auf das Land. Darum sind die Ackerleute traurig und verhüllen ihre Häupter. Selbst die Hirschkühe, die auf dem Felde werfen, verlassen die Jungen, weil kein Gras wächst. Die Wildesel stehen auf den kahlen Höhen und schnappen nach Luft wie die Schakale; ihre Augen erlöschen, weil nichts Grünes wächst.
Liebe Gemeinde, diese Worte sind schwer zu hören und sie waren auch damals kaum zu ertragen. Jer hat keine Klimakatastrophe im Sinn, wenngleich manche Beschreibung in der Bibel an das erinnert, was wortgewaltige Kritiker den reichen Menschen des Westens und Asiens heute vorwerfen: man lebt unverantwortlich auf zu großem Fuß; jede und jeder ist zuerst auf eigenen Vorteil bedacht; Egoismus, Ausbeutung von Tier, Feld, Alm und Mensch, zu große Autos, hemmungslos gewordener Konsum – womöglich verweist unser Lebensstil wirklich auf einen Mammon als Ersatzgott; vom dadurch gestreuten Krebsgeschwür der zwischenmenschlichen Entgleisung bei tatsächlich noch so nichtigen Gelegenheiten ganz zu schweigen.
Unser bis Freitag so schönes Wetter hat aber nichts mit der Dürre zu Zeiten eines Jer gemein. Jer ist nicht Greta. Ob Greta ein Jeremia ist, das ließe sich fragen, wo man die eine oder andere Anklagerede der jungen Klimaaktivistin durchaus als Jeremiade bezeichnen darf, also als persönlich begründete, unverblümte Volksklage, wie sie sich in der Bibel exklusiv von Jer findet.
Jer hat etwas von Greta Thunberg, nicht nur die Jugend, in der er als früh berufener Prophet zu reden begann. Er verbindet bedrohliche Naturphänomene wie die große Dürre damals mit dem, was er als die Sünde seines Volkes bezeichnen muss. Seine Aufgabe ist es, diese Wettererscheinung auf ihre tiefste Ursache zurückzuführen, die nicht in der Natur oder der Meteorologie gründet, sondern die mit Gottes Gericht über die Menschen zu tun hat. So findet Jer zum Ton, mit der er das Fehlverhalten des Volkes und seiner religiös-politischen Eliten aufspießt:
Ach, Herr, wenn unsre Sünden uns verklagen, so hilf doch um deines Namens willen! Denn unser Ungehorsam ist groß, womit wir wider dich gesündigt haben. Du bist der Trost Israels und sein Nothelfer. Warum stellst du dich, als wärst du ein Fremdling im Lande und ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt? Warum bist du wie einer, der verzagt ist, und wie ein Held, der nicht helfen kann? Du bist ja doch unter uns, Herr, und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!
Heutzutage scheint vielen Menschen eine solche Deutung menschlichen Tuns und göttlicher Reaktion kaum mehr legitim. Naturphänomene wie menschliches Fehlverhalten oder gar Krankheiten (und seien sie eindeutig unserer Zivilisation geschuldet) auf Sünde und menschliche Schuld, auf mangelnden oder falschen Glauben zurückzuführen ist obsolet geworden. Das darf man nicht mehr. Oder sollte ich der Dame, die es am Geburtstag wegen ihrer offenen Füße nur mit Mühe zur Wohnungstür schafft, die mir dann unter Tränen und mit Wut vom Herzinfarkt des Mannes berichtet, den sie jetzt daheim pflegen muss, erklären, dass ihre und seine Krankheit ihren tiefen Grund in Sünde hat? Also doch lieber Greta als Jer maskieren, weil sich die angestaute Klimawandelstimmung zum sonntäglichen Erregungsabbau nutzen lässt? Nur was hilft uns eine solche Wutpredigt über den Tag hinaus?
Liebe Gemeinde, alle Jahre wieder bittet mich die Münchener Kirchenleitung, Predigttexte auszusuchen und sie zu Prüfung für junge Pfarrerinnen und Pfarrer zu formulieren. Nach dem schriftlichen zweiten Examen bekomme ich die Klausuren zur Korrektur. Ich schaue zuerst, ob die angefertigte Übersetzung des biblischen Textes richtig ist, dann lese ich, wie die angehenden Gemeindetheologinnen und -theologen den Bibeltext nach den Regeln der Kunst auslegen. Und schließlich prüfe ich, was sie zum Thema schreiben, das ich ihnen mit dem Bibeltext zur Ausarbeitung stelle. Was fällt jungen Menschen im Prüfungsstress über Witwen in der Bibel oder über den Heiligen Geist im Pfarramt ein? Richtig gut bewerte ich Examensarbeiten, wenn sie auf die Frage antworten, was der Predigttext über Gott sagt. Unsere Bibel ist ein Erfahrungsbuch von Menschen, die durch alle möglichen existenziellen Krisen geschlittert, gestolpert und gefallen sind. Und die Bibel ist ein Buch, in dem wir lesen, dass wir in jeder Situation gerufen sind, das eigene Leben, seinen Sinn und seine Bedeutung für Gott zu öffnen.
Vor jeder Korrektur schreibe ich mir eine Musterlösung auf, damit es mir leichter fällt, die Arbeiten korrekt zu korrigieren. Und das wäre meine Musterlösung für unseren Predigttext: „Regenmangel und folglich eine Naturkatastrophe ist der Anlass für die Notschilderung, die der Prophet vorträgt. Das ganze Land leidet unter der Trockenheit, Menschen und Tiere. Juda und seine Städte, hier Tore genannt, weil sich auf dem freien Platz am Stadttor das öffentliche Leben abspielte, sind betroffen: sie veröden. Auch die Hauptstadt bleibt nicht verschont. Die Not wird in ihr noch größer, denn auch von außerhalb“ – die wichtigste Wasserleitung Jerusalems kommt aus Bethlehem – „ist kein Wasser mehr zu erhalten. Die ausgedörrten Felder können nicht mehr bestellt werden. Tiere sind in ihrer Existenz bedroht, versuchen zu überleben.
