Predigten von 2020
Hier finden Sie die Predigten, die ich zuletzt in Starnberg oder einer der benachbarten Kirchengemeinden gehalten habe.
Zwei Sammelbände mit Predigten habe ich zudem im Fromm Verlag veröffentlicht:
- „Nach der Kraft, die in uns wirkt“ (Epheser 3,20). Starnberger Predigten, 2017
- „Du tust mir kund den Weg zum Leben“ (Psalm 16,11a). Lied- und Psalmenpredigten, 2018
Bitte melden Sie sich, wenn Sie daran Interesse haben: Tel.: 0173 2646401 oder E-Mail: stefan.koch(@)elkb.de
Predigt über Ex 13,20-22
(gehalten am 31. Dezember 2020, in der Friedenskirche Starnberg)
Liebe Gemeinde,
der letzte Abend dieses Jahres beginnt, es stehen uns die eigentümlichen Stunden zwischen 20 und 21 bevor. Eigentlich passiert wenig Neues: In diesem Jahr erst recht, da wir uns auch im Hineinfeiern beschränken. Zudem viele, die sonst auch hierher in die Kirche gekommen wären, sich lieber in Sicherheit daheim wähnen. Freilich, unsere Jungen treffen sich trotzdem zum Feiern und sie empfinden keine Freude an fehlenden Böllern. Auch wir Ältere haben uns angewöhnt, am Datumswechsel mit Blick zum Himmel innezuhalten. Als Kinder dachten wir, man darf den Abend nicht verpassen und der Opa muss einen doch aufwecken, wenn man verfrüht einschläft. Heute wissen wir, der Übergang ist fließend.
So erleben wir erneut einen Altjahresabend in einem Leben zwischen feststehen und aufbrechen; Tradition und anders neu anfangen, mit freudigem Erwarten und ängstlichem Harren, was kommen mag in einem Jahr, das wir mit einer schnellen 21 abkürzen können. In wenigen Stunden beginnt der Januar, der seinen römischen Namen vom zweigesichtigen Gott hat, der zugleich zurück in die Vergangenheit und nach vorne in die Zukunft zu spähen vermag. Als Janus um die Zeitenwende das Monatsregiment übernahm, wechselte der Jahresbeginn vom März, im Frühling, in den Winter, Ende Dezember. Seitdem schaut man zwischen Dezember und Januar zurück und vor. Und will wenigstens ein wenig nach den Sternen greifen.
Kaum jemand wird morgen noch zurückblicken wollen auf 2020, zumal diese Rückschau seit dem März vielfach so unerfreulich ausfällt. Ich muss mich bemühen, den vergangenen Monaten insgesamt etwas abzugewinnen mit bleibender Bedeutung fürs Land. Wir haben zusammengehalten, heißt es. Wir werden stärker, wenn wir getestet werden, verlauten die US-amerikanischen Freunde, die es nach der Biden-Wahl wohl wieder sind, wie immer im Brustton der Überzeugung. Überwiegend freilich war es aber doch für die verwundbaren Menschen unter uns, also für uns alle, ein schlimmes Jahr. Wir mussten es erleben, als wären wir wieder eine Kriegsgeneration: sterbenskranke Menschen und Pflegepersonal hinter Folie, Sargmengen, maskierte Gestalten allenthalben, Einsamkeit hinter Heimfenstern. Vieles wird im Rückblick von solchen Bildern geprägt, zuletzt nun von den Hoffnungsschnappschüssen der sehr bedächtig beginnenden Impfungen, die irgendwann auch zu unserer eigenen Erfahrung werden, wenn wir dann die Schulter freimachen dürfen und die Nadel dort oben einsticht, wo wir als Kinder gegen alles Mögliche gefeit wurden.
Zu diesen schaue ich auch meine persönlichen Bilder. Wege, die ich gegangen bin oder gegen meinen Willen geschickt wurde. Viele Zugfahrten. Das herrliche Laufen, als im Juli endlich einmal ein kurzer, aber entscheidender Urlaub möglich war. Viele Abschiede, mehr als mir gut getan haben. Freunde, die ich verloren habe, Friedhofsgänge. Rund um Sylvester drängen sich in Grußkarten und Gesprächen am Telefon die Fragen nach der persönlichen Zukunft in den Vordergrund, die ich so langsam besser beantworten kann. Viel Ungewissheit ist dabei, die persönlich auszuhalten bleibt: Krankheiten von lieben Menschen, die einen bedrücken. Aber auch so viel Gutes: Geburten, die sich anzeigen, nachgeholte Hochzeitsfeiern …
Wir sind unterwegs zwischen gestern und morgen, an Sylvester wird man dessen besonders inne. Alle Jahreswege, die wir gegangen sind, können wir heute Abend mit Hilfe eines kleinen Textes aus dem zweiten Buch der Bibel noch einmal von einer anderen Warte aus betrachten. Und damit kann ich mich zugleich lösen von schweren oder schönen Themen, kann hören, welchen Blick auf das Leben uns der Text aus dem AT bietet. Wir schauen auf die Perspektive, die Gott uns öffnet, wenn wir auf ein altes Wort horchen um eine neue Zeit zu begreifen. Der Predigttext für den Altjahresabend steht im zweiten Buch Mose/Exodus im 13. Kapitel:
So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht von dem Volk.
Man denke sich, wer da unterwegs ist: es ist das Volk Gottes, das sein Ägypten verlassen darf. Nun startet eine neue Etappe auf dem Weg Israels aus der Sklaverei in die Freiheit, die Freiheit des Bundes mit Gott. Sie tun allererste Schritte auf das verheißene Land zu, in der Hoffnung, dort dann in Frieden wohnen zu dürfen. Unser Text erzählt vom Aufbruch am Anfang. Die Menschen Gottes folgten dem Ruf und wanderten weg aus der oberägyptischen Baustellenstadt Ramses, sie ziehen zunächst nach Sukkot. Noch lässt Ägyptens Pharao sie einfach gehen, das ändert sich dann. Die Verfolgung ihres Zuges durch die Militärmacht vom Nil und der Durchweg durchs Schilfmeer samt Ersaufen von Wagen und Ross Ägyptens folgen bald. Gott führt sein Volk aus Ägypten und bringt sie zunächst nach Etam, an den Rand der Wüste.
Der hebräische Name des Ortes heißt übersetzt „Grenzbefestigung“. Man ist noch vor ihr, man könnte noch zurück! Das Gewohnte daheim bleibt in Sichtweite – liminal nennt man diese Perspektive, nach den römischen Grenzwällen der germanisch-raetischen Region zwischen Rhein und Donau und seit Hadrian im Norden von Britannien. Ein Blick zurück? Mag sein. Der Weg zurück? Nein, es gibt nun keinen Richtungswechsel mehr! Gott geht vor seinem Volk her am Tag in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, um Tag und Nacht in ihre Zukunft zu laufen.
So wie Israel diese Glaubenserfahrung diesseits und dann jenseits der Grenze gemacht hat, dass nämlich unser Gott und seine guten Mächte treu mit seinem Volk unterwegs sind, dass Gott Israel nicht nur einmal, sondern immer wieder befreit von allem, was es zu lange festhält, die gilt auch für uns: Gott leitet uns auf allen Übergängen, vom Alten ins Neue, das wir heute und morgen bewältigen. Gott ist das helle Licht auf unserem Weg, der seelische Sonnen- und Regenschutz nicht nur bei Tag. Gott geht mit in den Tag- und den Nachtzeiten unseres Lebens; und im Grauen des Alltags am Morgen auch. Wir können unsere Erschöpfung vor Gott bringen, unsere unaufgeräumten Ecken, ebenso unsere lethargische Langeweile. Unsere guten Gespräche daheim, aber auch die Stunden, in denen wir nichts getan, die Zeit verdaddelt haben.
Entscheidend ist, dass wir das Vertrauen spüren, das Gott uns ermöglicht. Das Urvertrauen: Gott geht mit uns sogar in die Wüste und später auch noch mitten durchs Meer, es kommt in der biblischen Geschichte ganz selbstverständlich daher. Man mag fragen, woher glaubende Menschen wie wir die Gewissheit nehmen, dass diese Zusage Gottes denen damals wie uns heute, Israel und der Kirche, Moses und mir, gilt. Ein Jahresrückblick 2020 könnte ja in religiös-theologisch-kirchlicher Hinsicht auch als ein Krisenstenogramm rund um den Gottesdienst und den Bedeutungsverlust von Kirche erfolgen – wenn sogar der eigene Landesbischof von Weihnachten, das wir vor Ort mühsam, aber getreu aufrechterhalten, quasi entschuldigend als etwas spricht, was wir ja eigentlich nur wegen der Schwachen unter den Schäfchen machen …
Aber nicht die Kirche ist es, der wir vertrauen sollten, müssen oder könnten. Gott ist der Bezugspunkt. Er zeigt sich nicht als Allmächtiger, der wie ein Blitz von oben her alles ausleuchtet und mit überirdischer Energie hie (die andren) straft und dort (uns) belohnt. Gott wird deutlich als Weggenosse, Vertrauter, der sogar in ihrer Not die Nähe der Menschen sucht, mitleidet und am Ende dafür stirbt, dass es für uns nie nicht ganz aus ist, dass Wege auch in Sackgassen offen bleiben. Unser Gott ist der, der mitgeht gerade auf dem Weg durch die Wüste, in elender Einsamkeit und eremitischer Einsiedelei, selbstgewählt oder aufoktroyiert. Überall geht dieser Gott mit, auch wo es im biblischen Erzählszenario für das Gottesvolk mancherlei Anlass für Vorwärtsdrang hindernde Zweifel und rückwärtsgewandte Klagen gibt. Gott ist mit auf dem Weg, er geht uns voran. Er geht voran, um uns mit sich zu ziehen. Unser Gott will auf Erden wirken durch unsere Energie und unser Weggeleit, zu dem wir uns durch ihn anstiften lassen. Sein Vertrauen sollen wir weitergeben wie einen Schluck Wasser in der Wüste.
Wir wissen alle, dass wir noch nicht in verheißenem Land angekommen sind. Gott ruft uns heute auf den Weg, damit wir morgen aufbrechen und uns auch vom Blick in die Wüste und sogar auf tosende Meereswogen nicht entmutigen lassen. Gott zieht uns heute Abend ins Vertrauen, damit wir morgen erleben, wie unser Vertrauen ins Laufen kommen kann, wo wir es wagen und selbst schenken. Vertrauen wächst und verfestigt sich zur Zuversicht, wo wir erleben, dass es liebevollen Grund unter suchenden Füßen ertastet und mutig werden darf.
Wer in das neue Leben an Gottes Seite aufbricht, hat womöglich auch einmal eine Wüste vor sich. Natürlich warten Probleme und Gefahren von außen auf uns, die bewältigt sein wollen. Ein gewisses Virus mutiert vermutlich noch oft, Impfstoffe wirken nicht immer zu 95%, sind knapp und es dauert, bis wir dran sein werden. So könnten uns Zweifel im Innern beschleichen, die wir miteinander überwinden müssen und überwinden werden, gemeinsam mit Gott.
Es mag sein, dass wir heute noch nicht ahnen, wo genau die Menschen um uns herum, die es am meisten brauchen, neues Vertrauen hernehmen, und wie wir es ihnen aus unserem Vorrat auftanken. Aber „niemals wich die Wolkensäule bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht von dem Volk“. Gott ist beständig dabei. Gott leitet Israel und uns auf dem Weg in die Zukunft, Tag und Nacht. Und wir gehen mit, schauen nicht dauernd zurück, sondern vertrauen Gott.
Liebe Gemeinde, im zweiten Teil der Bibel, in unserem Neues Testament, wird unser Gott, der die Not der Menschen aufsucht, um sie zu lindern, der in Wolken- und Feuersäulen mitgeht, und der mit den Durstigen und Bekümmerten mitleidet, nicht mehr vom Auszug aus Ägypten, sondern beständig von der Geschichte Jesu her begriffen. An den Weihnachtstagen haben wir es in dieser Kirche lebensgroß dargestellt, dass im Krippenkind Gott in Person und mit ihm die Freude in unsere Welt kommt. Gott sucht die zwischenmenschliche Nähe, begibt sich persönlich ins Leiden der Menschen hinein. Wer Gott sucht, wird Gott an seiner Seite finden, wo er aufs eigene Herz hört und auf die größeren Wege im Leben schaut. Gott will, dass wir wissen und damit rechnen, dass er in seinen guten Mächten an jedem Abend und jeden Morgen persönlich mit uns ist. Von daher können wir das persönliche Maß auch für unser Vertrauen und für unsere Liebe zu dem Menschen nehmen, dem wir sie täglich neu schenken wollen.
Erfahrungsgemäß – auch das zeigt die lange und ereignisreiche Geschichte vom Auszug Israels aus Ägypten – ist der Weg Gottes mit uns nicht gradlinig. Immerhin zeigt Gott die Richtung an. Er zieht auf dem Weg voran, das wandernde Gottesvolk folgt. Es wäre nicht der Weg Gottes, wenn wir uns als Nation erneut verengten, als Landkreis und Stadt uns entzweiten, als Kirche uns durch Abgrenzung definierten, als Gemeinde nicht auf alle Teile achteten, als Diakonie mehr streiten würden als helfen, als Pfarrer uns in den Vordergrund drängten, als Gemeindeglieder die Flinte ins Korn werfen würden und wegblieben. Der Weg Gottes ist hingegen Verständigung, Solidarität, Ökumene, Einheit der Glieder, Einigkeit in allem Unterschied, die Sichtbarkeit des Evangeliums, das Mittun da, wo wir gebraucht werden, so wie wir sind.
Der Weg Gottes ist – auch das kann man bei Jesus besonders deutlich sehen – konkret immer ein Weg an der Seite derer, die Not leiden und in Bedrängnis sind, unverdient oder verschuldet. Das bedeutet für das wandernde Gottesvolk, dass wir von Gott lernen sollten, nicht nur um unserer selbst, sondern auch um der Armen und Bedrängten willen aufzubrechen. Gottes Vorliebe für die Armen, Unterdrückten, Ausgegrenzten gibt die Richtung des Weges vor. Daran will der erste Geschichtsschreiber der hebräischen Bibel gemahnen, dem wir wohl sogar die gesamte, so groß ausgreifende Erzählung von der Planung des Auszugs aus Ägypten (Ex 3) bis zum Durchzug durch den Jordan ins gelobte Land (Jos 6) über fünf biblische Bücher hinweg verdanken. Aufgeschrieben wurde diese Geschichte in der Zeit staatlicher Sicherheit im Lande Juda unter großen Königen wie David und Salomo. In einer Zeit, in der sich die eigene militärische Macht, der königliche Reichtum, ein traditionsbewusstes Beamtenwesen, das politische Ansehen und die wirtschaftliche Sicherheit für die Herrschenden im Land etabliert hatten.
In dieser Situation, in der man zufrieden auf das schauen kann, was man erreicht hat, nun an den Aufbruch aus den Ketten des Gewohnten zu erinnern, in einer solchen Situation danach zu rufen, Gott an die Seite der Armen zu folgen, war damals ein mutiger Entwurf eines seiner eigenen Zeit dadurch kritische Impulse gebenden Denkers. In unserer Situation ist die Entsprechung dafür das radikale Vertrauen, dass wir, wo Gott es will, im kommenden Jahr ebenso aus Gewohntem aufbrechen, vielleicht ohne heute schon zu wissen wohin genau und konkret. Zu sicher fühlen wir uns derzeit zwar nicht. Leicht fällt ein Aufbruch mit Gott den meisten Menschen dennoch nicht, weil viele Erreichtes für zuverlässiger halten als zu sehen, wohin Gott führt. Wenn wir nun Gott folgen und aus unserem derzeitigen Ägypten aufbrechen, in welche Richtung gehen wir? Wir lagern heute hier, um uns klar zu machen, dass der Blick zurück zu den bisherige Fleischtöpfen und in die dortige Ruhe nicht mehr unsere Orientierung ist. Wir alle wissen um die Nachtzeiten im Leben. Wenn man schon nicht einschläft, dann auch noch wiederholt aufwacht und erst gut zu schlafen beginnt da die Helligkeit sich zeigt – es gibt derart dunkle Verhältnisse in dieser Welt, die einem manchmal sogar den Glauben an die Gegenwart Gottes schwer machen könnten. Die Bibel und unser Predigttext und viele der lieben Lieder der heutigen Altjahresgelegenheit wollen uns vergewissern: Gott geht mit uns am Tag und eben auch in der Nacht, am Abend und am Morgen, und seien sie in Schmerzen, Kummer oder Liebesleid durchgewacht. Es wird – neben all den überoptimistischen Ausblicken auf ein Jahr 21, in dem angeblich alles Gute nachgeholt wird, was zuletzt entfallen musste – es wird Nachrichten geben in der kommenden Zeit, die uns durchschütteln werden. Todesfälle und Abschiede, die wir nicht haben kommen sehen. Veränderungen, die uns wehtun. Kompromisse, die schmerzen. Unnötige Fehler. Überhöhte Erwartungen, mühsam abgehobelt. Es wird genug Gelegenheiten geben, um persönlich, miteinander und als Gesellschaft charakterlich unter Schubschmerzen zu wachsen. Aber Gott führt uns nicht nur an, sondern auch durch die Wüste, Gottes treue Mächte begleiten uns immer wunderbar und bis ins gelobte Land.
Wir durften uns im vergangenen Jahr vielfach sehr unverhofft auf Gottes neue Wege rufen lassen, aufbrechen aus Ägypten, hinter uns lassen, was träge machen und niederdrücken wollte. Wir durften mitgehen an der Seite derer, die Not leiden und deren Not wir erkennen. Wir durften uns selbst dabei neu entdecken und ich habe begriffen, dass Gottes mich verändern kann. Wir sollen nun erneut mitgehen, dorthin wo Gott uns behutsam oder beharrlich leitet, indem er sein Vertrauen in uns legt, damit wir dieses Vertrauen weitergeben an Menschen ohne Zuversicht. Ich kann Ihnen heute nicht sagen, vor welche Herausforderung Gott uns persönlich und auch uns gemeinsam stellt, ich weiß es ja von mir selbst nur in recht groben Zügen, manche Idee dafür habe ich im Blick auf unsere Gemeinde schon einmal veröffentlicht.
Ich bin mir für Sie und für uns und für mich persönlich aber ganz gewiss, dass wir mutig sein dürfen. Und dass wir uns keine Sorgen um uns selbst zu machen brauchen, um unser Glück und die Sterne, nach denen wir Ausschau halten, um nach ihnen zu greifen. Wo her diese Sicherheit, ja diese Gewissheit? Unser Gott ist auch im kommenden Jahr bei uns, von Anfang an, ab dem ersten Schritt, am letzten Abend des Jahres heute und am ersten Morgen des neuen Jahres, ganz gewiss, und an jedem neuen Tag. Isso.
Amen..
Predigt über Sach 9,9-10
(gehalten am 29. November 2020, in Starnberg)
Liebe Gemeide,
die Aufgabe unserer Gottesdienste in diesen Tagen ist eine nicht ganz einfache. Es geht um die Rettung der Welt, nicht weniger. Und die Weltrettung ist ja schon eine große Aufgabe. Sie ist etwas für mutige und verwegene Frauen mit viel Lebenserfahrung und zu allem entschlossene Männer mit genug Freizeit, ist das Richtige für echte Heldinnen und Helden des Alltags eines Seniorenwohnhauses, am liebsten – man ahnt es wohl schon – für Menschen mit einem ausreichenden Lebensalter sicherlich jenseits der Pensionsgrenze und des Ruhestands.
Und zugleich ist die Aufgabe der Rettung der Welt besonders etwas für Esel. In Wahrheit ist es tatsächlich so, dass Gott für seine Weltrettung vor allem Esel braucht! Ausgerechnet genau solche Esel, über die wir täglich stöhnen, weil sie die Zeitung mit aufs Zimmer nehmen, auf unseren Straßen viel zu schleppend vor uns dahinzuckeln und mir garantiert die Garage zuparken, wo ich schnell los will, nur weil sie im Gemeindehaus eine Pflanze zum Tausch anbieten wollen oder einen gebrauchten Anzug abgeben müssen. Aber eben auf dem Rücken solcher Esel und vor ihren Augen entfaltet unser Gott das große Szenario seiner Weltrettung.
Beim einem der zahlreichen Auftritte eines Esels in Gottes Rettungsplan – es gibt einige davon im Alten Testament, wir konzentrieren uns heute auf den Eselsritt, von dem das Buch des Propheten Sacharja in seinem 9. Kapitel schreibt – ist zu bedenken wie schwierig die Zeit ist, die man gerade durchmacht. Die kaum zurückliegende Katastrophe und der anhaltende Kriechgang der Hoffnung auf eine schnelle Besserung der Lage sind in den Köpfen und Herzen der Menschen in Israel noch gegenwärtig.
Damals wurde die Zerstörung Jerusalems zur traumatischen Erinnerung derer, die sie überlebt haben, und auch zum narrativen Schrecken ihrer Kinder und Enkel. Heute sind es die Erfahrungen einer Einsamkeit um der Gesundheit willen, die uns schwer stöhnen machen. Zwar leben die Nachkommen der (kurz vor der Zeit Sacharjas) in die Fremde Deportierten Israels nun wieder in Jerusalem, auch der Tempel ist wieder aufgebaut. Aber weiterhin sind die Menschen religiös nicht frei, fühlen sich politisch gedemütigt und werden sozial erniedrigt. Weiterhin gelten für uns Bestimmungen, die eine unbeschwerte Zukunftshoffnung viel zu viele Monate aufschieben und uns damit trösten wollen, Weihnachten erst in einem Jahr wieder normal feiern zu können, als ob wir so lange durchhalten würden. In diese Zweifel hinein schreibt nun der biblische Prophet Sacharja das Gotteswert, das ihm im Traum zuteilwurde:
Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis ans Ende der Erde.
Aber wäre in einer infektionspolitisch unklaren Situation jemals ein sanftmütiger König auf einem Esel ein Grund zum Jubeln gewesen? Ist das erstaunliche Bibelbild von dem Friedenskönig auf dem Esel eine reale pazifistische Alternative zu den erstarkten Militärmächten unserer Tage, ob sie nun USA oder China oder doch wieder Russland oder gar Türkei heißen? Hätte der Friedenskönig gegen echte Terroristen eine Chance den Zünder eines Fanatikers mit Tunnelblick zu entschärfen? Und doch möchte sich das Bild vom Esel und seinem Passagier in meinem Herzen einnisten, es könnte so meine Sehnsucht wach halten nach einer echten Alternative zum Kräftemessen der Gerüsteten, nach spürbarem Frieden in den gebeutelten Familien unseres infektiösen Distanzjahres …
Die Sehnsucht, von der Sacharja weiß, treibt die Menschen seiner Zeit um. Aber auch noch mehr als ein halbes Jahrtausend danach leidet Jerusalem unter Fremdherrschaft, Römer sind es diesmal. Unter der berüchtigten pax romana ist für ein sanftmütiges Friedensreich kein Platz. Roms Adler bringen Frieden durch Legionen, vor denen gekuscht oder gestorben wird. In Mitten dieser Szenerie der Zeitenwende vor mehr als 2020 Jahren trägt nun ein Esel eine schwangere Frau. Dieser Esel steht neben der Szene und ist doch ganz Ohr, als das Kind der jungen Frau geboren und in seine Futterkrippe platziert wird. Der Esel wird Zeuge, als härenere Hirten kommen, weil sie von elegischen Engeln gerufen wurden, und später kundige Könige, weil sie einem Stern folgten. Und wenn der kommende König auf dem Esel seit Sacharja ein Bild aus einer anderen Welt ist, so stellt der nackte Neugeborene in Windeln und in einer Krippe, in Armut, ohne Obdach, mit einem Esel als Zeugen seiner Macht ganz gewiss ein zwar eigentümliches, aber zugleich sehr irdisches Gegenbild dar zu den mächtigen Narrativen jeder Zeit. Ein Esel wird erneut zum trottenden Unterbau eines Bildes, das sich ins Herz senkt, das Hoffnung aufkeimen lässt; Hoffnung, die nicht von dieser Welt ist, schräg und vermessen. Eine Eselei eben, nicht weniger …
Und der Neugeborene im Stall liefert dann gut 30 Jahre später als gerade erwachsener Mann den nächsten Klang zu diesen Bildern und das nächste Futter für solche Hoffnungen. Der Eselsreiter holt die Sehnsucht vom gemütlich auf dem Lasttier dahinschreitenden Friedenskönig aus den kahl gewordenen Hinterköpfen und den Falten unserer Herzens und unserer Haut. Der Mann aus Nazareth, wie er trotz seiner Verheißungsgeburt in Bethlehem genannt wird, hatte zuvor schon die Unverfrorenheit zu predigen: was ihr alle, was Israel, was die Menschheit seit Jahrhunderten ersehnt und erhofft, erwartet und erträumt: jetzt wird es erfüllt! Heute & hier, vor euren Augen und Ohren, durch mich! Jesus antwortet in seiner allerersten Predigt in der bleibend skeptischen Stadt seiner Kindheit und Jugend auf die verständlichen, ungläubig staunenden Fragen und konzediert, woran man es bitte ermisst, das der Esel berechtigt schreit: die Lahmen gehen, die Blinden sehen, den Armen wird die beste Nachricht der Welt ausgerichtet, die Gefangenen kommen endlich frei. So beginnt Gott damit, sein Königreich zu errichten.
Und schließlich reitet Jesus, nachdem er kurz vor seinem viel zu frühen Tod von seiner Heimat in Galiläa in die aufregende und aufgeregte Hauptstadt Jerusalem gezogen ist, doch wirklich und wahrhaftig auf einem Esel in der Stadt ein, um ihn herum eine schauende, staunende und trotzdem (oder deswegen?) schreiende Menge, die in spöttischen oder ehrlichen Jubel ausbricht, die ihn – in einem durch infantile Selbstbegeisterung entstandenen oder von Gottes Geist inspirierten Freudentaumel? – begrüßt, so als könnte er es sein und wäre er tatsächlich womöglich nicht weniger als ihr versprochener und sehnsüchtig erwarteter König und Retter!
So viele Reitszenen und Grautiersequenzen mit ikonenhaftem Glanz – und jedes Mal ist unser Esel die Basis, ohne die nichts vorangehen würde! Freilich, wir wissen, Jesus reitet auf dem Asinus direkt in die Katastrophe des Untergangs wenige Tage später, eine Woche nach dem Einzug, wenn man der Chronologie des ältesten Evangeliums, dem nach Markus folgt. Gottes Verheißung erfüllt sich – endlich! Aber tatsächlich so abstürzend schrecklich? Selbst Jesus wird im Gebet im Garten darum ringen, in diesen Weg Gottes einstimmen zu können.
Auch heute scheint es, dass Gott seine Verheißung irgendwie an uns erfüllt – und sie uns sogleich wieder entzieht, sobald wir jedenfalls an Morgen oder Übermorgen denken müssen. Erst am österlichen Ende (bei Jesus erst dann, bei uns hoffentlich nicht erst in einem halben Jahr) geht der am Kreuz Gescheiterte aus der Katastrophe und dem Grab als Sieger hervor. Selbst der Tod muss dann auf die Knie gehen, paradoxerweise, angesichts des Sanftmutes, dieser Ohnmacht und Hilfsbedürftigkeit erst eines Säuglings, dann eines Toten, in die Knie angesichts von Gottes Gegenwart und Intervention für das Sanfte, Ohnmächtige und Hilfsbedürftige. Dann erst freilich ist die Welt tatsächlich gerettet, versöhnt, befriedet und frei. Dann hat Sacharja doch mit Blick auf die ganze Welt recht, aus der Sicht seiner Zeit viele Jahrhunderte zu spät.
Unser Gott erfüllt seine Zusagen an uns gewiss. Manchmal aber erfüllt Gott sein Wort unter uns so, dass aus dem, was er an großartigem, die Welt veränderndem an uns tut, erst noch einmal eine weitere Sehnsucht und Erwartung erwächst, bevor endlich die Fülle manifest wird. Gott geht sozusagen den Eselsweg mit uns, der manchmal nicht so ganz leicht auszuhalten ist, wenn wir nicht in uns die Gewissheit verankert haben, dass es wegen Gott mit uns am Ende sowieso gut gehen wird. Es ist mit unserem Gott eben anders als mit menschlicher Erwartung und homosapientieller Vorfreude. Bei Gott gilt trotz jeden Zweifels und auch in jeder Erfüllung, die einem immer auch heute schon von einem liebenden Menschen geschenkt werden darf: das Beste kommt noch! Und bis dahin, bis das Beste unübersehbar für alle Welt kommt, bis dahin errichtet Gott sein Friedensreich auf dem Rücken eines Esels und bringt es so unter uns voran.
Gott baut sein Reich schon heute aus Trümmern, Ohnmacht und Scheitern, immer weiter auf dem Rücken der Esel, die es ertragen. Gott baut sein Reich tatsächlich auch mit uns Eselinnen und Eseln, die wir so lauthals über halbvolle Gläser und verschworene Menschen klagen und über Nichtigkeiten wie Sitzordnungen bis auf Messer und Blut streiten können. Gott baut sein Reich mit den verbohrten Eseln die meinen, die Herrinnen und Herren der Welt oder zumindest ihres eigenen Lebens zu sein, und die doch am Ende vor Jesus, dem Christus selig und bekehrt ihre Knie vor dem einzig wahren Herrn der Welt beugen werden. Gott baut sein Reich mit all den sturen Eseln, die nicht so recht wahrhaben wollen, dass die Versöhnung eine reale und unendlich starke Macht ist. Gott baut das Reich mit allen beschränkten Eseln, die so schwer begreifen, dass Jesus wenn dann bevorzugt durch Menschen in der Welt handelt.
Gottes Reich ist bereits heute eine echte Wirklichkeit in dieser Welt, und Gottes Reich beginnt nun wieder zu leuchten. Und wir Esel sollen staunend mitmachen, sei es als Lasttiere, Kulissenschieber oder auf unsere Art davon zeugende Randfiguren. Noch der letzte Esel gehört bei Gott dazu, sobald es wieder Advent wird und die Lichter von der Zukunft der Welt leuchten. Sie gehören dazu. Wir gehören dazu. Du gehörst dazu. Und I-A.
Amen.
Predigt über Gen 18,1-2(3-8)9-15
(gehalten am 29. November 2020, in Starnberg)
Liebe Gemeinde,
ein richtig erlösendes, regelrecht befreiendes Lachen tut mir gut, wenn es mir über die Lippen kommt. Es fällt von mir ab, was mich belastet, bedrückt, bedrängt: Enttäuschung, Versagung, Angst. Da ist der Augenblick gekommen, um aufzuatmen, ein richtiges Geschenk! Ein befreites Lachen bricht Mauern auf. So geht es mir. Und so erfahren es schon Jahrtausende vor mir ein gewisser Abraham und seine Sara aus dem Alten Testament.
Und der Herr erschien ihm im Hain Mamre, während er an der Tür seines Zeltes saß, als der Tag am heißesten war. Und als er seine Augen aufhob und sah, siehe, da standen drei Männer vor ihm. Und als er sie sah, lief er ihnen entgegen von der Tür seines Zeltes und neigte sich zur Erde und sprach: Herr, hab ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so geh nicht an deinem Knecht vorüber. Man soll euch ein wenig Wasser bringen, eure Füße zu waschen, und lasst euch nieder unter dem Baum. Und ich will euch einen Bissen Brot bringen, dass ihr euer Herz labt; danach mögt ihr weiterziehen. Denn darum seid ihr bei eurem Knecht vorübergekommen. Sie sprachen: Tu, wie du gesagt hast. Abraham eilte in das Zelt zu Sara und sprach: Eile und menge drei Maß feines Mehl, knete und backe Brote. Er aber lief zu den Rindern und holte ein zartes, gutes Kalb und gab’s dem Knechte; der eilte und bereitete es zu. Und er trug Butter und Milch auf und von dem Kalbe, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor und blieb stehen vor ihnen unter dem Baum, und sie aßen. Da sprachen sie zu ihm: Wo ist Sara, deine Frau? Er antwortete: Drinnen im Zelt. Da sprach er: Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben. Das hörte Sara hinter ihm, hinter der Tür des Zeltes. Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und hochbetagt, sodass es Sara nicht mehr ging nach der Frauen Weise. Darum lachte sie bei sich selbst und sprach: Nun, da ich alt bin, soll ich noch Liebeslust erfahren, und auch mein Herr ist alt! Da sprach der Herr zu Abraham: Warum lacht Sara und spricht: Sollte ich wirklich noch gebären, nun, da ich alt bin? Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich wieder zu dir kommen übers Jahr; dann soll Sara einen Sohn haben. Da leugnete Sara und sprach: Ich habe nicht gelacht –, denn sie fürchtete sich. Aber er sprach: Es ist nicht so, du hast gelacht.
Freilich könnten sich in Saras Lachen auch andere Gefühle gemischt haben als die pure Erleichterung und befreite Aufatmen. Saras Lachen, stellvertretend auch für Ihren Mann, der sich noch nicht zu lachen traut, könnte ja auch ein bitteres Lachen sein, bedenkt man ihren Lebensweg: immer kinderlos, obwohl der Wunsch und zwischendurch sogar eine göttliche Verheißung dafür fast grenzenlos war. So viele Söhne und Töchter wie Sterne am Himmel hätten es ja gar nicht werden müssen, aber eben auch nicht gar keine. Kinderlosigkeit ist in ihrer Gesellschaft eine Tragödie, der soziale Tod für eine Frau in einem Alter, über das Sara zudem längst hinaus ist. Wäre das auch heute noch so? Eine Frau heute, der es unverhofft als zu tragendes Schicksal auferlegt ist, wird darüber vielleicht nicht so anders urteilen als Sara.