Sie können ihre Jungen nicht mehr ernähren. Auch die zähesten, wie etwa die Wildesel, überstehen die Trockenheit nicht.“ (*1)
Damit ist aber nur die Katastrophenseite des Predigttextes umfasst, es fehlt noch die theologische Dimension, um derentwillen die Katastrophe erzählt wird, in der durch drängende Gesten und Worte und mit besonderer Dringlichkeit Gott angerufen wird: „Das Volk klagt und fleht nach einem Sündenbekenntnis um Gottes Hilfe, anscheinend in einem Bußgottesdienst im Tempel“, in „dem der Name des Herrn ausgerufen“ wird. Der Herr „soll so handeln, wie es sein Name aussagt: er soll sich als der heilswillige Gott erweisen. Er muss tätig werden, wenn sein Name nicht geschmäht und er nicht als ein Gott bezeichnet werden will, der nicht wirken und helfen kann. Auf ihn richtet sich alle Hoffnung des Volkes. Er ist der Helfer in jeder Bedrängnis. Doch zur Zeit handelt er ganz anders; dies wird ihm … als Vorwurf und als Motiv, nun tätig zu werden, vorgehalten. Er scheint“ ja, „als ob er nicht da wäre, sein Volk nur flüchtig besucht hätte. Es ist, als sei er von der Not der Seinen überrascht und verwirrt, als habe er nicht mehr die Kraft zum Handeln. Aber er muss doch bei seinem Volk sein, denn er selbst hat seinen Namen über sein Volk ausgerufen, das dadurch sein Eigentum und die Zusage seiner Nähe und
Hilfe erhalten hat. Er darf es nicht im Elend liegen lassen“! (*2)
Liebe Gemeinde, so muss man sich erst einmal vor Gott hinstellen. Mit diesem Mut der Verzweiflung sollte man (und darf man) an dem Gott festhalten, auf dessen Namen wir getauft wurden (womöglich noch mit dem Taufspruch von „seinen Engeln“, die mich „behüten“ sollen „auf allen meinen Wegen“; Ps 91,11). Das ist die erste Qualität unseres Predigttextes, dass Jer von den Menschen seiner Zeit einen Bußgottesdienst, ein Schuldbekenntnis und eine gemeinsame Klage erwartet, die Gott beim Wort nimmt! Nur selten veranstalten wir hier in Starnberg solche Bußgottesdienste. Und wie oft hätte ich Gott schon beim Ehrenwort genommen? Wir sollten heute von Jer lernen, es ernst mit Gott zu meinen – weil Gott unser Gott ist.
Aber nicht durch unser Bekenntnis wird die Sünde unwirksam, so hilfreich es ist, meine Schuld auszusprechen. Weshalb ich in jeder Beerdigung die Anwesenden bitte, ihre Gedanken über die Verstorbenen kurz aus dieser Sicht zu sammeln und um Vergebung zu bitten, wenn es im gemeinsamen Leben Grund dafür gab. Aber auch zu vergeben, wo es möglich ist, Verstorbene von Schuld zu entlasten.
Aber nicht durch Bekenntnis und Einsicht wird die Schuld und Sünde unwirksam, so gut es tun kann, sich auszusprechen. Sondern Sünde wird abgetan, weil Gott sie vergibt, wo wir darum bitten. Und er vergibt, weil er Gott ist. Fast schon wie ein Hiob – nur dieses Mal eben als ein Hiob, der sich der eigenen Schuld bewusst ist und vor Gott zu ihr steht – sollen die Menschen sich Gott nähern. Wir werden täglich schuldig an den Mitmenschen und innerlich oft damit auch an uns selbst. Wenn wir unsere Schuld bekennen und Gott um Vergebung bitten, dann erwarten wir bitte die Vergebung auch und zählen auf sie. Gott vergibt uns, wenn wir bitten.
Darum bekommt unser Gottesdienst regelmäßig dort theologische Tiefe, wo wir nach dem ersten Lied unserer offenen Schuld Raum geben – „offene Schuld“ heißt der kurze Gedankenaustausch zu Beginn, den die Pfarrperson initiiert und in dem die Gemeinde mit den Worten antwortet: „Der allmächtige Gott erbarme sich unser, er vergebe uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben“. Letztlich vollziehen wir hier nach, was Jer seinem Volk damals predigt. Und es endet nicht damit, dass wir so bitten (ich mit), sondern es folgt die Zusage der Vergebung, die von Gott kommt. „Gott erbarmt sich über uns. Gott wird uns, wohin auch immer wir gehen, zurückholen in seine Gemeinschaft“ (Confiteor am 2. Sonntag nach Epiphanias).
Gott vergibt uns. Denn Gott ist Gott, und nicht ein Mensch. Gott ist die Treue selbst zu seinem Bund, zu seinen Verheißungen und Zusagen. Und auch der Segen, der uns im Gottesdienst am Ende zugesagt wird, ist Segen, der von Gott kommt. Gott selbst steht dafür ein, dass er draußen in der Welt und möglichst auch im Alltag wirksam wird. Dieser Segen ist nicht der fromme Pfarrerwunsch, den ich mehr oder wenig mutig oder vollmächtig im Namen Gottes ausspreche. Sondern er ist wirksam, weil er im Namen Gottes gesagt wird.
Der Pfarrer wird darüber freilich nicht zum Heilspropheten, der immer nur sagt, was die Menschen hören wollen, um mit gutem Gefühl wieder aus der Kirche herauszugehen. In der Antwort Gottes, die im Buch des Jer in den folgenden Kapiteln auf unseren Predigttext folgt, wird deutlich, dass Gott noch lange nicht zufrieden ist mit seinem Volk. Insbesondere nerven ihn die Schönredner unter den Propheten (Jer 14,14), die nicht Gott bestellt hat, die gutes Geld damit, verdienen den Menschen nach dem Munde zu reden, und die damit zu Lügnern werden. In weiteren Predigten bleibt Jer in seinem Prophetenbuch (14,19-16,18) noch länger dabei,
dass das Volk Gott klagen muss, sich über seine Lage im Grunde nicht täuschen oder beruhigen darf, sich aber von Gott nie als verworfen betrachten soll, so groß die Unruhe über das eigene Erleben und die gegenwärtige Wirklichkeit in der Gesellschaft auch immer sein mag.