Für manche Paare heute, die bis nach der schönen Hochzeit samt Trauung verzauberte Liebespaare waren, kann ihre andauernde Kinderlosigkeit ein echter Alp sein. Muss Saras und Abrahams Kinderlosigkeit als eine endlos bedrückende Geschichte enden, die ihre Lebens- und Liebeslust zerstört? Vielleicht lacht Sara ja nicht nur aufgrund des Blickes auf die alt gewordenen Körper dieses Paares – in die hohen Jahre gekommen, ihr Monatszyklus hat schon längst aufgehört, „und auch mein Herr ist alt“, soll heißen, er findet nicht mehr den Weg zu ihr …
Die Vorstellung, noch einmal Liebeslust zu genießen, die zur Schwangerschaft führt, ist auch diese Phantasie endgültig tot und begraben? Es klingt äußerst unwahrscheinlich, aber ich kann mir das Lachen aus diesem Grund alleine nicht vorstellen, mag es mir nicht ausmalen, auch wenn der Text es nahelegen zu müssen meint; zumal ich genug alte Menschen kenne, die sich die körperliche Freude aneinander einfach nicht haben verbieten lassen und hoffentlich noch lange dabei bleiben. Dazu kommen all die prachtvollen Mütter und Vater, die sich als Adoptiveltern so gut um ihre Kinder kümmern, wie man sich‘s von allen Eltern wünschte …
Bei Sara, ist es ungläubiges Kichern? Zweifel an der Verheißung Gottes, sein Volk groß zu machen in ihren Nachkommen? Unsicherheit, was da vorgeht mit den drei Gestalten, die mit einer Stimme sprechen, in denen sich Sara und Abraham ihr Gott, der Herr, zeigt? Vielleicht kommt Sara auch die schlimme Zeit in den Sinn von damals, als der Traum vom Kind tatsächlich durch das Zutun Abrahams und einer Dritten ausgeträumt war, derer sie sich bis heute nur durch ein schnelles Lachen zu erwehren vermag. Als ihr Abraham zu ihrer eigenen Sklavin ging, die sie ihm gegeben hatte, deren ägyptischer Name Hagar übersetzt „die Fremde“ bedeutet. Und mit der Sklavin einen legitimen Sohn zeugte, den Hagar dann gesund gebar (Gen 16).
Wie sich ihr Mann mit Hagar erfüllend vereinigt und Sara jedenfalls für moderne Ohren noch einmal als Ehefrau degradiert wird. Diese Sara wird einmal bitter Rache nehmen an dieser Frau und diesem Nachkommen, den sie davonjagen wird, damit er in der Wüste sterben soll, was Gott verhüte (Gen 21) und verhütet. Oder wäre das alles ein bloßer Anfall von skurrilem Humor? Die Bibelübersetzung „in gerechter Sprache“ verdeutscht unser Problem auf eigene Art: „Sara stritt es ab und sagte: ich hab nicht gejuchzt. Denn sie hat es mit der Angst bekommen. Er aber sprach: doch, du hast wirklich gejuchzt“ … so banal kann man es auch sagen …
Die Szene mit Sara und den drei Fremden könnte lustig sein, und zugleich bleibt einem das Lachen dann doch im Hals stecken, ein solches Amüsement ist kein befreites Dröhnen. Sara bekommt es mit der Angst, das kann natürlich sein. Warum nun wieder an verflogenen Träumen rühren, alte Wunden aufreißen? Oder wäre es die Angst, dass offenkundig wird, dass sie der Verheißung, die ihr und Abraham den Sohn felsenfest versprochen hat, misstraut, dass sie Gottes Plan für ihr Leben längst für abgetan hält, für null und nichtig? Oder es ist nur die Furcht, die sich in biblischen Erzählungen einstellt, wenn ein Engel auftritt? Wie in der Weihnachtsgeschichte: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird? Furcht, nicht Angst, weil klar wird, dass Gott in der Nähe ist und sich zeigt, Furcht als Anerkennung der überirdischen Dimension? Dann müssten wir aus Saras Angst gar nichts Bedrohliches destillieren und könnten aufhören, darüber zu philosophieren.
Unsere Zeltszene mit dem Lachanfall ist nun eingebettet in ein orientalisches Gastmahl üppigsten Ausmaßes, die unser Predigttext hier behände umschifft, weil er auslässt, was es zu essen gibt. Eigentlich würde man traditionell Fremden nur einen Bissen Brot reichen, um das Herz zu erfrischen, und ein Schlückchen Wasser für die staubigen Füße – in der brüllenden Mittagshitze einer Steinwüste für drei umherwandernden Gestalten immer nötig. Der Gastgeber bedankt sich artig wie man es so tut bei den Fremden für ihre Gnade, dass sie bei ihm einkehren. Aber danach beginnt es und ufert kulinarisch in der Geschichte vom Lachen dann aus.
Denn alsbald geht es bei Sara und Abraham zu wie bei Karl Mays erfundenem Orienthelden alias Kara Ben Nemsi im Schmökerroman „Durch die Wüste“, der mir neben den folgenden 5 Fortsetzungsbänden damals zu Weihnachten geschenkt wurde und den ich sie sofort verschlang wie heute ein Vitello Tonato. Der Reisefreund des grandiosen Hadschi Halef Omar gerät dabei in ernste Gefahr, sprich in orientalische Gastfreundschaft und muss sich ohne Protestmöglichkeit Kamelbutter in den Mund schmieren lassen. Das Gerücht geht von grenzenloser Üppigkeit, bei Strafe der Missachtung des Gastrechts muss alles aufgegessen werden. In Berthold Brechts gutem Menschen von Sezuan haben es die drei umherwandernden Götter – Reinkarnationen der Männer/Engel aus der Genesis – viel schwerer, ein Dach über dem Kopf zu finden, aber sie müssen wenigstens keine Sorge tragen, das karge Mahl auch zu schaffen – eine späte Resonanz dies auf unsere biblische Szene unter den veränderten Vorzeichen der modernen, sozialistisch beäugten Armutsgesellschaft. Bei Abraham und Sara jedoch geht’s den Gästen gut. Natürlich, soweit sind wir interkulturell kundig, die Verpflichtung zur Gastfreundschaft ist heilig, egal wie die wirtschaftlichen Möglichkeiten aussehen. In Rede stehen in unserer Geschichte Fladenbrot, schnell gebacken aus drei großen Krügen feinsten Mehls, außerdem ein Jungstier, zart und gut, vom Diener zubereitet, und dicke, frische Milch. Wohlsein!
Aber es muss noch mehr dahinterstecken als die Tradition, Denn nach den Speisevorschriften der Heiligen Schrift ist das alles nicht gerade koscher! Milch und Fleisch zusammen, das verletzt nicht nur nach späterer klassischer Auslegung zentrale Speisezubereitungsgebote (Ex 23,19; Ex 34,26; Dtn 14,21), konkret „ein Böcklein“ „nicht in der Milch seiner Mutter“ zu „kochen“, also „Fleischiges“ und „Milchiges“ nicht in einer sonst nicht koscheren Küche zusammen zu nutzen. Nur nomadisch üppig ist das, ein Festmahl für die drei, wie ich es einmal bei einem georgischen Hochzeitsessen genossen habe, wo wir 15 Pfarrer auf Dienstreise vergebens versucht haben, einen fetten Hammel zu verputzen, der uns hingestellt wurde, bis wir uns die Bäuche hielten. Das Ganze serviert in einem Hain a la Mamre, der in der Mittagshitze der Wüste wirklich Schatten bietet. Wunderbare Erinnerungen an Tafeleien werden da in mir wach!
Das Idyll, in dem wir uns heute im syrisch-westjordanischen Mamre bei Sara und Abraham tummeln, dauert indes nicht an. Schon in der nächsten Szene der Genesis/dem ersten Buch Mose, noch im gleichen Kapitel des ersten Buches der Bibel wird dann erzählt, wie Abraham mit Gott verhandeln muss, erfolglos am Ende, um das Gericht über die Stadt Sodom, in der sich verbrecherische Gewalt unbegrenzbar ausgebreitet hat und kein Schock, ja nicht einmal ein knappes Dutzend Gerechter in Sicht ist, der sich gegen die wüsten Handlungen stellt. Auch bei dem Verbrechen, das dem fast unmittelbar folgenden Ende Sodoms erzählerisch zugrunde lag, war es um die Gastfreundschaft und konkret um den Schutz der Gäste im eigenen Haus gegangen. Gastfreundschaft schlägt offensichtlich alles, sogar den Schutz der eigenen Familie.
Freilich bleibt über das Festmahl noch ein wenig zu sinnieren: Männer essen, das wohl. Doch diese Männer – orthodox später als Inbegriff der christlichen Trinität gedeutet und ikonisch versinnbildlicht – sind ja nicht Männer, sondern sind der Herr, also als dessen Verkörperung reine Engel. Und Engel essen ja nicht, oder? Just darüber wird es später tatsächlich sehr ernsthafte Debatten unter den großen Gelehrten der Jahrtausende geben. Zum Beispiel bei Philo von Alexandrien, dem maßgeblichen jüdischen Philosophen um die Lebenszeit Jesu, er deutete das Geschehen phänomenologisch, soll heißen: die himmlischen Besucher hätten, ohne in Wirklichkeit zu essen und zu trinken, nur die Vorstellung geweckt, tatsächlich gegessen zu haben. In Wahrheit ist ein frommes und würdiges Leben die echte Speise und Nahrung bei Gott – ein Votum, das ja auch in unsere Adventszeit als Fastenzeit passt.
Oder ein gewisser Flavius Josephus, bis heute weltberühmter jüdischer Historiker etwa eine Generation nach Jesus, er wusste ergänzend und korrigierend dazu zu berichten: Milch ist ja gar nicht gereicht worden, damit harmoniert die Szene wieder mit den Speisegeboten und hinkt nur noch auf der Seite der Engelsmägen. Oder die bis heute sogar noch wichtigere Mehrheitsmeinung der rabbinischen Gelehrten der jüdischen Synagoge des Altertums, die da lautet: die Engel haben das Essen bloß simuliert. Manche der Rabbis überlegten deshalb, was aus den ganzen aufgetischten Köstlichkeiten geworden ist. Ein Lösungsvorschlag: Während des simulierten Essens sei dieses einfach verschwunden. Aber auch die alte christliche Interpretation müht sich mit der Szene ab. Die beiden Juristen Justin und Origenes, Kirchenväter von überragendem Rang, die zu lesen bis heute ein großes Vergnügen ist, wenn man dazu kommt, drittes Jahrhundert, die sind sich an dieser Stelle sogar einig: die Speise, die Sara und Abraham den Besuchern gereicht haben, ist bildlich zu verstehen, genauer: sie ist geistige und vernunftgemäße Speise. Kauwerkzeuge seinen konsequent jedenfalls nicht zum Einsatz gekommen.
Oder schnell noch – versprochen – ein letzter Gelehrter aus dieser Zeit der seltenen Blüte unserer christlichen Theologie: das Essen der Engel sei Wahrnehmungstäuschung, die Speise wäre vom Feuer absorbiert worden. Grundvoraussetzung ist immer: Engel essen nicht. Diese Auslegung hat sich durchgesetzt, bis heute und bis nach Hollywood: Ben Affleck und Matt Damon, die beiden Engel im Film „Dogma“, die essen jedenfalls auch nichts. Und warum nicht? Die entscheidende Schwierigkeit scheint wirklich in der Missachtung der Speiseregeln zu liegen.
Bemerkenswerterweise haben unsere römisch-katholischen Glaubensbrüder, dem Sinnengenuss oft weniger abhold als karge Protestanten, später immer mal wieder Wege gefunden, allzu rigide Regeln einfach zu umschiffen, wie sich an der Geschichte von der Zigarette danach zeigen lässt: Trifft ein Jesuit nach einem Festmahl den anderen, Zigarette rauchend den Rosenkranz betend. Als er ihn zur Rede stellt, entgegnet der gelassen, das sei vom Vatikan erlaubt. Ein echter Jesuit fragt nach und es wird ihm von Rom kategorisch verboten. Als er den Ordensbruder wiedertrifft, fragt der, wie denn die Frage formuliert gewesen sei? Ob du beim Beten rauchen darfst? Du musst sie halt umgekehrt stellen, ob man beim Rauchen beten darf.
Ob Jesus geraucht hat, weiß ich nicht, vermutlich aber schon. Und vor allem hat Jesus mit seinen Freundinnen und Freunden gegessen, dass es eine Lust war – und ihm den Spitznamen eintrug, ein „Freund der Fresser und Weinsäufer“ (Mt 11,19) und also ganz anders als sein früher Mentor Johannes der Täufer zu sein. Lassen sie uns also bitte annehmen, dass die drei Boten, in denen Abraham Gott erkennt, auch wirklich gegessen und getrunken haben. Teig und Fladenbrot aus feinem Mehl, ein zartes Jungtier von den Rindern, frische Milch, das Ganze serviert unter einem Baum, der in der brüllenden Hitze der Wüste ein Refugium anbietet, einen unwahrscheinlichen, unerwarteten Ort. Es ist ein Augenblick der Unterbrechung. Und auch wenn Gastfreundschaft in der nomadischen Welt verpflichtend ist, so wie sie hier praktiziert wird, bleibt sie ein überreiches Geschenk. Und dazu passt dann dieses maßlose, alle Wahrscheinlichkeit sprengende Versprechen: Sara soll doch noch schwanger werden.
Hat Gott die Gastfreundschaft Abrahams prüfen wollen, ehe er dieses wunderbare Versprechen gibt? Aber unser Gott versucht uns nicht und gibt, was er uns zudenkt, ohne unser Verdienst. Wollte Gott mit eigenen Augen durch seine Boten sehen, ob Abraham gerecht lebt und sich anders verhält als die Menschen ringsum, im nahen Sodom etwa, wo sich Gewalt gerade gegen Frauen und Fremde unbegrenzt ausgebreitet hat? Aber Gott beruft Abraham nicht, weil der gerecht ist, sondern weil Gott ihm als Vater des Glaubens braucht. Was wäre geschehen, wenn Abraham versagt hätte, wäre Gottes Verheißung, sein Volk groß zu machen, nicht verwirklicht worden? Aber unser Gott hat diese und alle seine Verheißungen nie losgelassen, sie wird im Blick auf Sara und Abraham im ersten Buch des Buches der Bücher mehrere Male wiederholt, auch als die späteren Erzeltern noch nicht so alt waren.
Bei aller Enttäuschung, bei aller Kraft, die es kostet, gegen die Erfahrung am Glauben festzuhalten, es hat etwas eminent Befreiendes, dass sich unser Gott nicht zwingen lässt so zu sein, wie wir ihn gerne hätten. Gott erfüllt seine Versprechen an uns nicht als Antwort darauf, dass wir Menschen intensiv genug an ihn glauben. Gott erfüllt seine Verheißung in Freiheit als ein jedes menschliche Planen überbietendes und überraschendes, überreiches Geschenk.
Saras Lachen war ein erlöstes. Gerade in ihrer fast lebenslangen Ungewissheit und womöglich zunehmenden Verzweiflung kann Sara, über die Heilsgeschichte des Gottesvolkes Israel hinaus, zur Bundesgenossin von Menschen werden, deren Hoffnung nicht so schnell und nicht sofort erfüllt wird. Immer wieder den richtigen Moment abpassen. Wieder eine Fehlgeburt. Dazu die Erkenntnis, was aus der eigenen Verliebtheit, was aus erotischer Liebesfähigkeit wird, wenn man so auf den Erfolg fokussiert. Jede Phase der Ungewissheit und des Leidens auch im eigenen Leben muss in die eigene Lebensgeschichte integriert werden. Sara lacht, nach Verzweiflung und wilder Hoffnung, in tiefer Trauer und im Moment wiedererwachenden Glücks. Am Ende, denke ich, ist es erlöst Lachen gewesen. Ein Lachen, das auch uns anstecken will, Gott beständig zuzutrauen, dass er uns treu bleibt und uns vor jedem Ende hilft.
Amen.
Predigt über I Kor 15,35-38.42-44a
(gehalten am 22. November 2020, in Starnberg)
Liebe Gemeinde,
Es könnte aber jemand fragen: Wie werden die Toten auferstehen und mit was für einem Leib werden sie kommen? Du Narr: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es von Weizen oder etwas anderem. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, einem jeden Samen seinen eigenen Leib … So auch die Auferstehung der Toten. Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib.
Liebe Gemeinde, den Satz ich glaube „die Auferstehung der Toten“ spricht die Gemeinde der Friedenskirche Sonntag für Sonntag, bei vielen Gottesdiensten gehört er zum guten Ton, gibt sich als Grundbestand unseres Glaubens und gehört in jede Taufe egal ob Kind oder Erwachsener. Wir bekennen dabei freilich nicht, dass wir an eine Auferstehung glauben, sondern dass wir die Auferstehung glauben, sie also für uns erwarten, sie für alle erhoffen, erst recht für unsere Verstorbenen in den Gräbern. Wir glauben die Auferstehung, nicht wir glauben an sie – die Auferstehung ist kein Götze, den wir anbeten, sondern die Konsequenz der Ewigkeit Gottes, in die wir seit der Taufe hineingehören und an der wir mit dem Tod Anteil bekommen. Vielleicht können sich Ältere noch erinnern, dass es früher im Glaubensbekenntnis sogar hieß: ich glaube „die Auferstehung des Fleisches“, was im NT vor allem das Joh betont.
Wie nun mir die „Auferstehung der Toten“ oder gar eine „Auferstehung des Fleisches“ vorstellen, die auch unsere Verstorbenen wieder lebendig werden lässt, die lieben Menschen, von dem und von der wir uns verabschieden mussten und mit denen wir in den vergangenen Monaten manchmal mit arger Mühe einen Weg gefunden haben, sie und ihn zu vergegenwärtigen? Die Abschiede, die ich begleiten durfte, gingen nicht alle ohne verstörende Begleitumstände in der Pflege davor oder beim Familienzwist danach vonstatten, von manchen traurig wirkenden Feiern in zu großer Corona-Distanz ganz zu schweigen.