Der Grund dafür ist nur einer, und er findet sich nicht im Tun oder Lassen der Menschen. Dass uns an den Abenden dieser Tage ein Licht aufgeht, dass uns in der tiefsten Dunkelheit des ganzen Jahres ein Kind geboren wurde, dass das Licht der Welt in die Finsternis auch meines Lebens scheint und sie erleuchtet und ein liebevolle Wärme verbreitet, wo Menschen mutig werden, neu zu beginnen; wo immer Gottes Wort wie das Licht in der Nacht ist, das Hoffnung und Zukunft bringt, geschieht das alleine darum, weil Gott unser Gott ist, Dein Gott und mein
Gott, unter Herr. Auf nichts sonst ruhen unsere Hoffnung und unser Glaube. Aber es braucht auch gar keinen anderen Glauben und keine andere Hoffnung als den Glauben an diesen Gott und die Hoffnung auf seine Gnade.
Amen.
(*1) SCHREINER, JOSEF, Jeremia 1-25,14, NEB, Würzburg 1981, S. 93.
(*2) A.A.O., S. 93f.
Predigt über Jes 61,1-3.10-11
(gehalten am 5.1.2020)
Liebe Gemeinde,
evangelisch kommt von „Evangelium“, frohe Botschaft. Am Anfang des Evangeliums, als es sich im AT zu Wort meldet, zielt es freilich auf die politische Botschaft des persischen Königs Kyros. Der Begründer eines Weltreiches gewann die besiegte Bevölkerung, als er die alten Tempel wieder aufbauen ließ. Die Babylonier durften ihren Kriegsgott Marduk wieder verehren, dem sie früher hohe Türme gebaut hatten. Und die Juden durften aus dem Exil im Zweistromland in die Heimat zurück und den Tempel in Jerusalem neu errichten. Erstmals war die neue Macht auf der Welt keine, die auch religiös siegen wollte, sondern auf Frieden setzte. Wir wissen von diesem epochalen Vorgehen aus alten Inschriften und wir kennen auch den jüdischen Bericht (Jes 40,1-5), der in Gottes Namen die gute Nachricht übermittelt:
Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat die volle Strafe empfangen von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden. Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des Herrn Mund hat’s geredet.
Für die Juden weltweit war das eine unerwartet frohe Botschaft, auf gut griechisch, das man damals weltweit zu sprechen begann, ein „Evangelium“. Als Bote der Nachricht trat ein auch heute noch namenloser Prophet auf, den wir nach dem Kapitel im Buch, in dem seine Worte gesammelt sind, Jes II. nennen. Er war es, der das Evangelium zuerst verkündete. Und er war es, der den Glauben an den einen Gott zum Durchbruch brachte. Alles andere galt ihm als Illusion, von Menschen erdichtet und als von ungelenken Handwerkern fabriziertes Götzenbild. So wie heute die sozialen Medien vielfach zu modernen Götzen der vermeintlichen Redefreiheit geworden ist. Im Überschwang der guten Nachricht, die Jes II. aus Persien brachte, nannte der Prophet den König Kyros einmal gar einen „Gesalbten“ des Herrn (45,1), einen „Messias“.
Hat Jes II. den Perser auf dem Pfauenthron positiv beurteilt, weil er mit ihm den Monotheismus teilt, den Glauben an einen einzigen, allmächtigen Gott? Jes II. kritisiert auch die persische Religion, sie postulierte neben dem guten Gott ausdrücklich auch einen bösen Gegengott. Aber dualistisch konnte der Prophet das Evangelium nicht verkünden, die Gott ihn sagen lässt:
„Ich bin der Herr, und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Heil gebe und schaffe Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut“ (Jes 45,6-7).
Das Böse kann auf keinen anderen Gott zurückgeführt werden, von den Einen kommt Gut und Böse, er ist Herrscher der Welt und kann eine andere Religion zum Instrument seines Willens, seiner politischen und religiösen Pläne machen. Denn das ist in aller Messias-Metaphorik festzuhalten: der Ursprung des Evangeliums ist nicht der Perserkönig Kyros, sondern der eine Gott.
Die neue Religionspolitik des persischen Großreiches im 5. Jahrhundert vor Christus brachte nicht nur das Evangelium als Botschaft der Befreiung aus dem Exil, sondern auch das Gesetz. Ein Nachfolger des Kyros, Artaxerxes I., schickte seinen Stadthalter Esra nach Jerusalem, dort das Leben nach dem Gesetz des einen und einzigen Gottes zu ordnen. Das war wohl die Initialzündung dafür, die 5 Bücher Mose in Schriftform zu bringen. Kluge jüdische Köpfe haben jedenfalls die Chance ergriffen, die unerwartete religiöse Autonomie abzusichern, indem sie ihre alten Geschichten in Bücher schrieben und so auch im Wortlaut fixierten. Zugleich nutze man das Gesetz, um sich von anderen abzugrenzen, um die Identität als monotheistisches Israel in einer polytheistischen Welt zu wahren. Deshalb hat sich der persische Stadthalter Esra, so liest man es in seinen Büchern im AT, als Gesetzesschreiber im kulturellen Gedächtnis verewigt und zugleich als Propagandist gegen Mischehen von Juden und Nichtjuden hervorgetan. Man erinnere sich daran, in welcher Zeit bei uns noch gemischt-konfessionelle Ehen ein Problem waren und man denke heute daran, warum sie vehement erschwert wurden: weil die Kirche selbst in dieser Zeit in großer Bedrängnis und an der falschen Stelle um Haltung bemüht war …
Im Evangelium sagt Gott dem Volk: Ihr seid aus der Gefangenschaft befreit, kehrt zurück in die Heimat, ergreift den alten Glauben und lebt fröhlich euer Bekenntnis. Das Gesetz fügte dem dann viele konkrete Forderungen hinzu, um die Freiheit einzuhegen und so hoffentlich zu bewahren. Damals schufen also politische Ereignisse den Rahmen dafür, dass ein Volk die Religion als Teil seiner Autonomie entdeckte und Gott zum Mittelpunkt des ganzen Lebens erklärte.