In seinem ersten Brief an die Gemeinde in der Hafenstadt Korinth, dort im großen Auferstehungskapitel 15 denkt der Apostel Paulus zunächst einmal zurück an den Ostermorgen und an die Botschaft von der Auferweckung Jesu. Von da aus gelangt er theologisch-bildlich-gedanklich dann zur Auferweckung aller Toten, der dann ihre Auferstehung folgt. Man kann richtig merken: auch Paulus sucht wie wir nach Bildern, um sich und seiner Gemeinde irgendwie zu erklären, was er selbst nicht erlebt hat, aber für theologisch grundlegend hält. Paulus will jedenfalls diese Hoffnung auf eine Zukunft unserer Toten nicht untergehen lassen in gedanklichen Verwirrungen über Wiedergeburt oder Verwehen oder gar im Tagesgeschäft des Vergessens, dem wir uns so schnell anheimgeben, weil es manchmal ja auch hilft, Trauer zu verdrängen. Das Bild, das Paulus für den Tod und das Leben in Zukunft findet, nimmt er aus der Alltagswelt, die Jesus in seinen Gleichnissen so gerne bemüht hat, weil sie den Menschen mit ihren Gesetzmäßigkeiten vertraut ist, aus der Erfahrung von Saat und Ernte.
Deutet man also die Natur unseres Lebens und der Welt in der wir es leben, theologisch und konsequent auf Leben und Sterben hin, dann kann man unsere Zukunft bei Gott und ihre Logik so umschreiben: Was du säst, wird nicht lebendig gemacht, es erwacht nicht zu neuer Frucht, wenn es nicht zuvor stirbt und im Humusboden vergraben wird. Ohne Beerdigung keine Zukunft. Und wenn du säst, säst du nicht den Leib, der werden soll, die säst nicht die kommende Frucht, sondern ein bloßes Korn. Gott aber gibt dem Korn einen neuen Leib. Ohne Verwandlung kein neues Leben. Was stirbt und im Tod zu begraben ist, das ist die Vergangenheitsform unseres Leben, als Frucht kommt daraus dann die Zukunftsform unserer Existenz, verbunden mit einem neuen Leib, der in Ewigkeit besteht und nicht mehr so vergänglich ist wie wir jetzt. Ohne solchen Tod nur Tod, das Leben muss durch den Tod hindurch. Auch das Leben unserer Verstorbenen musste in den Tod. Und auch wir werden den Weg dereinst gehen.
Nicht wahr, sagt der Apostel, das kennt ihr doch, selbst wenn ihr Städter seid: bei der Saat verschwindet der Samen in der Erde als ob er begraben wird. Und doch wisst ihr genau, auch wenn ihr das nicht mit eigenen Augen nachvollzieht (wie wir Modernen in der Schule es im Schulfilm im Zeitraffer gezeigt bekamen): aus dem ausgesäten Samen entspringt neues Leben, es wächst ein neuer Keim, erst unterirdisch, dann formt sich im Licht der Sonne oder des Mondes eine neue Pflanze und steht auf zu neuer Größe. So ähnlich geht es mit der Auferstehung: Der Leib wird begraben und er verwest, sobald der Tod eingetreten ist. Und daraus wird Gott einen neuen Leib ins Leben rufen, und im Licht der Ewigkeit wird dieser neue Leib sich kräftig strecken und grünen und blühen und Frucht bringen …
Für die Zeit nach der Auferstehung haben wir noch keinen Zeitraffer und keine Schulungsfilme, ich stelle es mir so vor: Wie an den ersten sechs Schöpfungstagen, als mit der Welt auch die Zeit und das Licht ins Leben gerufen wurde, so wird Gott erneut sein schöpferisches Wort sprechen, dieses unmittelbar wirksame „Es werde!“ So war es auch vor dem Ostermorgen im Grab des Joseph von Arimathäa, als keine menschlichen Zeugen zugegen waren. Jesus wurde nicht reanimiert, er lag nicht scheintot da vom Gift eines Apothekers wie Romeos Julia. Offenbar wurde in die Grabesruhe hinter dem Türfelsen hinein ein göttliches „es werde“ gerufen. Und später – für diese Erscheinung gibt es Augenzeugen – ist dann am anderen Ort Jesus seinen Jüngern in anderer Gestalt als vorher erschienen. Freilich so anders an Gestalt, dass die Jüngerinnen und Jünger Jesus erst gar nicht wiedererkannten oder für ein Gespenst im Nachthemd hielten. Erst als er sie ansprach, konnten sie ihn neu und zugleich erinnernd begreifen.
Was mir im Blick auf meine Toten in den letzten Monaten tatsächlich viel bedeutet: Der Apostel Paulus vergleicht den sterbenden und gestorbenen Menschen nicht mit etwas Elendem, zerstört wirkenden, unkenntlich gewordenem, sondern mit einem Samenkorn voller Potenzial. Im Blick auf den Leib unserer Toten, im Blick auf unseren eigenen, dem Tode entgegenlaufenden Leib sagt er durchaus: „Was gesät wird, ist verweslich“. Und im Hoffnungsblick auf unsere Zukunft streicht er heraus „was auferweckt wird, ist unverweslich“. Was gesät wird, kann armselig und hinfällig und gebrochen wirken, wie unsere Toten es ja auch waren. Was auferweckt wird, wird herrlich sein. Was gesät wird, ist schwach, das erleben wir ja auch selbst, mindestens wenn es ans eigene Sterben geht. Was auferweckt wird, ist stark, das ist unsere biblisch fundierte Hoffnung. Gesät wird ein irdischer Leib, auferweckt ein überirdischer Leib.
Tatsächlich wird auch mein irdischer Leib vergehen als die irdische Weise meiner Gegenwart und als Mittel der Welterfahrung während meiner und unserer irdischen Zeit. Nicht aber vergeht der von Gott geliebte und gerettete Mensch in der von Gott über die Zeit hinweg gewollten und in Ewigkeit erhaltenen Gestalt, in der mein „Ich“ gründet. Natürlich bin ich auch mein Körper und seine Erfahrung, die süßen und salzigen Gefühle von Lust und Ekstase ebenso wie die bitteren des Scheiterns und Versagens. Aber was davon bleibt, das bin „Ich“, weil es meine Erfahrung ist und meine Erinnerung an mich, der liebt und lebt und stirbt. Der Leib vergeht, das Ich bleibt. Und gewiss nicht mehr vergeht die uns zugeeignete Gnade in Christus, die uns den Sprung über den Leben-Tod-Leben-Abgrund schaffen lässt. Unsere wahre Identität sind wir als der Mensch, den Gott nicht vernichtet und den er im Tode nicht der Vernichtung preisgibt, sondern der durch den Tod das irdische Wesen abstreift und dann erneuert wird.
Viel früher haben unsere theologischen Mütter und Väter davon nur scheinbar einfacher von der „unsterblichen Seele“ gesprochen, die übrig bleibt, wenn der Leib stirbt. Die Seele bleibt vor Gott – in einem ewig lebendigen Gegenüber zu Gott, so haben sie sich das ausgemalt. Unsere katholischen Brüder haben an dieser Redeweise festgehalten und an der Vorstellung eines reinigenden Feuers, in dem arme Seelen büßen, bis sie geläutert sind. Weil davon nichts in der Bibel steht, hat Martin Luther dies als theologische Spekulation rubriziert und schnell verabschiedet, wenngleich sich die Drohung mit dem Fegefeuer manchmal noch lange in den Köpfen der Menschen, halb verstaubt und oft mit der Hölle verwechselt, erhalten hat. Luther fand, der Tod als Zeit bis zur Ewigkeit sei etwas, was wir heute einen gefahrlosen Sekundenschlaf nennen würden: man stirbt, schläft kurz und erwacht zum ewigen Leben.
Stellen Sie sich statt einer Seele – auf alten Gemälden ist das manchmal ein kleiner geflügelter Mensch – eine Pianistin vor, eine begnadete Klavierspielerin wie man nur eine kennt. So ein Mensch kann in der Gabe, die ihm geschenkt ist, natürlich Mozart spielen, Schubert, Brahms, oder Rachmaninow – oder die Goldberg-Variationen von Bach. Was wir Zuhörerinnen und Zuhörer in die Ohren bekommen, ist das sehr differenzierte Anschlagen oder auch nur zarte Aufsetzen von Filzhämmerchen auf den gespannten Saiten im Korpus des Flügels. Jede und jeder von uns wird dazu aber doch sagen, dass wir gehört haben, dass Mozart gespielt wurde.
Unsere Pianistin hat die Töne, die sie erzeugt, im Lauf des Spieles im Konzerts im Kopf, sie kennt jede Note und könnte das ganze Werk auswendig summen oder mit den Lippen pfeifen; das Konzert „lebt“ in ihr auch ohne Klavier. Um das Stück zu spielen, braucht sie einen guten Flügel. Sie kann die Stücke darauf so gut reproduzieren, wie sie das Instrument beherrscht und das Instrument gut gestimmt ist. Selbst bei höchster Qualifikation käme ein bedauerliches Ergebnis heraus, wenn sie ein verstimmtes, heruntergekommenes Instrument zur Verfügung hätte wie in einem Saloon oder in einer Wirtshauskaschemme, in das bei entsprechender Stimmung und Laune auch schon mal ein Glas Bier geschüttet wurde.
Diese Pianistin ist quasi die Seele, die auf der Klaviatur des Lebens das Stück spielt. Sie ist zu unterscheiden vom Leib und vom Geist. Sie ist „die im Menschen lebendige Strebekraft der Übereinstimmung mit sich selbst“ (Christof Gestrich). Die Seele steht für das Ich, für die einmalige Identität der menschlichen Person. Ihre Existenz reicht über den Tod hinaus, sie ist aber auch dieselbe vor und nach dem Tod, in jedem ihrer Leben. Die Seelen unserer Toten sind vor Gott, und auch unsere Seelen werden einmal vor Gott gelangen. Und auf diesem Weg sorgt Gott – beginnend mit der Idee unserer Eltern, dass es uns geben soll, unserer Entstehung in der Mutter, unserer manchmal schrecklichen Geburt, unseres manchmal berauschend schönen irdischen Lebens und unseres manchmal nicht so leichten Todes am Ende dieser Zeit – auf diesem Weg sorgt Gott für die Vollendung unserer Seele bis zum Tag der Auferstehung und dem Tag der Neuschaffung des Himmels und der Erde und des neuen Leibes für uns, von dem Paulus zu berichten weiß, dass er uns schon mit Jesu Tod zugestanden wurde, als wir von Gott versöhnt „neue Schöpfung“ (II Kor 5) wurden …
Unsere Seele, die unsere Identität wahrt, soll am Ende auch zu einer neuen Leibhaftigkeit kommen, zu einer anderen Leiblichkeit, zu einer neuen, ganz anderen Materialität, die nicht mehr angefochten und verseucht oder pandemisch wird in einer Welt wachsender Gesundheitsrisiken, sondern die in Ewigkeit gut bleibt. Bis zur eigenen und aller Auferstehung sind unsere Seelen (und die Seelen der vor uns Gegangenen) bewahrt von Gott. Niemand wird Pein leiden, ein Fegefeuer war eine allzu durchsichtige, früher sogar eine schlimme Erfindung einer verfehlten Kirchenpädagogik. Wir sind und bleiben auch im Tod schlafend lebendig und sind immer in Gottes Obhut, liegen ganz und gar in Gottes liebender Hand.
Säen in Schwachheit und das Auferwecken in Stärke, wovon dem Paulus im korinthischen Briefgleichnis spricht, dem entspricht das Überwechseln der Pianistin vom unbrauchbar gewordenen Wirtshausklavier zu einem herrlichen, vollkommenen Flügel a la Steinway. Wenn da der erste Ton erklingt, der Raum atmet und lebt, denkt da noch irgendjemand an das alte Wirtshausklavier? Wer käme auf die Idee es zu reparieren angesichts des neuen Instruments? Die Pianistin bleibt sie selbst und auch ist ihr Spiel so grandios wie zuvor. Aufgrund ihres neuen Instrumentes freilich klingt alles schöner, leuchtend, strahlend, in neuer Gestalt.
So stelle ich mir die Auferstehung von den Toten vor: Mein neuer Leib ist wie der neue Flügel. Das Wirthausklavier, mein alter Leib, durfte abgetakelt werden. Dahin ist die tote Gestalt, am Ende ihrer irdischen Tage verbrannt und begraben. Bleibend ist der Mensch, das Ich, zwischenzeitlich auch einmal ohne Leib, vorübergehend aber nur. Und unsere Seele ist das Kontinuum zwischen alt und neu. Sie schläft nach dem irdischen Tod vor dem Angesicht Gottes, und sie bleibt in der Gegenwart Gottes bis zum Tag der endgültigen Auferstehung, an dem Gott erfüllen wird, was er versprochen hat, einen neuen Himmel und eine neue Erde. Die Seele erwacht dann in einer neuen, wunderschönen, anderen Leiblichkeit, wie Jesus in „anderer Gestalt“ auferstand und den Jüngern erschien.
So bildhaft stelle ich mir das mit der Unsterblichkeit der Seele und der Auferstehung tatsächlich vor. Und sofort gestehe ich, dass dieses nur ein bedingt gutes Beispiel bleibt, das schnell an Grenzen stößt. Nicht wir sind es, die vom alten zum neuen Klavier wechseln, Gott wird es sein, der uns neues Leben aus dem Tod schafft. Gott Wort wird dazu erklingen, sein „es werde“, das mächtiger ist als die Negation des Todes. Was an dem Bild aber vielleicht ja auch stimmt: Wir werden wieder da sein, wir werden es sein, so wie unsere Verstorbenen, die wir heute erinnern, verändert wieder da sein werden, sodass es keine Mühe mehr sein wird mit ihnen und nur noch die reine Freude auf Dauer. Auch der Gekreuzigte und sein gebrochener Leib – will ich es weiter in diesem Bild zu begreifen versuchen – war anders und doch identisch mit dem gekreuzigten Leib und der lebenden Seele. So auch wir: Unsere sterblichen Leiber, unsere bewahrten Seelen; anders und doch identisch mit dem alten, gereinigt nur um das, was wir besser hinter uns lassen und was an uns und an anderen Menschen zum Vergessen war und ist. Gott hat in Jesu Auferweckung am dritten Tag (den Kartag des Todesfreitags mitgezählt) des Gekreuzigten gedacht. Und um Jesu willen gedenkt er auch unser, ruft uns bei unserem Namen, hat uns lieb und wird auch uns dem Tod nicht überlassen, sondern uns aufwecken aus dem Schlaf, des Todes Bruder.
Das also ist es mit der Auferstehung der Toten, die wir im Glauben bekennen. So denke ich es mir und bitte darum, sich die Hoffnung auf das Jenseits und sein besseres Leben nicht ausreden zu lassen! Auch wenn meine Worte nur arme, vorläufige und unzureichende Worte sind, unsere geglaubte Zukunft zu beschreiben. Denn natürlich auch von meinen Worten, von allen Vorstellungen, von unseren Bildern und auch von den biblischen Gleichnissen gilt, was Paulus im Blick auf ihre irdische Vorläufigkeit schreibt: „Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Unehre, es wird auferweckt in Herrlichkeit; es wird gesät in Schwachheit, es wird auferweckt in Kraft“ (15,42f). So sei es.
Amen.
Predigt über Lk 16,1-8
(gehalten am 15. November 2020, in Starnberg)
Er sprach aber auch zu den Jüngern: Es war ein reicher Mann, der hatte einen Verwalter; der wurde bei ihm beschuldigt, er verschleudere ihm seinen Besitz. Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm: Was höre ich da von dir? Gib Rechenschaft über deine Verwaltung; denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein. Da sprach der Verwalter bei sich selbst: Was soll ich tun? Mein Herr nimmt mir das Amt; graben kann ich nicht, auch schäme ich mich zu betteln. Ich weiß, was ich tun will, damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde. Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich, und sprach zu dem ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig? Der sprach: Hundert Fass Öl. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib flugs fünfzig. Danach sprach er zu dem zweiten: Du aber, wie viel bist du schuldig? Der sprach: Hundert Sack Weizen. Er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig. Und der Herr lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts.
Liebe Gemeinde,
Jesus redet häufig durch Beispielgeschichten, hier spricht von den Verhältnissen seiner Heimat Galiläa, in der es häufig vorkam, dass ein Reicher, der im Ausland lebte, seinen Besitz durch Verwalter beaufsichtigen ließ. Nun wird ein Verwalter beschuldigt, er verschleudere den Besitz. Wenn man etwas von einem Verwalter erwartet, dann dass er das Eigentum seines Herren zu mehren sucht. Wenn an einer solchen Beschuldigung nur das Kleinste dran ist, kann das nur auf die Entlassung und Schadenersatzforderungen hinauslaufen. Und der Verwalter verteidigt sich gar nicht, offensichtlich weil die Beschuldigungen wahr sind.