Wir sind dennoch vorsichtig, politische Ereignisse als Willen Gottes zu deuten. Der schlimmste Versuch einer entsprechenden Geschichtstheologie war ein nationaler Protestantismus der Zeit nach 1918, der das Christentum in unserem Land nachhaltig beschädigt hat. In der Niederlage des deutschen Reiches im Weltkrieg und in der desolaten Lage der Weimarer Republik sahen diese Theologen damals eine Art babylonischer Gefangenschaft ihres Volkes. Sie missdeuteten die nationalsozialistische Bewegung als Befreiung aus der Gefangenschaft. „Christus ist unsere Kraft, Deutschland unser Ziel“ – das war die Parole der Deutschen Christen auch in Starnberg.
Können wir aus dem Umgang Israels mit seiner Geschichte, konkret aus dem AT, lernen, die Spuren Gottes zu entdecken und die Irrwege der Geschichtstheologie zu meiden? Freilich waren auch die jüdischen Geschichtsdeutungen angesichts der gelebten Realität oft sehr umstritten. Der kurz nach Esra gebaute Tempel: mickrig; die auf alt getrimmte Lehre: theologisch wackelig; das Leben der nach Israel Heimgekehrten: armselig; echte Solidarität im Volk: gering ausgeprägt; scharfe Abgrenzung gegen andere Völker: unklug. Wie soll man in einem so kümmerlichen Neubeginn überhaupt Spuren Gottes erkennen? Die Kirche der Zeit nach der Wiedervereinigung hoffte in den neuen Bundesländern auf einen großen Aufschwung, hatte sie doch die Wende in Deutschland geistlich erst ermöglicht – die spätere Enttäuschung über die massenweise Abwendung der Ostdeutschen von ihr war riesig …
In der Krisensituation zur Perserzeit haben Propheten das schon aus zwei Teilen bestehende Jes durch einen dritten Teil ergänzt. So wie wir das Evangelium durch unser Leben immer neu zu begreifen und dann erneut auszudrücken suchen. Jes III. enthält viele Gesetzesforderungen wie bei Esra, jedoch mit einer bedeutsamen Korrektur: Jes III. fordert die theologische Öffnung Israels für Fremde und Andersgläubige. Fortan sollen etwa die früher harsch abgewiesenen Fremden und sogar Eunuchen zum jüdischen Gottesdienst im Tempel zugelassen sein. Das unerhört neue Evangelium begründet der dritte Jesaja nicht mit Gesetz oder Tradition, sondern mit dem Geist. Der Geist Gottes bringt nach der guten Nachricht der Rückkehr in die Heimat nun eine noch viel bessere Botschaft, um mit aller Kleingläubigkeit und aller Resignation angesichts ausgebliebener Hoffnungen im Neuanfang gründlich aufzuräumen und eine ganz frische theologische Luft ins Land zu blasen, sodass man aufhorcht, was der Prophet sagt:
Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden, zu schaffen den Trauernden zu Zion, dass ihnen Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauer, schöne Kleider statt eines betrübten Geistes gegeben werden, dass sie genannt werden »Bäume der Gerechtigkeit«, »Pflanzung des Herrn«, ihm zum Preise.
Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt. Denn gleichwie Gewächs aus der Erde wächst und Same im Garten aufgeht, so lässt Gott der Herr Gerechtigkeit aufgehen und Ruhm vor allen Völkern.
So spricht der neue Jesaja. Hier ist nun alle Politik aus dem Evangelium gewichen. Nicht mehr der persische König, sondern der vom Geist Gottes getriebene Prophet wird als Gesalbter des Herrn identifiziert – nicht einer allein, Jes III. war Teil einer Prophetengruppe. Mit ganz ähnlichen (etwas erweiterten) Worten fasst dann mehr als fünfhundert Jahre später in einer neuen Zeit großer Sorgen der Prophet und Rabbiner und Schriftgelehrte und Prediger Jesus bei seiner Antrittsrede in Nazareth (Lk 4,16-30) seine Sendung in Israel als Evangelium zusammen.
Bilanzieren wir kurz: Durch den Monotheismus wurde Gott zum wichtigsten Anliegen des Menschen. Durch das Evangelium wurde der Mensch zum wichtigsten Anliegen Gottes, und zwar nicht der erfolgreiche und gesunde, sondern der gefährdete, zerbrochene, unfreie und verlorene Mensch, der aber genauso zu Leben und Freiheit bestimmt ist. Das Evangelium ist
der Zuspruch Gottes an die, die ohne dieses Evangelium am Leben verbrechen würden, weil sie alt und einsam sind, oder in der Familie in Not, oder vor einer Aufgabe, die ihnen schwer wird.
Liebe Gemeinde, in dieser Botschaft kann man Gottes Spuren in der Geschichte finden, wenn man sie aus den Augen von Jes und Jesus anschaut: Die Menschen sollen vor allem Lebensmut und Selbstverstrauen zurückerhalten und bewahren. In den Ereignissen, die uns echte Hoffnung zum neuen gemeinsamen Leben schenken, können wir Spuren Gottes sehen. Als Europa mit Amerikas Hilfe 1945 den Krieg überwand, wurde es von denen neu aufgebaut, die trotz
der Niederlage nicht gebrochen waren, denen klar geworden war: man muss Frieden unter Feinden schaffen. Theologisch gebildete unter ihnen waren gewiss: Gottes Weg mit Europa ist der Friedensweg. So begann das wunderbare Experiment, die Feindstaaten Deutschland und Frankreich zu verbandeln. Was für große Aussichten der damals mutige Versuch bis heute hat!
Das Evangelium spricht es aus: Die Menschen werden aus Gefangenschaft befreit, ihre Fesseln werden gelöst. Ereignisse, die unter uns die Freiheit herstellen und fördern, sind in theologischer Sicht Spuren Gottes. Der Mai 1945 befreite unser Land aus einem schlimmen Terrorregime, aber nicht für alle im Land. Die 70er Jahre brachten das Ende der Diktaturen in Griechenland, Spanien und Portugal. Die Wende 1989 stieß das Tor der Freiheit für Millionen Menschen im Osten auf. Wer in Freiheit aufgewachsen ist, für den ist das vielleicht zu selbstverständlich, dass er allzu schnell vergisst, dass die eigene Freiheit neben dem Frieden die wichtigste Bedingung gelungenen Lebens ist. Sie ist sogar noch wichtiger als jede Gerechtigkeit, denn ohne eigene Freiheit kann man nicht einmal die erlittene Ungerechtigkeit kritisieren.