Der ertappte Verwalter weiß, jetzt muss er schnell handeln, die Zeit ist knapp. Da fällt er eine Entscheidung, derentwegen Jesus ihn anschließend als klug bezeichnet. Ist es, weil er schnell einen Überblick über die Lage gewinnt, sie illusionslos beurteilt und dann den rettenden Einfall bekommt? Er entwickelt die Idee, sich mit dem Geld, das nicht seines ist, über das er aber zurzeit gerade noch verfügt, neue Freunde zu machen. So bietet er denen, die seinem Herrn etwas schulden an, diese Schuld zu senken. Wie viel bist du schuldig, Hundert Eimer Öl? Dann schreib 50. Wieviel bist du schuldig, 100 Sack Weizen. Dann schreib 80. Und über dieses Vorgehen heißt es in unseren Predigttext: „Und der Herr – im Gleichnis der Reiche im Ausland – lobte den ungetreuen Verwalter, weil er klug gehandelt hatte; denn die Kinder dieser Welt sind unter ihres Gleichen klüger als die Kinder des Lichts“ (Lk 16,8).
Muss man sich Jesus mit einem Schmunzeln im Gesicht vorstellen, da er dieses Gleichnis erzählt? Inhaltlich geht es um ernste Dinge, um das Gericht als eine Art große Schlussabrechnung am letzten irdischen Tag. Der dazugehörige Wochenspruch für diesen Sonntag lautet ja: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“ (II Kor 5,10). Es geht um Verantwortung, wir sollen Antwort geben, wenn Gott von uns Rechenschaft fordert. Und was haben wir zu antworten? Wir kommen alle aus Gottes Hand und gehen eines Tages auch wieder in Gottes Hand zurück. Gott wird uns fragen, was wir mit unserem Leben gemacht haben. Der Verwalter ist gefordert. Und es ist wichtig zu begreifen, dass das Gericht nicht nur das Gericht über andere ist, sondern auch über uns geurteilt wird.
Jesus fragt mit seinem Gleichnis: Seid ihr auf die Schlussfrage eingestellt? Lernt von den Kindern dieser Welt, klug zu antworten. Jesus demonstriert uns diese Klugheit, Geistesgegenwart und Zielstrebigkeit nicht an einem moralisch korrekten, untadeligen Menschen, er stellt uns einen Betrüger als beispielhaft hin, wo der unehrliche Verwalter eine Gelegenheit nutzt, die er eigentlich gar nicht mehr hat; in den Augen des Richters ist es eigentlich schon zu spät.
Wenn Gott von uns Rechenschaft fordert, dann gibt es doch Dinge im Leben, mit denen wir vor der kritischen Frage vielleicht nicht bestehen können. Zu tief haben sich die Furchen der Schuld in mir eingegraben. Nun kommt Jesus von Nazareth auf den Plan und verändert die Schuldfrage und damit auch unsere Antwort. Durch ihn sollen wir beten „vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben (haben) unsern Schuldigern!“ Denn die entscheidende Gerechtigkeit, die Jesus vertritt und an uns übt, heißt Barmherzigkeit. Das Verhalten, das Jesus von uns erwartet, heißt Verzeihen – das, was der ungerechte Verwalter zur Hälfte oder zu Teilen tut, weil der die Schulden zur Hälfte oder zu guten Teilen erlässt. So sollen auch wir handeln: vergeben. Wir sollen es von ganzem Herzen tun und mindestens so klug sein wie ein ungerechter Verwalter. Jesu Botschaft ist pure Barmherzigkeit, wie sie aus dem Lied Philip Friedrich Hillers spricht, das im Gesangbuch steht: „Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, derer ich nicht wert; das zähle ich zu dem Wunderbaren, mein stolzes Herz hat’s nie begehrt. Nun weiß ich das und bin erfreut, und rühme die Barmherzigkeit“ (EG 355,1).
Jesus erzählt seine Beispielgeschichte vom Verwalter, der die Schulden erlässt, jedenfalls zum Teil. Wir sollen uns daran ein Beispiel nehmen, und mehr! Wir sollen ganz vergeben, weil uns vergeben wurde. Wir haben einen Vater im Himmel, der uns nicht verurteilt, sondern uns vergeben hat. Jesus stirbt für diese Vergebung unserer Sünden. Der Sohn des himmlischen Vaters setzt sich selbst als Unterpfand der Erlösung ein. Jesus wird so zur Sackgasse des Bösen. Und durch seine Auferweckung nach dem Tod, an Ostern können wir mit den Jüngern damals begreifen: hinter Jesu Vergebung steht Gott. Das, was nach den Maßstäben dieser Welt unmöglich ist, macht Gott möglich. Was an Barmherzigkeit möglich ist, wie notwendig ist, um uns zu vergeben, das macht Jesus real, damit wir vergeben können und vergeben. So wird aus der Geschichte vom ungerechten Verwalter, der aus lauter Verzweiflung seinen Schuldnern vergibt, die Geschichte unseres Lebens, in dem uns seit unserer Taufe von Gott vergeben ist, sodass wir vergeben können und sollten, und zwar nicht nur zur Hälfte oder zu guten Teilen, sondern ganz!
Normalerweise liest man in den Evangelien viel Kritik an Geld und Reichtum, auf dem Höhepunkt der Bergpredigt sagt Jesus sogar „selig, ihr Armen, wehe, ihr Reichen!“ (Lk 6,20-24) Die Kritik kommt daher, weil die Bibel befürchtet, dass dieser Reichtum von Gott ablenkt. Schnell kann Geld zum Götzen werden und Lebenskräfte binden! Man würde nun erwarten, dass die Folge solcher Gedanken in der Bibel die Warnung vor dem Geld als solchem wäre, im Sinne eines „Hände weg!“ Aber es geht Jesus doch wohl eher darum, das Geld richtig zu benutzen. Mit den Worten, die dem Predigttext unmittelbar folgen, die unsere Geschichte noch einmal steigernd auf den Punkt bringen: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn er zu Ende geht, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten“ (Lk 16,9). Offensichtlich ist es möglich, mit irdischem Besitz etwas für das Ewige zu tun, ohne sich die Ewigkeit dadurch zu erkaufen.
Auf meinem Schreibtisch lagen in diesem Jahr schon Spendenbescheinigungen über 20.000 und 50.000 €, dafür sollte ich Dankesbriefe schreiben. Zugegebenermaßen kommen solche hohen Spenden auch bei uns in Starnberg nicht jeden Tag vor. Und keine Spende, auch nicht in dieser Höhe, lässt eine Seele in den Himmel springen. Aber eine solche Spende macht möglich, dass wir in der Gemeinde sorgenfrei etwas Großes anpacken und voranbringen. Die Kirche ist ein Zuhause für Gottes ewiges Wort. Jede Kirche ist in unseren Dörfern und Städten eine Erinnerung an Gott. Die Menschen, die ihr Geld zur Verfügung stellen, könnten es natürlich auch für ganz andere Dinge gebrauchen. Es diese Menschen haben offensichtlich – gut betucht bleiben sie ja auch nach der Spende – die Möglichkeit, sich nicht nur verbissen an den eigenen Besitz zu klammern, sondern im Leben etwas weiterzugeben, und dann mit dem so anders eingesetzten Geld etwas zu bewirken. Sie sind vielleicht ein wenig wie positive Beispiele für den ungerechten Verwalter …
Jesus stellt uns mit diesem heutigen Predigtwort auf ungewöhnliche Weise vor das Angesicht Gottes. Fast ein wenig wie mit dem Humor eines Kabarettisten vermittelt Jesus uns eine ernste Botschaft: eigentlich ist unser Leben verwirkt. Das zeigt sich am Umgang mit dem Geld. Aber so, wie wir mit Gottes Barmherzigkeit rechnen dürfen, so können auch wir untereinander barmherzig sein. Und wenn wir Gott und Gottes Gnade erst einmal am eigenen Leib erlebt haben, werden wir sie auch bei anderen anzuwenden wissen. Ohne Barmherzigkeit wären wir alle verloren. Durch Jesus gilt, dass wir gnädig und begnadigt gerettet wurden, damit wir helfen, andere zu retten; dass uns vergeben wurde; nicht damit wir unbarmherzig bleiben, sondern um anderen zu vergeben. Damit lasst uns nun auch noch heute beginnen …
Amen.
Predigt über Daniel 7,1-3.13-18.27
(gehalten am 01. November 2020, in Starnberg)
Liebe Gemeinde,
die Menschen, die ich derzeit anrufe, weil ich sie nicht besuchen darf, stellen mir oft knifflige Fragen. Die besten Antworten darauf fallen mir in der Regel zwei Tage nach unseren Gesprächen ein. Und tiefe theologische Fragen kommen oft aus einem Kindermund: Was macht Gott in der Nacht? Am Tag beschützt er uns und sorgt für uns, aber in der Nacht schlafen wir ja, da muss er nicht so viel auf uns aufpassen wie am Tag. Was macht Gott dann in der Nacht, wenn er mehr Zeit hat? Eine junge Dame im Kindergottesdienst wusste es, ganz klar, „in der Nacht macht Gott Gnade“. Und so heißt es doch in der Bibel: Seine Gnade ist jeden Morgen neu. Für mich ist das eine erfrischend neue Einsicht: Gnade wird Nacht für Nacht neu gemacht wie frische Brötchen, wie der Sauerteig und die Körner, die lange einweichen. Gottes Gnade ist jeden Morgen neu, wenn wir schlafen macht Gott Gnade.
Im Predigttext für den heutigen Sonntag ist von einer solchen Nacht die Rede, in der Gott Entscheidendes macht: nicht Gnade, sondern einen besonderen Traum formt Gott im Gemüt eines berühmten Schläfers. Im Buch, das nach ihm heißt, wird erzählt, wie der junge Daniel als Teenager aus seiner Heimat Jerusalem nach Babylon verbracht wurde. Man kann vermuten, dass er da 15 Jahre alt ist. Er wird in dreijähriger Ausbildung zu einem höheren Verwaltungsbeamten geschult, deren Beste damals dort lebten, wo man viel früher eigens für die Verwaltung die Schrift erfunden hatte. Daniel findet seinen Arbeitsplatz in der Kanzlei des damaligen Großkönigs Nebukadnezar. Zwar galten die hohen Verwaltungsarbeitsplätze an einem orientalischen Hof oft als Schleudersitze, aber unser Daniel arbeitete dort Jahrzehnte lang, bis dann die Perser das babylonische Reich erobern und beerben. Daniel freilich ist ein gefragter Fachmann, er bleibt auf hoher Ebene in der Regierung tätig; wir würden sagen, als Abteilungsleiter im Ministerium, wo das wirkliche Wissen sitzt, das auch bei jedem Chefwechsel im Haus bleibt. Als die Bibel das letzte Mal von Daniel erzählt, sind 70 Jahre seines Lebens vergangen, Daniel ist am Ende 85 Jahre alt, wir schreiben das Jahr 536 vor unserer Zeitrechnung. Also spielt diese ganze Geschichte im 6. Jahrhundert vor Christus.
Dieser Daniel kennt seinen jüdischen Glauben. Also weiß Daniel etwas von Gottes Gnade auch in Nächten des Umbruchs und der unsicheren Zukunft. Er hat sein Elternhaus verloren, seine Heimat hinter sich gelassen, seine Freiheit eingebüßt. Aber trotz seiner neuen Umgebung vertraut Daniel dem Gott der jüdischen Mütter und Väter, Tag, Nacht, wach und im Traum. Und er ist, das belegt sein Buch, ein Medium. Er empfängt von Gott Visionen. In allen Träumen dreht es sich darum, wie es jetzt inmitten der Verwerfungen in der Welt mit dem kleinen Volk Gottes weitergeht. Noch einmal zur Verortung: die jüdische Hauptstadt Jerusalem ist zerstört, der Tempel dort verbrannt, alles, worauf sie in der Theologie und in der Architektur einmal bauten, liegt in Trümmern. Ein Neuanfang steht nur in den Sternen, oder?
Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, hatte Daniel einen Traum und Gesichte auf seinem Bett; und er schrieb den Traum auf: Ich, Daniel, sah ein Gesicht in der Nacht, und siehe, die vier Winde unter dem Himmel wühlten das große Meer auf. Und vier große Tiere stiegen herauf aus dem Meer, ein jedes anders als das andere … Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende. Ich, Daniel, war entsetzt, und dies Gesicht erschreckte mich. Und ich ging zu einem von denen, die dastanden, und bat ihn, dass er mir über das alles Genaueres berichtete. Und er redete mit mir und sagte mir, was es bedeutete. Diese vier großen Tiere sind vier Königreiche, die auf Erden kommen werden. Aber die Heiligen des Höchsten werden das Reich empfangen und werden es immer und ewig besitzen … Aber das Reich und die Macht und die Gewalt über die Königreiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden, dessen Reich ewig ist, und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen.
Das Traummeer ist das Völkermeer, ihm entsteigen vier Raubtiere, vier damals bekannte Imperien und mächtige Reiche. Das vierte Traumtier hat buchstäblich ein großes Maul, mit dem es lästerlich redet, das Volk Gottes zerstört und alles plattmacht. Dieses Unheil währt aber nur, bis Gottes Stunde gekommen ist. Kameraschwenk, da kommt der lebendige Gott in den Blick, lebendig und uralt. Uralt will sagen: es gab ihn schon immer.
Wieder eine neue Szene, Blende in ein Gericht: Traumbücher werden geöffnet, es liegt Beweismaterial vor. Die Mächte der Geschichte müssen sich vor Gott verantworten, die politischen Reiche, die wirtschaftlichen Imperien, die Ideologien der Welt. Geurteilt wird über sie nach der Tat, nicht nach der vermeintlichen oder schändlich behaupteten Absicht.
Da tritt eine Figur auf, die aussieht wie ein Mensch. Sie kommt nicht aus dem Völkermeer hoch, ist kein ‚Aquaman‘, sondern sie erscheint mit den Wolken des Himmels, von oben, aus der Traumdimension Gottes, der scheinbar durchsichtigen, in Wahrheit unendlichen Bläue über uns. Dieser geheimnisvollen Figur gibt Gott im Traum die Macht in die Hände. Alle Völker und Sprachgruppen auf Erden werden ihm dienen. Das Wort für „dienen“, das hier im aramäischen Bibeltext steht, hat in dieser alten Sprache den Beiklang „anbeten“. Alle Völker werden ihn verehren. Wer ist dieser geheimnisvolle Menschensohn? Und hätte er sich in der Geschichte zur Zeit des Daniel oder danach auch gezeigt und die Perser in die Schranken gewiesen? Im Judentum wartet man bis heute auf sein Erscheinen, erwartet ihn als Gesandten Gottes, als „Messias“. Wir Christen beten ihn am Heiligen Abend im Kind in der Krippe an.
Großer Zeitsprung, wieder befinden wir uns in einer Nacht mit wenig Licht. Es ist die Nacht vor dem Karfreitag. Jesus ist verhaftet worden und steht im Jerusalemer Hohen Rat vor dem geistlichen Gericht seiner Zeit. Der vorsitzende Richter und Hohepriester fragt nach seiner Identität. Wir werden in den Evangelien Zeugen eines existenziellen Streitgesprächs, es geht um Leben und Tod. Die entscheidende Frage, in dem Wortlaut, den der Evangelist Markus für uns festhält, lautet: Wer bist du, Jesus von Nazareth? Bis du der Sohn Gottes? Der Retter Israels? Der wahre König im Land? Ein neuer Prophet, Gottesdienstreformer, Tempelkritiker, Sozialrevolutionär, Frauenfreund, strenger Rabbi? All das könnte Jesus sein, so wie er auftritt …
Unter allen möglichen Fragen nach Jesu Identität wählt der Hohepriester diese eine Antwort aus: „Bist du der Christus, der Sohn Gottes?“ Und Jesus? Antwortet zielgerichtet darauf mit einem klaren Ja, und mehr: „Ich bin’s; und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen mit den Wolken des Himmels“ (Mk 14,62). Nach dem Wort aus seinem eigenen Mund ist Jesus der geheimnisvolle Menschensohn, den der lebendige Gott zum Herrscher der Welten einsetzt, die Traumfigur als Daniels Nachtgesicht! Aufgrund dieser Aussage wird Jesus unmittelbar danach zum Tod wegen Gotteslästerung verurteilt. Der schon länger alarmierte Hohe Rat hat die Bedeutung dieses Satzes gewiss unmittelbar erfasst, man weiß, was in diesem Anspruch steckt. Wenn das stimmte, müsste das gesamte Gremium augenblicklich vor Jesus auf die Knie fallen und anbeten: „mein Herr und mein Gott“. Aber wir wissen ja, wie der Prozess Jesu weitergeht …
Unsere Zeit, liebe Gemeinde, war, mindestens bis Corona kam, Kind einer Strömung, die nun mehr und mehr zerbröckelt. Die fast alles verdauen konnte, alles zum Ziel eines Freischusses erklärte, was ihr religiös vor die Flinte kam. Einen solchen postmodernen Relativismus kann man auf Dauer gut denken, aber man hält ihn religiös nicht durch, man kann so nicht dauerhaft leben, erst recht nicht in einer Gesellschaft, die seit Jahren um ihre Werte ringt und nach Integration strebt und fragt, wo sie sich das Beispiel hernimmt. Im Anspruch Jesu steckt freilich ein Wahrheitsanspruch, der aufs Ganze geht. Ein islamistischer Attentäter sticht um sich, ruft den Namen dessen, den er für seinen Gott hält, der ihn vermeintlich beauftragt hat zur Gewalt, und reißt Unbeteiligte mit in den Tod. So jemand ist ein Mörder, kein Märtyrer. Man muss ihm widerstehen, ein Staat wird das notfalls mit rechtserhaltender Gewalt tun. Wenn es nämlich um Tod oder Leben geht, um die Frage von Gut und Böse, um den Erhalt des Lebens oder seine Zerstörung, dann komme ich nicht darum herum, Stellung zu beziehen und für meine Überzeugung einzustehen. Mir jedenfalls stellt sich dann die Frage nach der Wahrheit, nach Jesus, nach der Wahrheit immerhin, für die ich stehe und eintreten möchte mit aller notwendigen Konsequenz.