Die dritte Säule des Evangeliums beim Propheten ist in unseren Tagen besonders aktuell. Sie verheißt Befreiung von Schulden. Heute sind das unsere Klimaschulden, die wir so lange angehäuft haben und immer weiter anhäufen. Das verheißene „gnädige Jahr des Herrn“ ist das Erlassjahr, in dem unter den Israeliten Gleichheit wieder hergestellt und Schulden erlassen werden sollten, auch wenn das ein Postulat war – aber diese Utopie hat gewirkt. So sind viele Ereignisse, durch die Gerechtigkeit unter uns gefördert wird, Spuren Gottes in der Geschichte.
Diese dritte Säule ist heute besonders bedeutsam, denn fehlende Gerechtigkeit tötet die Freiheit. Freiheit ohne echte Gerechtigkeit: das wäre nur die fortgesetzte Privilegierung der Mächtigen. Wenn die Ungleichheit der Lebenschancen unter uns weiter zunimmt, besteht die große Gefahr, dass die ungerechten Verhältnisse unter uns von denen, die Macht haben und von der Ungerechtigkeit profitieren, durch die Abschaffung der Freiheitsrechte prolongiert werden. Eigentlich verdient Freiheit den Vorrang vor Gerechtigkeit, langfristig ist Freiheit ohne Gerechtigkeit aber unmöglich. Wenn Menschen als einzelne oder wenn ganze Länder oder zukünftige Generationen durch unsere Klimaschulden absaufen, nimmt man ihnen mit ihrer Zukunft auch ihre Freiheit, ihre Zukunft behalten sie nur, wenn wir uns für ihre Gerechtigkeit stark machen und wenn wir unsere Klimaschulden hier abbauen und dort bezahlen. Und unser Land gewinnt seine Zukunft, wenn wir uns Gerechtigkeit etwas kosten lassen – Geld ist genug dafür da.
Der letzte Teil der Botschaft des Propheten ist eine Drohung. Anders als Jesus, der sich bei der Antrittspredigt in Nazareth auf das in ihm erfüllte Evangelium beschränkt, spricht Jes III. vom Tag der Vergeltung, da die Peiniger der Unfreien und ungerecht Behandelten bestraft werden. Die Überwindung von Unfreiheit darf auf die Gerechtigkeit im Umgang mit Verbrechen nicht verzichten, ohne Aufarbeitung werden die Opfer gehindert, Vertrauen in die Freiheit zu fassen.
Auch unser Unrecht muss öffentlich anerkannt werden, wir müssen nicht nur umkehren, sondern auch Buße tun. Und unsere Gesellschaft sollte sich demonstrativ auf die Opferseite stellen – auch um unsere Widerstandskraft gegen Unrecht heute zu erhöhen. Wo unser Land das noch nicht von sich aus schafft, können wir vorbildlich in die Bresche springen. Gerade aus dem AT sollten wir für uns und andere lernen: Wo Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit gefördert werden, sind Gottes Spuren zu entdecken. Erst am Ende wird alle Welt begreifen, dass alles Geschehen das Wirken Gottes ist, auch das, was lange rätselhaft bleibt. Gottes Spuren sind gut erkennbar, wo Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit zunehmen. Und Gottes Spuren in
der Weltgeschichte sind vor allem wir selbst, wo immer wir uns, von der Freude über das Evangelium getragen, uns beharrlich für Freiheit, Frieden und Klimagerechtigkeit einsetzen.
Amen.
Neujahrspredigt über die Jahreslosung Mk 9,24
(gehalten am 1.1.2020)
Liebe Gemeinde,
vor mehr als 80 Jahren hat Dietrich Bonhoeffer, an dessen Tod in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 wir am Gründonnerstag erinnern werden, die diesjährige Jahreslosung zur Predigt bei einer Konfirmation genutzt. Ich will mit dem Verweis auf diese Ansprache (gehalten am 8. April 1938 in Kieckow, sieben Jahre und einen Tag vor seiner Ermordung am 9. April 1945) eine zweite Stimme für unsere eigenen Gedanken zur Jahreslosung hörbar machen. Idealerweise schallt es aus dem Wald so wieder heraus, dass wir etwas für uns selbst lernen, was wir auf der Wanderschaft durch unser Leben in ein nächstes Jahr im Glauben beherzigen können.
Nachdem den Nationalsozialisten begriffen hatten, dass Bonhoeffer zum politischen Widerstand gegen ihre Diktatur gehörte, wollten sie, dass er ihr Terrorregime nicht überlebt. Hitler selbst ordnete die Hinrichtung an, ein sogenanntes Gericht fand sich, ein Unrechtsurteil wurde gesprochen, ein Justizmord vollstreckt. Aber auch schon viel früher war der junge Theologe,
1906 in Berlin geboren, mit Drang in die Welt hinaus den Machthabern ein Dorn im Auge. Er hat die Bekennende Kirche unterstützt, die auch in Starnberg Versammlungen abgehalten hat, über die zu lesen ich in den kommenden Monaten in unser Gemeindearchiv hinaufsteigen will (es ist in einem Zimmer unterm Dach des Gemeindesaales untergebracht). Und besonders hat sich Bonhoeffer dagegen gewandt, dass sogar in der Kirche die stattlichen Unrechtsregeln gegen die jüdische Bevölkerung angewandt würden.
Ab 1935 war Bonhoeffer für die Ausbildung angehender Pastoren im Predigerseminar in Zingsthof verantwortlich, von wo man im Juni nach Finkenwalde (heute ein Ortsteil in Stettin) umzog. In der Praxis gemeinsamen Lebens entwickelte Bonhoeffer seine Vorstellung davon, dass die Kirche nicht nur eine konkrete Gemeinschaft von Menschen, sondern auch der reale Leib Christi auf Erden ist. Im Jahr 1937 schloss der NS-Staat das Seminar, das fortan illegal geführt wurde. Bonhoeffer war offiziell Hilfsprediger bei Superintendent Eduard Block in Schlawe, mit dessen Unterstützung führte er die getarnte Vikarsschulung in Köslin und Groß Schlönwitz, später im Sigurdshof weiter, bis im März 1940 auch hier die Gestapo zugriff.
Bonhoeffers Ansprache vom April 1938 richtet sich also nicht nur an die damaligen Konfirmanden, sie spricht auch grundsätzlich in die Situation der damaligen Zeit des bevorstehenden Krieges. Ich finde, dass die Gedanken Dietrich Bonhoeffers heute wieder sehr wertvoll sind. Der Leitsatz, der dieser Predigt zugrunde liegt, ist das Bibelwort, das die „Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen“ (ÖAB), ein Zusammenschluss 24 christlicher Dachverbände, darunter auch die römisch-katholische Kirche, als Jahreslosung für 2020 ausgesucht hat, wie sie das seit 1970 in dieser Form tut: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9,24)
Glaube und Unglaube – anders als man es gewohnt ist, anders als viele es selbst sagen würden, ist für Bonhoeffer der Glaube an Gott kein Grund zum Zweifel, eher ist er unsere Aufgabe. In einer Situation, von der viele später sagen, dass man nicht gewusst hätte, wie man damals gehandelt hätte, wie mutig man gewesen wäre, ob wir dem diktatorischen Rad in Deutschland auch in die Speichen gegriffen hätten, sagt Dietrich Bonhoeffer den Konfirmanden:
Gerade weil heute alles darauf ankommt, dass wir wirklich Glauben halten, vergeht uns alle Lust zu großen Worten. Ob wir glauben oder nicht, das wird sich zeigen; mit Beteuerungen ist da gar nichts geholfen … Große Beteuerungen, und mögen sie noch so aufrichtig, noch so ernst sein, sind immer der Verleugnung am nächsten.
Auf die Beteuerung „ich glaube“ kommt es demnach zum Wenigsten an. Am Beispiel der Verleugnung des Jüngeranführers Simon Petrus ließe sich zeigen, dass es nicht hilft, großartige Versprechungen über den Glauben abzugeben und sich darauf zu verlassen, sie einzuhalten. Es geht vielmehr darum, dass das, was ein Mensch von Glauben an Gott erfasst hat, auch prägend wird. Dass der Glaube, den Gott uns schenkt, in unserem Leben und in dessen Alltag praktisch wird. Es kommt nicht darauf an, einen Glauben zu haben, sondern den Glauben zu halten. Die Probe aufs Exempel wird täglichen Leben bestanden, wenn dort der Glaube wirkt. Verschwindet er alsbald, weil unsere natürlichen Reflexe wie Flucht oder Angriff zupacken? Oder hilft er uns, lässt uns zum Vertrauen auf Gott finden, der uns den Glauben jeden Morgen zusprechen will und uns dazu schon vor dem Spiegel im Badezimmer an die Taufe erinnert?
Euer Glaube ist noch schwach und unerprobt und ganz im Anfang. Darum, wenn ihr nachher das Bekenntnis eures Glaubens sprecht, so verlasst euch nicht auf euch selbst und auf all eure guten Vorsätze und auf die Stärke eures Glaubens, sondern verlasst euch allein auf den, zu dem ihr euch bekennt, auf Gott den Vater, auf Jesus Christus und auf den Heiligen Geist.
Bonhoeffers Satz von der Schwachheit des Glaubens ist an jugendliche Glaubensschüler gerichtet. Damals wusste man noch nicht viel darüber, dass auch junge Menschen beherzt glauben, nur eben anders als früher als Kinder und später als Erwachsene. Mir scheint diese Einsicht, ohne sie zur Diagnose oder als Defizit zu etikettieren, auch für unsere Zeit passend. Vor Jahren hat die kirchliche Pädagogik von der „stillen Reise“ der Menschen in den mittleren Jahren gesprochen, um zu erklären, warum es Paten gibt, die kein Interesse daran finden können, ihre Kinder zu begleiten, wenn sie als Konfirmanden zum Gottesdienst kommen. Offensichtlich hat sich diese „stille Reise“ auf viele weitere Lebensphasen ausgedehnt, manchmal beginnt sie schon sehr im Stillen und neigt eher zum Schweigen als zum Bekenntnis. Ich bin froh, dass zum Glaubenskurs, den wir in der Gemeinde regelmäßig anbieten, Menschen den Mut finden zu kommen, die das Gefühl haben, mehr über ihr Fundament wissen zu wollen. Wie freilich Eltern und Paten der nächsten Konfirmandengruppe reagieren werden, denen ich beim ersten Treffen das Angebot zum Glaubensgespräch begleitend zum Konfi-Kurs machen möchte?
Der öffentliche Glaube tritt in der Gesellschaft eher schwach auf. Als persönliche Überzeugung sei er Privatsache, heißt es, und scheint von mächtigen Dämonen bedroht, die ihn zu oft Mores und schweigen lehren, zumal er sich nicht immer leicht in Worte fassen lässt. Ein vermehrt auftretendes Kreuzzeichen beim Schlusssegen einer Beerdigung zeigt mir manchmal, dass die Trauerfeier den Menschen Mut gemacht hat, den Glauben durch ein Symbol auszudrücken. Für viele freilich ist der christliche Glaube etwas, das unter der missverständlichen Überschrift, er habe ein ganzes kirchliches Lehrgebäude im Schlepptau, zur Überforderung erklärt wird. Oftmals wird er von den Menschen, die ihn zu wenig kennen, als antiquiert empfunden, über die Sätze im gottesdienstlichen Glaubensbekenntnis wird durch dazu Schweigen abgestimmt.