Jesus von Nazareth, den der lebendige Gott zum Herrn aller Völker eingesetzt hat, hat seinen Jüngern in der Nacht seiner Verhaftung aber auch gesagt: Lasst das Schwert beiseite, wer das Schwert nimmt, kommt durchs Schwert um. Er blieb wehrlos, wurde verspottet, gefoltert, angespuckt, gequält und gekreuzigt, er ist gestorben und wurde begraben. Und in den beiden Nächten zwischen Karfreitag und Ostern hat Gott Gnade gemacht. Denn danach ist das Unglaubliche geschehen: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt, rein aus Gnade.
Diese Auferstehung war keine Wiederbelebung eines Leichnams, der dann irgendwann wieder stirbt, sondern der Einbruch der Ewigkeit, der Durchbruch zum ewigen Leben, das Licht in der Nacht, das nicht mehr verlischt. Und mit der Auferweckung hat Gott gnädig besiegelt, was Jesus zu Lebzeiten über Gott neu gedacht, in seinen Gleichnissen von Saat und Ernte über das Reich Gottes verkündigt und in ersten Zeichen wie Brot und Wein auf dem Tisch schon umgesetzt hat. So war der Tod Jesu nicht das individuelle Ende eines umstrittenen Märtyrers oder auch nur eines religiös getriebenen Gutmenschen. Am Tag der Auferweckung hat Jesus nicht privat Ostern gefeiert und war der Überraschungsgast beim Ostereiersuchen seiner ernüchterten Jünger. Sondern was durch den Menschensohn geschehen ist, was Gott mit Jesus gemacht hat, wovon zuallererst Daniel geträumt hatte, das ist geschehen, damit es uns heute noch erreicht und zur Gnade gereicht. Zur Gnade, denn gibt nun einen Ort, an den wir mit aller verborgenen oder offenkundigen Schuld unseres Lebens hingehen können, um Vergebung zu empfangen: das Kreuz Jesu Christi.
Ja, in den beiden Nächten zwischen Karfreitag und Ostern, als Jesus tot war und die Jünger unruhig schliefen, weil sie dachten, dass Gott schlecht auf Jesus aufgepasst hat, da hat Gott Gnade gemacht. Und diese Gnade ist seitdem am Werk und in Geltung. Es gibt seitdem diesen Weg, der über Tod und Grab und Gericht durch Gottes Gnade zum ewigen Leben führt. Es ist der Blick auf das Kreuz, der Taufkontakt mit dem Auferstandenen und der Schritt an den Tisch des Herrn im Heiligen Mahl mit dem Kelch Christi und seinem Blut, der Gnadenstuhl, wie Luther ihn im Blick auf den Römerbrief (Röm 3) nennt. Oder wie das Joh Jesus sagen lässt: „Wer an mich glaubt, der hat schon das ewige Leben, auch wenn er stirbt“ – an Corona oder an etwas anderem, ganz egal. Wer mit dem Blick auf das Kreuz stirbt, stirbt in die Gnade Gottes hinein, aus der ihn nichts herauslösen kann …
Schlussszene. Jesus tritt als Auferstandener in Galiläa zu seinen Jüngern. Er lebt nicht mehr in dieser dreidimensionalen Welt, sondern in der vielfachen Dimension Gottes, in der gnädigen Ewigkeit. Seine Worte, die wir vorhin zur Taufe gehört haben, klingen wie eine Regierungserklärung: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,16). Der Menschensohn ist wieder oben angekommen, nachdem er erst zu uns herab musste. Mir ist sie gegeben, das heißt, der ewige Gott hat sie ihm verliehen. Jesus holt sie sich nicht wie eines der kleinen und großen Raubtiere in der Geschichte, die eine Spur der Verwüstung hinterlassen, wohin sie sich in ihrer Macht- und Zerstörungslust auch wenden, verbal oder militärisch. Ein anderes Licht ist nun in der Welt, das wir weitertragen sollen, wo es noch nicht scheint.
Denn dann überträgt Jesus seinen Auftrag an die Jünger damals, heute also an uns, die wir nun ihn auf Erden vertreten sollen, Menschensöhne und Menschentöchter, Gotteskinder, die wir sind. „Geht hin, macht zu Jüngern alle Völker“. Dass Menschen aus allen Kulturen und Sprachen vor Jesus die Kniebeuge machen und fröhlich sagen: mein Herr und mein Gott, darauf zielt das Licht, dazu sollen wir den Menschen leuchten! Dass sie den wahren Gott anbeten, verehren und ihm dienen.
In den Nächten der Passion hat Gott Gnade gemacht. Gnade sogar für Islamisten, Gnade für postmodern Unentschlossene, Gnade für die hasserfüllten Herzen der Verschwörungstheoretiker, Gnade für die Maskenverweigerer, Gnade für unsere Alten, Gnade für unsere Konfirmanden, Gnade für unsere Toten, Gnade für uns als Gemeinde im Ausnahmezustand, sogar Gnade ganz privat für dich und auch für mich.
Und das ist eben nicht unsere, sondern Gottes Gnade, jeden und alle Morgen neu. Gnade für uns, ganz frisch gemacht. Ist noch warm und duftet.
Isso. Amen.
Predigt über Eph 4,22-32
(gehalten am 18. Oktober 2020, in Starnberg)
Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen und gebt nicht Raum dem Teufel. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es hören. Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.
Liebe Gemeinde,
niemand, den ich kenne, mich selbstredend eingeschlossen, lässt sich gerne einen Katalog von Ermahnungen entgegengehalten. Nach dem ersten Eindruck, dass da viel von einem verlangt wird und dass man das genau so wahrscheinlich nicht hinkriegt, steigt rasant die Gefahr des Abschaltens. Ich kann mir aber vorstellen, dass diese Worte dennoch aktuell und hilfreich sind. Mit dem Impuls, den alten Menschen anzulegen und den neuen Menschen anzuziehen beginnt es. Gemeint ist tatsächlich das Ablegen von Kleidung. Mit dem Bild vom Umziehen beschreibt der Eph, was für das Leben jedes Christenmenschen wichtig ist.
Vielleicht haben wir es in der Kirche manchmal bei der Taufe einfach zu eilig. Da kommen die Kinder schon in Weiß, statt vor dem Gang ans Taufbecken die alten Kleider abzulegen und nach der Taufe erst das weiße Kleid zum Zeichen angelegt zu bekommen, dass mit der Taufe auf den Namen des dreieinen und dreifaltigen Gottes ein radikal neues Leben begonnen hat. Auch der verlorene Sohn, von dem Jesus (Lk 15) als ein Gleichnis für die Kinder Gottes erzählt, bekommt nach seiner Rückkehr aus dem Schweinetrog ins Haus seines Vaters ein neues Kleid und einen Ring als Ausdruck für das neu geschenkte Leben.
Nun aber den alten Menschen ablegen, den neuen Menschen anziehen wie ein Kleid, das ist nicht ganz so einfach wie bei der Taufe neu überkleidet zu werden (oder den weißen Talar anziehen). Langjährig Mitglied unseres Bibelkreises bin ich ja ein Freund davon, diese alten Texte sorgfältig zu lesen. Und das muss ich über die Geschichte der Wirkung unseres Bibeltextes schon feststellen: Die Redeweise vom „neuen Menschen“ war lange anfällig für viele Ideologien, die den makellosen, den idealen Menschen schaffen wollen. Der Epheserbrief hingegen macht sich Sorgen um den „alten Menschen“, der sich aufreibt in „trügerischen Begierden“. Es geht um jemand, der verkommt und es nicht merkt. Dieser Mensch wähnt sich unabhängig und frei, er verbraucht sich selbst und die anderen in der Sehnsucht danach, aus der Welt das Möglichste herauszuholen – wie der verlorene Sohn das Erbe zum Verleben und Prassen verschleudert hat. Der neue Mensch wiederum ist keine Neugeburt aus dem Mutterleib, sondern der von Gottes Güte ein für alle Mal in der Taufe völlig neu geschaffene Mensch. Dieser Mensch gehört ganz auf Gottes Seite, wie der verlorene Sohn ins Haus seines Vaters gehört. Niemand kann dem Sohn – und genauso einer Tochter, die diesen Weg geht – das streitig machen. Und gewiss wird der Rückkehrer sich jetzt anders verhalten als früher. Vielleicht wird er wieder mal in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Doch er gehört ins Haus seines Vaters und diese Zugehörigkeit wird ihn verändern, wird ihn langsam aber sicher verwandeln.
Wir sind durch unsere Taufe neue Menschen. Und auch wir sind aufgefordert, unseren Geist und unseren Sinn zu erneuern und als erneuerte Menschen zu leben. Ein solches Leben ist offensichtlich ein fortwährender Prozess, der ein Leben lang dauert. Er kennt aber auch Schwellen, die man einmal überschreitet und dann in diesem Prozess drin ist.
Hoffnungsvoll daran finde ich heute besonders, dass der notwendige und gewünschte Wandel und die erforderliche und intendierte Veränderung immer möglich sind. Niemand unter uns wird auf seine alten Verhaltensweisen festgelegt, als gäbe es nur sie. „Werde, was du bist – in Christus“ – so hat es der Schweizer Theologe Karl Barth einmal formuliert und hat damit ein altes liberales Motto konsequent auf das Kreuz Christi hin interpretiert. Durch Gott kommt zum Vorschein, wer wir in Wahrheit sind, deshalb können wir werden, was wir immer sein sollten. Und wir werden es auch, weil Gott seinen Segen auf unser Werden legt.
Bei diesem Werden wird von uns nicht verlangt, dass wir in Sachen Sünden fehlerfrei und bei Verfehlungen teflonartig resistent werden. Sondern wir sollten uns ermutigen lassen zu Veränderung, offen bleiben für hilfreiche Hinweise, dürfen uns vergeben lassen und sollten zuvor anderen vergeben haben. Wenn wir aus dieser Haltung heraus noch einmal die Aufzählung anschauen, wozu wir ermahnt und ermutigt werden, wirkt sie auf mich nicht mehr nur streng.
„Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen“ – manchmal könnte ein gelinder Zorn eine notwendige seelische Reaktion auf erlittene Kränkungen und Verletzungen sein. Vielleicht ist Zorn ist auch angemessen, wenn wir Unrecht bemerken, das andere trifft. Möglicherweise wäre gut gepolter Zorn zunächst ein Aufschrei, eine Weigerung, eine Kraft, die man nutzt, um Verletzungen zu verarbeiten, um neue Lösungen zu finden, um Situationen zu verändern. Das Alte Testament hat freilich – je länger, je mehr – eine Allergie auf menschlichen Zorn, die sich darin ausdrückt, die Berührung mit dieser ansteckenden Krankheit nicht nur der damaligen Zeit möglichst zu vermeiden. Man kann fast die biblischen Texte in Schubladen stecken, wie sie im Zorn des Menschen ein immer röter werdendes Tuch entdecken …
Und es stimmt schon, leider geschieht häufig das durch den Zorn aufgerufene andere, dass Menschen die Kraft der Empörung zerstörerisch ausleben und sich und anderen schaden. „Zürnt ihr, so sündigt nicht“ vermittelt der Eph. Wenn ihr tatsächlich zürnt, sucht immer das Gute, das, was hilft, mit aller Kraft. So könnte vielleicht wirklich mit der Kraft, die aus dem Zorn kommt, es möglich sein, eine Veränderung zu verwirklichen, dann würde sie uns und anderen zum Segen werden. Dann werden wir uns auch nicht in einen Zorn hineinsteigern, in eine ohnmächtige, aber umso heftigere Wut, in eine Verschwörungstheorie, eine Anfeindung die jemand zum Tier statt zum Menschen erklärt.
Wir müssen nicht stehen bleiben bei der Verurteilung anderer (und unserer selbst), sondern sollen stattdessen eine Lösung suchen. „Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist“, also hören wir bitte auf mit bösen Worten, sondern reden die Guten, die denen, die sie braucht, stärken, und dem, der es hört, Nutzen bringt. Manchmal muss man sich selbst nur einmal reden hören als wäre man ein Fremder; manchmal muss man nur begreifen, dass man es selbst ist, der so redet, dann erschrickt man gehörig. Jürgen Klopp, dem heutigen Manager des FC Liverpool scheint es einmal so ergangen zu sein, als er selbst die auch ihn verstörenden Bilder von einem seiner Ausraster an der Seitenlinie des Fußballfeldes sah und hörte, was er da schrie, hat er angefangen nachzudenken, ein gewisses Maß noch immer zu halten …
Zu dem griechischen Philosophen Sokrates, heißt es, kam jemand aufgeregt gelaufen. Die Geschichte ist zwar nicht wahr, aber gut, dass es sie gibt, obwohl sie nicht in der Überlieferung des Sokrates zu finden ist. Sie zeigt, wie nahe sich unter den frühen Christen die Theologen und die griechischen Philosophen waren, sodass der eine und der andere das Gleiche aussagen konnte. Zum Philosophen kam jemand aufgeregt gelaufen „Höre, das muss ich dir erzählen, wie dein Freund“ … „Halt ein“, unterbricht ihn der Weise, „hast du, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe geschüttelt?“ Drei Siebe, fragt der andere verwundert. „Das erste Sieb ist die Wahrheit. Hast du, was du mir erzählen willst, geprüft ob es wahr ist?“ „Ich hörte so erzählen“ … „Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft. Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst, wenn schon nicht als wahr erwiesen, wenigstens gut?“ Zögernd sagt der andere: „Nein, gut ist es nicht, im Gegenteil.“ „Dann“, so unterbrach der Weise sein Schweigen, „lass uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so erregt.“ Der wiederum: „notwendig nun gerade nicht.“ Da lächelte der ‚Sokrates‘. „Wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit“.
Freilich gibt es auch Menschen, die so schnell nicht durch einen klugen Rat aus einer Verbitterung herausfinden. Diese Bitterkeit schadet ihnen zwar anhaltend, denn wenn ich bitter würde, wäre ich nicht mehr empfänglich für Dankbarkeit und Freude. Bitterkeit ist oft die giftige und vergiftende Folge von erlittenen Verletzungen, von Unrecht, von Schicksalsschlägen, die in ihrem verletzenden Ausmaß nicht genügend gewürdigt wurden. Manchen Menschen fehlt ein Ort für die Klage, vielen Menschen fehlen die Mitmenschen, die mitfühlen und uns bestätigen, dass das, was wir erleiden, schlimm ist. Zuweilen fehlt sogar uns die Möglichkeit, etwas intensiv und lebendig zu betrauern – und dann weiß sich die Seele nicht anders zu helfen, als bitter zu werden. Wer bitter geworden ist, wurde wohl zu wenig gesehen.
Unsere interessierte Aufmerksamkeit füreinander, dass wir uns gegenseitig zuhören bei unseren Geschichten – das kann helfen. Gott sieht jede Verletzung, die ein Menschenkind erleidet, und er sieht sie im ganzen Ausmaß und fühlt mit. Wir Menschenkinder müssen hier tatsächlich wohl am meisten noch lernen und ganz neu aus unserer Taufe herauskriechen als erneuerte Menschen, die einen Sinn dafür haben, Bitterkeit wegerzählen zu lassen.
Am Ende des Textes werden wir zu gegenseitiger Vergebung ermutigt. Es ist natürlich leichter, jemandem zu vergeben, der sein Verhalten bereut, als jemandem, der unberührt ist von den Folgen seines Tuns. Und es gibt Situationen, wenn jemand mein Vertrauen so grob missbraucht hat oder sogar ein Verbrechen begangen hat, da ist es oft eine Überforderung, vergeben zu müssen. Mir hilft dabei zu bedenken, wie viel mir schon vergeben werden musste und von unglaublich großherzigen Menschen – echten Freundinnen und Freunden – vergeben wurde. Wenn Gott genauso zu vergeben vermag (und darum bete ich in jedem Vaterunser), sehe ich Licht am Ende dieses Tunnels … und es ist nicht der auf dem gleichen Gleis entgegenkommende Zug, der mir da erscheint.
Amen.
Predigt über Mk 8,1-9 II
(gehalten am 4. Oktober 2020, zum Erntedanksonntag, in Starnberg)
Zu der Zeit, als wieder eine große Menge da war und sie nichts zu essen hatten, rief Jesus die Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Mich jammert das Volk, denn sie harren nun schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. Und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Wege verschmachten; denn einige sind von ferne gekommen. Seine Jünger antworteten ihm: Woher nehmen wir Brot hier in der Einöde, dass wir sie sättigen? Und er fragte sie: Wie viele Brote habt ihr? Sie sprachen: Sieben. Und er gebot dem Volk, sich auf die Erde zu lagern. Und er nahm die sieben Brote, dankte, brach sie und gab sie seinen Jüngern, dass sie sie austeilten, und sie teilten sie unter das Volk aus. Sie hatten auch einige Fische; und er sprach den Segen darüber und ließ auch diese austeilen. Und sie aßen und wurden satt. Und sie sammelten die übrigen Brocken auf, sieben Körbe voll. Es waren aber etwa viertausend; und er ließ sie gehen.