Und selbst wenn wir anderen zeigen, dass wir Christen sind, auch wenn wir heute den Glauben der Väter mitsprechen und uns bekennen zu Gott, dem Vater, dem Sohn, und dem heiligen Geist, wissen viele Menschen gar nicht so recht, ob sie wirklich den Glauben in der Größe haben, wie sie ihn für gefordert halten. Es käme darauf an, sich darauf zu verlassen, dass das, was wir vom Glauben verstanden haben, unser Handeln und Leben prägt, und, so Gott will, durch neue Gedanken erweitert wird, und zwar immer und einzig durch Gott selbst. Denn unser Gott allein ist es, der in uns den Glauben weckt. Das Testat der Schwachheit meines Glaubens ist ein Hinweis auf eine menschliche Selbstverständlichkeit, diese Schwäche liegt in unserer Natur, alles andere als ein schwacher menschlicher Glaube wäre wohl Angeberei. Vielmehr fordert uns die Jahreslosung dazu auf, die Quelle unseres Glaubens in Gott zu entdecken, an ihr dranzubleiben und so auch unseren Glauben zu fördern. Dazu ermuntert auch Bonhoeffer:
Wir wollen dankbar sein, dass Gott uns diese Stunde gemeinsamen Bekennens in der Kirche schenkt. Aber ganz ernst, ganz wirklich wird das alles eben doch erst nach der Konfirmation, wenn der Alltag wieder da ist, das tägliche Leben mit all seinen Entscheidungen. Da wird es sich dann zeigen, ob auch der heutige Tag ernst war. Ihr habt einen Glauben nicht einfür allemal. Euer Glaube, den ihr heute bekennt von ganzem Herzen, der will morgen und übermorgen, ja er will täglich neu gewonnen sein. Glauben empfangen wir von Gott immer nur so viel, wie wir für den gegenwärtigen Tag gerade brauchen. Der Glaube ist das tägliche Brot, das Gott uns gibt … Ein Tag ist genug, um Glauben zu bewahren. Es ist an jedem Morgen ein neuer Kampf, durch allen Unglauben, durch allen Kleinglauben, durch alle Unklarheit und Verworrenheit, durch alle Furchtsamkeit und Ungewissheit zum Glauben hindurch zustoßen und ihn Gott abzuringen.
Liebe Gemeinde, diese Sätze vom Prediger Bonhoeffer sind für eine bestimmte Situation zugespitzt worden, in der das Christentum durch den Staat in der Existenz bedroht war. Heute ist es ja eher die Indifferenz und Gleichgültigkeit der Menschen, die nie erfahren haben, was der Glaube für Kraft gibt. Der Glaube ist auch heute kein Besitz, schon gleich gar nicht einer der Kirche oder der Christen. Er ist eine geistige Grundnahrung, die immer von neuem von Gott erbeten werden kann: „Unseren täglichen Glauben gib uns heute“, so lautete das entsprechende Gebet, formuliert wie eine weitere Bitte im Vaterunser, einzuordnen am besten vor „führe uns nicht in Versuchung“ und erst recht vor „erlöse uns von dem Bösen“.
„Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ – das sollten wir den Menschen heute mit allen geeigneten Mitteln erlebbar machen: Es gibt eine wahrhafte Alternative zur Angst und zur immerwährenden Sorge und Rastlosigkeit im Leben, sie heißt Vertrauen auf Gott, sie ist der Glaube an Gott. Es kommt darauf an, diese Alternative in unserem Leben wahrzunehmen. Das tägliche Brot des Glaubens besteht darin, uns das Vertrauen ins Leben heute neu schenken zu lassen, wie es die Neujahrsansprachen auf säkulare Weise irgendwie ja auch intonieren. Unser Pfund ist das geistliche, das gehört in die Waagschale. Jeden Tag können wir uns und die Menschen daran erinnern, dass Gott uns glaubt und deshalb wir uns und anderen vertrauen können.
So ist es dann auch uns möglich, den Glauben festzuhalten, weil er uns zugeworfen wird wie ein Ball, den wir fangen. Schön, wenn wir einfach so zugreifen wie ein Kind. Gut, wenn das Kind es von den Eltern abschauen kann. Kein Problem, wenn wir den Ball wieder fallen lassen, er rollt zurück zu Gott und der wirft ihn erneut. So wirft Bonhoeffer seinen Konfirmanden den Ball zu, sie sollen fangen, festhalten und erkennen, was ihnen damit in die Hände gefallen ist:
Aus dem ‚Wir glauben‘ muss von nun an immer mehr das ‚Ich glaube‘ werden. Der Glaube ist eine Entscheidung. Darum kommen wir nicht herum. ‚Ihr könnt nicht zwei Herren dienen‘. Ihr dient von nun an Gott allein oder ihr dient Gott überhaupt nicht. Ihr habt nun nur noch einen Herrn, das ist der Herr der Welt, das ist der Erlöser der Welt, das ist der Neuschöpfer der Welt. Ihm zu dienen ist eure höchste Ehre. Zu diesem Ja zu Gott gehört aber ein ebenso klares Nein. Euer Ja zu Gott fordert euer Nein zu allem Unrecht, zu allem Bösen, zu aller Lüge, zu aller Bedrückung und Vergewaltigung der Schwachen und Armen, zu aller Gottlosigkeit und Verhöhnung des Heiligen. Euer Ja fordert ein tapferes Nein zu allem, was euch daran hindern will, Gott allein zu dienen und sei es euer Beruf, euer Besitz, euer Haus, eure Ehre vor der Welt. Glaube heißt Entscheidung. Aber eure eigenste Entscheidung! Kein Mensch kann sie euch abnehmen.
Der christliche Glaube verwirklicht sich im Alltag in Entscheidungen. Mir selbst geht es so, dass ich vorab oft gar noch nicht weiß, welche Entscheidungen das in Zukunft sein werden. Ich habe keine Ahnung, vor welche großen Herausforderungen uns oder auch nur mich persönlich das heute beginnende Jahr stellt. Ich bin überzeigt, dass die Vakanz auf den Pfarrstellen eine logistische Herausforderung sein wird, aber doch nicht eine Anfrage im Glauben! Ich werde getrost an jedem Morgen neu dem lieben Gott das hinhalten, was ich tun kann, und er wird draus machen, was er mag – und das wird dann für meinen Teil schon ausreichen müssen. Und das wird vielleicht sogar eine Chance sein, in 2020 auf geistliche Weise zu wachsen.