Liebe Gemeinde,
wieder ist eine Menge Menschen zusammengekommen, um Jesus zu hören. Wieder frisst Hunger Löcher in Bäuche. Vielleicht sind Jesu Jünger noch damit beschäftigt, die Speisung der 5000 zu verdauen, die das Evangelium kurz zuvor (Mk 6,30-44) berichtet hat? So merken sie gar nicht, dass es schon wieder so weit ist. An die Elisa-Geschichte (II Reg 4,42-44) denken sie erst recht nicht. Und erneut kommt kein Partyservice in Sicht, keine Cateringfirma bietet sich an, nicht mal eine Hilfsorganisation mit Care-Paketen lässt sich aufstöbern und regnet praktischerweise alles vom Himmel wie damals die Schokolade über Berlin. Ein Festival mit 4000 Leuten, die seit drei Tagen nichts mehr zu essen haben, die muss man erst mal satt kriegen; und in Corona-Zeiten erst, wo vielfach darauf verzichtet wird, Essen am Buffet auszugeben, weil die Hygieneauflagen jedes Wunder schon im Ansatz torpedieren …
Heutzutage kleiden sich Hungergeschichten für uns vielfach in Kriegs- und Nachkriegsgeschichten, wie sie meine Großmutter noch erzählte, weil sie die fünf Kinder ohne Opa durchbringen musste. Nur wenn ich aus eigener Dummheit vergesse auf einer Wanderung, die sich zieht, genug Wasser und Brot einzusacken merke ich, wie sehr die Entkräftigung zupackt, wie man auch auf ebenem Weg hungrig schnell ins Stolpern kommt und das eigentlich erreichbare Ziel sich am Horizont verliert und mit ihm der Mut sinkt. Da wünscht man sich dann, dass ein Wunder nur für einen selbst geschieht und das Ziel unvermittelt vor einem steht – aber ich weiß ja aus Erfahrung, dass das unerfüllbar bleibt. Nun haben unsere Kinder im Kindergarten freilich ihre eigene Art, mit unerfüllbaren und unmöglichen Wünschen umzugehen …
Meine persönliche Hungergeschichte ist jetzt 33 Sommer her. Nach dem Abitur mit 17 Jahren habe ich schnell mit dem Studium begonnen und in Erlangen Sprachen und fünf Semester lang die Grundlagen gelernt. Es folgte ein Jahr, in dem ich in Münster in Westfalen für katholische Theologie eingeschrieben war, während meine Freundin in Jerusalem studierte. Danach würden wir beide dann weiter Evangelische Theologie studieren und uns verloben, so war es geplant. Zwischenzeitlich besuchte ich sie für ein Semester im Heiligen Land, wo mir deutlich wurde, dass es schon einen anderen gab, der passenderweise auch Stefan hieß. Für die nächsten 8 Wochen nach der Trennung zog ich alleine durch Israel, um das Land kennenzulernen und mich daran zu gewöhnen, solo zu sein. Zu Fuß und per Autostop war ich über Stock und Stein und Straße und Weg unterwegs, oft hatte ich abends nichts zu essen, manche Tage hungerte ich ganz, einmal auch, weil es am Sabbat natürlich nichts zu kaufen gab. Ich lernte, wie wunderbar Wasser schmeckt, frisch erst recht, aber auch anderes. Und ich lernte, wie warmes Brot, nur kurz aus dem Ofen, fladenweise in der Brotfabrik zu bekommen ist. Bis heute liebe ich Brot und kann es zu jedem Essen brauchen.
„Wovon lebt der Mensch?“ fragt Bertold Brecht in der Dreigroschenoper. Und als Refrain lässt der Dichter dort diesen Kehrvers erklingen: „Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst. Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.“ Weshalb Jenny – die unwahrscheinliche Stimme der Moral im Stück bei Brecht, logischerweise eine Frau, ihr klingt dieser Refrain in den Ohren – im Blick auf die Armen der Gesellschaft es auf die bis heute noch bekannte, traurigrichtige Maxime bringt: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, konkret gesagt, damit man es nicht missversteht: „Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben, dann könnt ihr reden: damit fängt es an.“ Und genau aus diesem Grund werden im NT die Speisungsgeschichten erzählt, die wir heute noch dort lesen und an Erntedank beherzigen sollen.
Darum sollte man diese Speisungsgeschichten über die Fülle bei Gott, über den Hunger nach guten Worten und Broten und über das rundum Sattwerden auch unter dem Gesichtspunkt lesen, der aufblitzt, wenn man auf die Blickrichtung des kurzen Dialog zwischen Jesus und seinen Jüngern beherzigt. Die Jünger fragen Jesus, woher sie hier in der Einöde Brot nehmen sollen. Und Jesus fragt zurück: Wie viele Brote habt ihr selbst? Jesus ist es nicht um ein Wunder zu tun, das die Jünger nicht bewerkstelligen. Sondern Jesus fordert die Jünger auf, zu tun, was sie können, und alles das einzubringen, was sie haben.
Und das ist ja auch die tiefste Bedeutung des Wunschautomats der Kinder unseres Kindergartens. Die Tüte Gummibären, die zu Demonstrationszwecken erwünscht wurde, die konnten wir voraussehen und sie besorgen, sodass eine schnelle Erfüllung möglich war zum nur scheinbar überraschenden Beleg, dass der Apparat auch funktioniert. Bei allen anderen, vor allem bei den wichtigen Wünschen freilich geht es darum, in den Wünschen der Kinder ihre eigenen und unsere Möglichkeiten und Grenzen zu entdecken. Kinderwünsche sind Beziehungsbotschaften. Und in diesen Wünschen ist zu ersehen, was die Kinder von sich selbst erwarten, was sie sich selbst zutrauen, und wo sie unsere Hilfe brauchen.
Darum ist mein Blick auf unser Leben heute an Erntedank nicht eine Frage der persönlichen materiellen Bilanz plus minus trotz Corona-Pandemie. Sondern unser Erntedank in diesem Jahr sucht für mich eine Antwort auf die Frage, ob wir in diesem Jahr unsere Möglichkeiten aktiviert haben, oder ob wir auch in diesem Jahr an immer den gleichen persönlichen Grenzen stehengeblieben sind, statt sie hinauszuschieben und uns mit Gottes Hilfe weiterzuentwickeln und zum Besseren zu verändern. Ob wir die Selbstheilungskräfte in uns gefunden haben, die in uns stecken, oder ob wir in der Lehmschicht des Selbstmitleids steckengeblieben sind.
Und so frage ich Euch: Wie seht ihr auf euer persönliches Erntejahr? Ist euer Korb eher voller Erfahrungen, Erfahrung gewiss mit beidem, eigenem Können und eigenem Scheitern, beide Erfahrungen sind bedeutsam und wichtig. Oder ist der Erntekorb eher leer, weil dir der Mut ausging? Wieder einmal oder erstmals, egal! Ist euer persönlicher Erntedankaltar reich geschmückt mit der Erfahrung, mit sich selbst im Gespräch darüber gewesen zu sein, welche Anlagen und Fähigkeiten Gott dir anvertraut hat, ob ich mit meinen Talenten gewuchert habe, oder ob ich sie vergrub im Boden, aus dem nichts wuchs? Es ist eine Frage der Lebenseinstellung, ob nicht nur bei anderen das Wasserglas halb voll ist oder halb leer, sondern ob mein Wasserglas als Gefäß dient, meinen und anderer Durst zu löschen.
Der Blick der Jünger vor der Speisungsaufgabe nimmt den Mangel ins Visier und geht dadurch ins Leere: Woher nehmen wir Brot in der Einöde? Sei es die Einöde des Landes um uns herum oder die innere Einöde der Seele. So oder so sind für diese Jünger die Möglichkeiten sehr eng begrenzt, sie konstatieren bei sich leere Körbe und leere Taschen und beweisen leere Herzen. Diese Jünger bejammern nicht das hungrige Volk, sondern sie prognostizieren ihr eigenes Versagen, sie bejammern sich selbst. Nur ist die Welt, in der wir leben, nicht nur mangelhaft. Nicht alles ist brotlose Kunst und wir können nicht alles sofort, aber vieles noch in diesem Jahr zu ändern beginnen. Wir müssen nicht Mal für Mal an unserer eigenen Hilflosigkeit scheitern, wie uns das Jesu Jünger vorführen. Wir können etwas tun, das hilft, anderen und uns.
Das habe ich jedenfalls nicht erst im Corona-Jahr erneut erlebt: je besser es den Menschen geht, umso unzufriedener und undankbarer werden sie, umso neidischer schauen sie in ihrer inneren Leere nach dem, was sie nicht haben, umso scheeler blicken sie auf das, was andere können in der Angst, zu kurz zu kommen. Es muss schon eine seltsame Lust dabei sein, immer auf das Fehlende, das nicht Perfekte zu schauen oder auf das, was und wie wir gerne wären, aber nicht sind und niemals sein werden. Und dort, wo keine andere Erklärung mehr hinreicht, die eigene Unlust zum Helfen dadurch zu kaschieren, dass man sich in Verschwörungen verstrickt vermutet, statt an einer besseren Welt mitzubauen, wie sie heute möglich ist.
Aber es gibt eben noch einen anderen Blick aufs eigene Leben, Tatsächlich einen gesegneten Ernteblick, mit dem es sich sogar leichter und besser, zufriedener und dankbarer leben lässt. Der Blick stellt sich ein, wenn Jesus die Jünger fragt: Was habt ihr? Wie viele Brote habt ihr dabei? Jesus lässt die Seinen auf das schauen, was da ist an Gaben, an Haben, an Fähigkeiten. Was vorhanden ist, das soll erst einmal offen gelegt werden. Wir haben doch nicht nichts. Wir sind doch nicht nichts. Jesus ermuntert uns zur Inventur der Möglichkeiten. Die Antwort auf die typische, eher resignative Frage, was wir schon tun können, lautet bei Jesus tatsächlich: den ersten Schritt könnt ihr tun!
So wie die Kinder uns mit ihrem Wunschautomat auf das aufmerksam machen, was ihnen ein Bedürfnis ist, von uns zu bekommen. Kinder wünschen sich keine Wunder von uns, sie wünschen sich uns und sie haben längst begriffen, dass wir immer nach unseren Möglichkeiten handeln und unsere Grenzen haben. Gerade auch mit unseren Grenzen sind wir den Kindern recht, sie erwarten nichts anderes von uns. Aber so, wie wir können, mögen wir dann bitte auch handeln und bis an unsere Grenzen gehen und nichts zurückhalten. Kinder wünschen sich manchmal die Quantität von Gummibären, meistens aber die Qualität unserer Zuwendung und Liebe und unser da sein für sie.
50 Jahre gibt es unseren Kindergarten. Wir haben bewusst auf eine Leistungsschau vergangener Großtaten verzichtet und auf Festakte mit geladenen Gästen auch. Wir wollen Ihnen heute zum Jubiläum ganz bewusst an Erntedank die notwendige und mögliche Antwort auf die Wunschfragen der Kinder vermitteln. Tut so viel wie möglich. So viel, wie da ist, Mamma. Mach, was Du kannst, Papa. Mit Kinder- und Jesusaugen gesehen ist das viel mehr als du denkst. Dein Leben ist nicht leer. Geh durch die Reihen deiner Tage und Jahre und Jahrzehnte. Sammle, was da ist: tief empfundenes Glück am Gipfel und unvermutete Sonnenstrahlen im Tal, lautes Kinderlachen und zwitschernder Vogelgesang, die große Liebe und eine warme Vollmondnacht, das gemeinsame Feiern mit den Liebsten und mit Fremden. Kindergeheul und Freudentränen. Kraft aus der Stille und Mut aus der Gemeinschaft. Ein Bibelwort, das immer noch trägt und ein Segen, der spürbar wird, sodass Du innerlich erglühst wie ein Torffeuer, wenn du dir den Luxus erlaubst, deinen eigenen Glauben nicht für mickrig, sondern in Gott gut begründet zu betrachten.
Und dann lässt Jesus die Menge auf den Boden setzen. Was den Jüngern eine Sicht nach vorne und auf die eigenen Möglichkeiten versperrt hat, löst sich auf. In der Nachfolge Jesu bekommt man einen Überblick, und wo man etwas überblickt, wo man sich erkundigt, nachfragt, sich informiert, da verliert sich ganz oft dann auch die Angst vor dem eignen Versagen. Die Ausgangslage bleibt, aber sie lähmt nicht mehr. Eine komplizierte, unübersichtliche Welt ist so lange bedrohlich, wie sie einen zu beherrschen scheint. Das ist das Versprechen der christlichen Religion, das einzulösen, in Erfahrung zu gießen, wir uns als Gemeinde stets bemühen.
Die vorhandenen Gaben sind damals wie heute immer begrenzt. Die Menge der Brote bleibt übersichtlich. Aber sichtbar ist eben auch das Potential, das in den Menschen steckt. Schaut doch nur, was unsere Kinder aus 50 Jahren Kindergarten gemacht haben: einen Wunschautomat haben sie gebaut, um uns zu zeigen, dass sie sich uns wünschen. Und Bilder haben sie dazu gemalt, die man nachher draußen betrachten und interpretieren und so die Predigt fortsetzen möge. Was für ein Potential steckt darin, wenn wir das alles zu unserem Erntedankaltar hinzulegen! Es ist wirklich genug da in unserem Land und in unserem Leben, an materiellem Gut, aber eben auch an Beziehungsreichtum und Familienqualität. Wir mögen es bitte sichtbar machen, zusammentragen und fruchtbar auch für andere werden lassen, indem wir es in unsere Kinder pflanzen.
Jesus dreht den Blick der Seinen weg von den Defiziten hin zu den Stärken, weg vom natürlich immer auch einmal zu konstatierenden zwischenzeitlichen Bankrott hin zum bei Gott ewigen Reichtum des Lebens. So viel ist uns gegeben. So viele Wünsche sind erfüllbar, weil sie gut sind. Und an den unerfüllbaren Wünschen bilden wir den eigenen Charakter. Alle können und alle sollen satt werden. Hierzulande ist es auch in Starnberg tatsächlich nicht daran gelegen, wie Martin Luther das einmal sagt, „ob man viel habe, sondern an dem Segen unseres lieben Herrn Christ“. Es liegt nicht daran, ob viel da ist, mögen das manche, die zu viel haben, auch glauben. Vor Gott essentiell ist, sondern ob Segen darauf liegt. Schaut auf euer Leben und sucht diesen Segen. Und erkennt ihn darin, dass ihr aufgefordert seid, auch den Charakter eurer Kinder zu bilden, und sei es daran, wie ihr mit ihren unerfüllbaren Wünschen umgeht.
Amen.
Predigt über Act 6,1-7
(gehalten am 6. September 2020 in Starnberg)
In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.
Liebe Gemeinde,
wann wäre das gewesen, dass Gemeinde so wuchs, dass neu Hinzukommende die mit den Stammplätzen im Gottesdienst an den Rand gedrängt hätten? An Weihnachten kommt das in den Kirchen noch vor – und wir werden erleben, was die Menge der Besucher das in diesem Jahr für Gottesdienste mit Abstandsregeln bedeutet. Heute wie damals waren christliche Gemeinden vielschichtige Gebilde. Man kann das Christentum gewiss von Anfang multikulturell nennen, es gab jedenfalls in Jerusalem in der frühen Kirche neben hebräisch-sprachigen Mitgliedern, die den Glauben an Jesus Christus angenommen hatten und sich manchmal auch noch als Juden verstanden, auch einen griechisch-sprachigen Gemeindeteil. Auch diese Gemeindeglieder hatten sich vorher zur jüdischen Gemeinde gehalten. Alle gemeinsam wurden von draußen betrachtet „Christen“ genannt und waren es ja auch.
Leider liegen kultureller Unterschied soziale Ausgrenzung zu oft zu nah beieinander. Alleinstehende ältere Frauen waren unter den damaligen sozialen Bedingungen – sie sind es oft auch heute – auf mehr Unterstützung angewiesen. Doch nicht nur damals haperte es mit der Gleichbehandlung. Während hebräische Witwen in Not an einer Mahlzeit der jungen Gemeinde teilnehmen konnten, wurden die griechischen Frauen offensichtlich nicht gesehen, hatten keine Fürsprecher und keine einflussreichen Lautsprecher, obwohl auch sie in Not waren.
Der tiefste Konflikt hinter dem Geschehen war freilich kein ethnischer oder religiöser, sondern ein theologischer: der Konflikt betraf den angeblichen Widerstreit zwischen der sozialen und der geistlichen Versorgung in der Gemeinde. Das zeigt sich aus dem Rückblick, wie uns erzählt wird: die Apostel kommen nicht mehr nach, alle Gemeindeglieder in ihrer jeweiligen Notlage gerecht und vor allem gleich gerecht zu behandeln. Es geht freilich nicht nur darum, für Mahlzeiten und Armenspeisungen zu sorgen, sondern es kam darauf an, darüber das Wort Gottes nicht zu vernachlässigen.