Vermutlich wird es auch in diesem Jahr Situationen geben, in denen wir vor Weichenstellungen ankommen. Es wird immer die Alternative geben zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Gerechtigkeit und Unterdrückung, zwischen Frieden und Gewalt. Ich habe gestern einer jüdischen Freundin in Starnberg versprochen, dass ich mich – wenn nötig auch öffentlich – hinstellen, wenn Antisemitismus und in seinem Gefolge welche Weltanschauung und Politikausrichtung auch immer den gelebten Glauben an Gott anfeinden will. Was auch in viel kleineren Streitigkeiten von uns erwartet werden kann, ist der Glaube an das Ja zum Leben. Dieses Ja gründet in Gott und seinem Ja zu uns. Und es begründet unser Ja zu den Menschen.
Dieses Ja Gottes mögen wir fröhlich aufgreifen, es leben und wo möglich verkörpern, indem wir vertrauen. Dieses Ja geben wir weiter, indem wir den christlichen Glauben praktizieren. Dazu gehört es auch, der Verneinung des Lebens zu widersprechen, nein zu sagen zum Abschneiden von Chancen, nein zur Vernichtung von Leben durch Technik und Industrialisierung, nein zur Gedankenlosigkeit und Lieblosigkeit im digitalen Umgang miteinander. Durch unsere Entscheidungen zum Ja zum Leben und zum Nein gegen Hass und Tod, die wir treffen, wird unser Glaube zu einem Weg. Zum Weg, zu dem Konsequenzen gehören. Deshalb braucht unser Glaube immer auch die Hilfe Gottes gegen den Unglauben, der uns aufhilft, wie die Lichtgestalt auf unserem Lesezeichen.
Zukunftsrelevant im Glauben ist, dass uns nichts von außen vorgeschrieben wird. Es sind unsere persönlichen Entscheidungen, die wir auf der Grundlage unserer Werte und in Wort und Wahrheit grundierten Überzeugungen treffen. Der praktische Glaube wird wirksam im Entschluss für das Gute. Dazu braucht unser Glaube vor allem Beharrlichkeit:
Euer heutiger Glaube ist ein Anfang, kein Abschluss. Ihr müsst erst in die Schrift hinein und ins Gebet hinein, ihr ganz allein. Und ihr müsst lernen, euch mit der Waffe des Wortes Gottes zu schlagen, wo es nottut. Christliche Gemeinschaft ist eine der größten Gaben, die Gott uns gibt. Aber Gott kann uns dieses Geschenk auch nehmen, wenn es ihm gefällt, wie er es vielen unserer Brüder heute schon genommen hat. Dann stehen und fallen wir mit unserem eigenen Glauben. Einmal aber wird jeder von uns in dies Alleinsein gestellt werden, auch wenn er ihm sein Leben lang aus dem Weg gegangen ist, in der Stunde des Todes und des Jüngsten Gerichts.
Praktisch gibt es für den Glauben eine Stärkung, nämlich das Wort Gottes. Für mich sind es bestimmte Worte und Bibelzitate, die mein Leben begleiten wie der Konfirmationsspruch. Jeder Mensch, in dem der Glaube sich mit einem Bibelwort verknüpft und fängt, wird zum Träger des Wortes, zur Evangelistin, zum Verkündiger und zur Verkündigerin, vor allem im persönlichen Bereich. Ich fände hier eine echte Glaubenskrise, wenn wir im persönlichen Bereich vom Glauben schweigen. Unser Glaube wird seine Zukunft entfalten, wo wir selbst zu Trägerinnen und Trägern des Evangeliums werden und selbst über unseren Glauben zu sprechen lernen.
Euer Glaube wird in schwere Versuchungen geführt werden. Auch Jesus Christus wurde versucht, mehr als wir alle. Es werden zuerst Versuchungen an euch herankommen, Gottes Geboten nicht mehr zu gehorchen. Mit großer Gewalt werden sie euch bestürmen … Das muss alles so kommen, so gewiss euer Glaube lebendig ist.
Wäre der Glaube ein ständiger Kampf mit stetiger Gefahr der Feindberührung? Bonhoeffer heute verstanden – in seiner Zeit war der kommende Weltkrieg ja absehbar – geht es um die Versuchung, uns den Glauben abspenstig zu machen. Das würde bedeuten, dass in meinem Leben Angst und Unsicherheit die Überhand gewinnen. Wir können erwarten, auch in unserer Unsicherheit und Angst von Gott begleitet zu werden.
Gut an Versuchungen könnte am Ende gewesen sein, dass wir dann dem Glauben nicht mehr ausweichen können. Not und Leid und Trauer verdeutlichen uns dann, was ein Leben ohne das Ja Gottes wäre. Unser Alltag strotzt nicht ständig vom Leid, aber es gehört zu unserem Leben. Im Laufe eines Jahres komme ich mit vielen Menschen in Berührung, die aktuell leiden. Und ich habe oft wenig Trost zu bieten, sondern leide in der Regel mit. Der menschliche Glaube wird in der Not schwach und zweifelt, aber die Schwachheit des Glaubens ist am Ende seine Stärke. Wenn wir erleben, dass andere Menschen mit uns leiden, dann können wir sehr konkret dadurch spüren, wie Gott uns hält und dass wir von ihm nicht mehr loskommen.
Gott schickt seinen Kindern das Leid gerade dann, wenn sie es am nötigsten brauchen, wenn sie allzu sicher werden auf dieser Erde. Da tritt ein großer Schmerz, ein schwerer Verzicht in unser Leben, ein großer Verlust, Krankheit, Tod. Unser Unglaube bäumt sich auf. Warum fordert Gott das von mir? Warum hat Gott das zugelassen? Warum, ja warum? … Keiner kommt um diese Not herum. Es ist alles so rätselhaft, so dunkel. Und gerade in dieser Stunde der Gottverlassenheit dürfen und sollen wir dann sprechen: ‘Ich glaube; hilf meinem Unglauben‘!
Möge es unseren Glauben in diesem Jahr größer und stärker machen, dass wir ihn von allen Seiten, zur Not auch von seiner Schwäche her, kennenlernen. Dazu gehört, dass wir uns nicht nur auf den zweiten Teil der Jahreslosung berufen, die nach Hilfe im Unglauben ruft. Sondern wir können in diesem Jahr wieder lernen, dass wir in Gott durch Jesus Christus genug Grund haben, zu bekennen: „Ich glaube!“, weil Gott uns diesen Glauben schenkt und ihn in uns durch Erfahrung reifen lässt, damit er erneut wirksam wird durch uns.
Amen.