Beides ist von zentraler Bedeutung, das eine – die soziale Fürsorge – lässt sich nicht gegen das andere – die Verkündigung des Wortes Gottes als Brot des Lebens – aufrechnen. Wer im Vaterunser um das tägliche Brot bittet, kann niemand hungern lassen. Aber wer sich, damals wie heute, in der Fürsorge um das tägliche und wöchentliche Brot des Nächsten verzehrte und dann keine Zeit mehr für das Wort Gottes hätte, der muss begreifen und beherzigen, dass der Mensch auch nicht vom Brot allein lebt. Es braucht einen Weg, auf dem beides zusammenbleibt: die Sorge für die Seele und die Sorge für den Leib, weil beides zusammengehört und sich gegenseitig stärkt, Gottes lebendiges Wort und das Brot für den Nächsten.
In der Apostelgeschichte (Act 6) wird in dieser Situation der scheinbaren Alternativen eine Lösung gefunden, die vordergründig auf dem Prinzip der Arbeitsteilung beruht. Neben die Apostel, die Verkündiger des Wortes Gottes, treten die Diakone, die auf die leibliche Not der Menschen achten und sich darum bemühen, dass sehr konkret alltäglich wirksam geholfen wird. Diese Arbeitsteilung (sie ist nicht streng oder hierarchisch gemeint, auch Diakone sind durch ihr Tun Verkündiger und auch Verkündiger müssen diakonisch wirken) sollte vor allem dabei helfen, dass nichts Wichtiges und vor allem niemand vergessen wird. Von diesem doppelten Modell, nicht so sehr von der Arbeitsteilung, lebt unsere Kirche noch heute. Die Verkündigung des Evangeliums vollzieht sich insgesamt und gemeinsam in Wort und Tat, durch Gottesund Nächstendienst. Unsere Kirchengemeinde und ihr Diakonieverein bürgen für die Einheit von Zeugnis und Dienst in der Ausrichtung dessen, was Gott von uns erwartet. Aber auch der Diakonieverein hat Anteil an der Verkündigung des Wortes Gottes. Und die Kirchengemeinde ist im Herzen diakonisch, hilfsbereit.
Damals war es die notwenige Versorgung der Hungernden, die dazu führte, dass man sich in der Kirche mehr besonders berufene Mitarbeitende wünschte, die auf alle sehen. Der Schwerpunkt heute liegt für mich an einer anderen Stelle, so sehr mich auch die konkrete Not von Menschen berührt und wir helfen, wo wir können. Aktuell geht es für mich eher darum, den Menschen mehr vom Wort Gottes weiterzusagen, das viele gar nicht mehr kennen und begreifen, so sehr sie auch die soziale Arbeit in der Gemeinde und ihrer Diakonie unterstützen. Gar nicht so wenige Menschen suchen nach neuer Klarheit im Blick auf Sinn und Halt für ihr Leben. Vielerorts kann man eine neue Offenheit für den Inhalt des christlichen Glaubens und die mit ihm verbundene Gewissheit für das eigene Leben beobachten.
Deshalb betone ich: Wir brauchen Orte und Gelegenheiten, in und an denen wir mit den Menschen auch und verstärkt über ihre Fragen nach Sinn und Glauben reden. Und diese Orte und Gelegenheiten müssen zum Verweilen eingerichtet sein, um dem suchen, zweifeln und vertieft zu glauben eine Sprache zu schenken, auch die der Musik. Es wäre nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgten und darüber das Wort Gottes vernachlässigten. Womöglich haben wir uns in den letzten Jahrzehnten angewöhnt, Gelegenheiten zur Begegnung mit Gott vor allem im Praktischen zu suchen; in diakonischem Handeln, im politischen Engagement, in gesellschaftlicher Präsenz. Die frühe christliche Gemeinde in Jerusalem unterstreicht durch ihre konkrete Entscheidung für den Blick auf die Not der Einzelnen und damit aufs Ganze die Notwendigkeit der Verbindung von Handeln und Spiritualität, von Liebe und Glauben.
Wir kämen unserem kirchlichen Auftrag nicht nach, würden wir das Eintreten für Gerechtigkeit in unserem Land unterlassen, uns nicht in der Pflege von Kranken und Alten engagieren, keine besonderen Angebote für Kinder und Jugendliche bereithalten, nicht für Flüchtlinge um Aufmerksamkeit bitten. Zu Recht fordert und sucht man bei unserer Kirche in sozialen Fragen Rat, Sachverstand und erwartet unsere vorrangige Option für die Armen. Aber unser Auftrag umfasst ebenso geistliche Orte der Begegnung mit Gott. Wo unsere Gemeinde lebendig bleiben will, muss es Menschen geben, die sich auch dies zu ihrer Aufgabe machen und mit ihrer aktuellen Aufgabe verbinden. Wir sollen ganz beim Helfen und zugleich beim Dienst des Wortes bleiben. Ein solcher Dienst des Wortes ist nötig, damit Menschen im Vertrauen auf Gott fröhlich leben und getröstet Abschied nehmen können und die Familien und Freunde unserer in Gott hinein Gestorbenen am Friedhof erleben, wie wir unsere Toten in großer Würde begleiten und für die Ewigkeit bereiten.
Zu jeder Zeit in der Geschichte der Christenheit hat sich der Dienst am Wort Gottes auch kultureller Zeichen und Ausdrucksmittel bedient. Eindrucksvolle Passagen in den Briefen des Apostels Paulus kamen zustande, weil er formschöne Gedichte zitiert, in denen die Christen ihren Glauben zusammenfassten und so weitergaben. Die Lieder von Paulus Gerhardt sind nichts anderes. Und soweit unser Wissen zurückreicht, haben christliche Gemeinden im Gottesdienst gesungen. Vom theologischen Denken der frühen Christen außerhalb des NT in den ersten Jahrhunderten haben wir Kenntnis, weil sie die Sarkophage, in der sie ihre Toten bestatteten, künstlerisch mit Noah- oder Jona-Motiven ausschmückten, um die Rettung durch den Tod hindurch zu verkünden. Auf diese Weise erreichten Dichtung, Musik und bildende Kunst in der Kirche immer wieder neue Höhepunkte – am schönsten dort, wo sie indirekt zugleich dem Gebet und dem Dienst des Leibes verpflichtet waren.
Es gibt viele gute Gründe dafür, das auch heute so zu machen. Auch heute entsteht eine Verwurzelung im christlichen Glauben nicht mehr von selbst, neue Wege sind nötig, auch neue kulturelle Wege. Wir brauchen nicht zuletzt die ganz modernen Künste, damit der christliche Glaube eine heute verstehbare, aktuelle Sprache findet. So wie die Witwen in der christlichen Gemeinde zur Zeit der Apostelgeschichte das Wort Gottes nicht ohne ihre alltägliche Versorgung erhalten konnten, so können wir heute Glaubensfragen nicht losgelöst vom Lebensalltag thematisieren. Und umgekehrt.
Die Menschen fragen derzeit ja, was der christliche Glaube mit ihrem Alltag in Zeiten von Corona zu tun hat. Wenn uns die Weitergabe des Glaubens wichtig ist, müssen wir uns deshalb auch für diese Seite der Menschen interessieren, auch wenn sich die Antworten auf solche Fragen – wie weite Teile der Jugendkultur – in steigendem Maß in virtuellen Welten vollzieht. Auch dort soll die Kirche Orte und Gelegenheiten der Begegnung mit Gottes Wort schaffen. Und die Kirche muss diese Orte im weltweiten virtuellen Netz dann unbedingt auch in Häusern wie diesen hier zugänglich machen. Wo wir das mit vollem Herzen versuchen, können wir darauf vertrauen, dass sich auch bei uns erfüllt, was sich in früher christlicher Zeit ereignete: Die reale Not der Menschen wurde gesehen und gelindert, so gut es immer ging. Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Menschen, die Gott vertrauten und ihrem Glauben einen lebendigen Ausdruck verleihen konnten, wurde ebenfalls größer, in Jerusalem, in Starnberg, in Söcking und in vielen weiteren Orten und Gemeinden.
Amen.
Sommerpredigt über Gen 7,1-5.10-20*; 8,1-4.20-22
(gehalten am 9. August in Starnberg, am 16. August in Seeshaupt und Penzberg, am 23. August in Berg und am 30. August 2020 in Tutzing)
Liebe Gemeinde,
bei allem Bedrohlichen der Erzählung, damit wir durch die Geschichte nicht eigene Tiefen eröffnen, in die zu stürzen uns nicht gut tut: Gott hat sich mitten in der Flut entschlossen, indem er der Menschen in der Arche gedachte, in jeder Zukunft, auch in unserer Gegenwart, das Überleben der Menschheit unverbrüchlich und ohne jede weitere Naturkatastrophe zu garantieren. Just den Fluch der Sterblichkeit, der Arbeit und der Geburt, den der Mensch sich im Paradies zugezogen hat, den setzt Gott bei Noah außer Kraft. Auch wir sind seiner ledig und frei, wir müssen nicht vor der Zeit sterben, nur unter Mühen arbeiten und schmerzhaft Kinder zeugen und gebären! Das ist die Bedeutung der Berggeschichte in der Fluterzählung, deshalb landet sie Arche oben am Ararat. Das soll uns ermuntern, fürs Leben den steten Segen Gottes zu erwarten und den Mut nie auf den tiefsten Grund sinken zu lassen.
Die hier stark geraffte Erzählung der Sintflut hat die Phantasie strenger wie angewandter Wissenschaft und Kunst immer wieder beflügelt. Man hat nach Spuren der Arche und Hinweisen auf eine Flut überhaupt gesucht und ward auf manchmal kreative Art fündig. Hat sich mit der Frage beschäftigt, auf welchem Berg genau der Kasten aufsetzte, als die Wasser wichen, der in der Bibel als Ararat (Gen 8,4 *1) bezeichnet wird, und ob es Überreste von dem Kahn geben könnte. Wie einst Heinrich Schliemann die Dichtung Homers als Kompass für die Suche nach Troja nutzte, werteten Forscher einschlägige Passagen der Erzählung aus, um neben dem Alter der Erde besonders den Platz des Rettungsschiffes auf einem wegen der Grenzlage zwischen Türkei und Armenien, zwischen Ost und West und deshalb, einen kalten Krieg lang, auch zwischen NATO und Warschauer Pakt unzugänglichen Berg Ararat zu entdecken *2.
Vor einigen Jahren konnte die Geologie mit Entdeckungen aufwarten. Es sei das Schwarze Meer ein vom Mittelmeer völlig getrennter, tiefer liegender Süßwassersee gewesen. Ein katastrophaler Durchbruch des Mittelmeeres durch die beide Meere trennende Landbrücke – erdgeschichlich datierbar auf die Epoche um 6.700 vor Christus – sei eine Naturkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes gewesen, jahrelang habe sich ein tosender Wasserschwall aus dem Mittel- in das Schwarze Meer ergossen und besiedelte Gebiete überschwemmt *3. Und auch Literatinnen und Literaten hat die Story der geretteten, und mehr noch womöglich vergessener Archeflüchtlingsarten interessiert. Geschichtenfabulierer haben versucht unbeschriebene Erzählstränge der Story über vergessene Arten und – besonders kindgerecht – den ungeklärten Verbleib der Dinosaurier und andere Ausschmückungen des Narratives zu inszenieren *4.
Und das wird in Gen 6,5-9,17 *5 in vielfach verschachtelter Schilderung über die Flut berichtet: Im 600. Lebensjahr Noahs, am 17. Februar, als das „Ende allen Fleisches“ (6,12) durch das beginnende Prasseln des Regen eingeläutet wird, wird eine Familie und Getierpaaren in einen Zypressenholzkasten eingewiesen, den er eigenhändig nach allerhöchsten Bauanweisungen gezimmert hat, 150 Einheiten lang, 25 hoch, 15 breit. Was dann um die Arche herum mit der Welt passiert, heißt in der Bibel erst seit Martin Luther „Sündflut“. Die Hebräer sagten dazu „Himmelsozean“ wie für das Wasser über dem Firmament, der sich durch Gitterfenster, sonst verschlossen, auf die Erde entleert; zudem quillt das in der Schöpfung gebändigte unterirdische Urmeer, seiner Fesseln erneut ledig, durch klaffende Erdspalten hoch; Wolken regnen dazu 40 Tage und Nächte einen Monsun; so kollabiert die Weltenarchitektur unter dem Wasserdruck. Was durch die Erschaffung der Erde beherrscht und geteilt wurde, Wasser und Chaos, vereinigt sich wieder mit katastrophalen Folgen für das Land und seine Bewohner. Die Schöpfung versinkt, es ist erneut ein Tohuwabohu. Das Ganze dauert nur nicht Wochen oder 40 Tage, die es freilich ununterbrochen regnet, sondern (vereint man die verschiedenen Zeitangeben im Text) insgesamt *6 ein Jahr und 10 Tage: Ergebnis: finis terrae …
Doch Gott will es mit der Welt und vor allem mit uns Menschen nicht gar aus sein lassen. „Gott gedachte an Noah“ (8,1). Eine in ihrer inhärenten Menschlichkeit so gewagte Formulierung wie diese kurze Notiz liest man selten in der Bibel, sie gehört in die eine und selbst Kategorie wie das „lasst uns Menschen machen“ (1,26) und steht zusammen mit dem Wandeln Gottes in der Abendkühle des Paradieses (3,8), wo der schöpferische Flaneur dann Adam und Eva nach dem verbotenen Abendessen aufstöbert. So soll mitten in der Geschichte der einstürzenden Ordnung die Freiheit Gottes hochgehalten werden.
Auf der einen Seite kann Gott das, was er mit der Schöpfung anstellt, indem er sie dem Wasser zum Fraß vorwirft, das er nicht mehr in Schach hält. Aber Gott kann eben auch das machen: mitten im losgelassenen Chaos ereignet sich eine Wende, die von nicht anders begründbar ist als dass Gott an die Menschen in der Arche denkt. Gott gebietet den Gewalten Einhalt, bevor sie auch Noah und die Seinen, die gerettete kleine Menschheit, die landtierliche Ersatzschöpfung und die Arche erwischen. Und im Augenblick dieses Gedankens, durch den unmittelbar folgenden, konsequenten Rückgang der ersten Flutwellen bekommt der Rettungskasten wieder festen Stand auf der Erde und steht die Menschheit vor ihrer Zukunft.
Der Name „Noah“ kommt vom Wort „ruhen“ und nun passiert eben dies, als Gott des Noah und mit ihm der Menschheit gedenkt: die Arche „ruht“ (Gen 8,4) auf dem höchsten Berg, wo sie aufgesetzt hat. Das gesammelte Wasser stand ja 15 Einheiten (Luther: „Ellen“) über, die Arche durfte bei den 25 Einheiten ihrer gesamten Höhe als höchstens 15 Einheiten Tiefgang haben … sie konnte beim Höchstwasserstand soeben über das Gebirge Ararat hinwegschaukelt und setzt beim ersten Fallen der Wasser dort dann auf. Bis die Flut verschwunden ist, vergehen noch Monate. Aber die Arche ist sicher, die Zukunft der Menschheit und der durch die mitgenommenen Tiere bald wiederhergestellten Schöpfung auf der Erde sowieso, und darauf kommt es in Zeiten globaler Verlustkatastrophen an. Und auch wir sind damit gerettet …
Liebe Gemeinde, diese Sintflutgeschichte will einzig – sie treibt großen Aufwand dafür –und alleine Gottes Macht und die nur Gott gegebene Freiheit bezeugen, die geschaffene Welt wieder im Chaos versinken zu lassen. Die Bibel des AT zeigt uns Gott, der die Sünde der Menschen richtet. Am Anfang der Geschichte der Menschheit, noch vor aller historischen Zeit, steht der Hinweis auf Gottes schnaubenden Zorn über eine Sünde, die durch die menschliche Freiheit zur eigenmächtigen Entscheidung für gut oder böse in der Schöpfung Einzug gehalten hat.
Es gibt natürlich viele mögliche Einwände gegen diese Redeweise von Gott: warum muss man von Strafe, Zorn, Sünde und Tod berichten, wo die Menschen heute durch genug eigene Erfahrungen beladen und belastet sind? Würden wir uns freilich irgendeine alternative Flutgeschichte einer anderen altorientalischen oder sogar mittelamerikanischen Religion vergegenwärtigen, angefangen beim ältesten sumerischen oder beim babylonischen Schöpfungsmythos im Gilgamesch-Epos (in dem Schöpfung und Flut ähnlich eng verklammert sind), wir wären sogar noch in größerer Theologenpression, weil es sonst nicht einmal eine Arche und erst recht keinen menschlichen (sondern nur einen göttlichen) Noah (vgl. bei Gilgamesch: „Enkidu“) gibt, weil der Ton nur im AT auf dem Überleben der Menschen liegt.
Zudem lernen wir im ersten Buch der Bibel eine tiefer liegende Begründung kennen, weshalb unser Gott so sichtbar gemacht werden muss in seiner Macht. Es soll dadurch das Wort von Gottes Gnade zu unserem Heil vor jeder denkbaren Verharmlosung geschützt werden. Gottes Gnade wird durch den desaströsen Flutnarrativ als echtes Wunder unterbaut. Alles Heil aus Gott entspringt seinem menschenliebenden Herzen und ist gerade nicht die Laune eines Götzen, der zu besänftigen wäre durch Opfer, oder Mammon, der auch nicht im Ringen um die Weltherrschaft theologische Rivalen durch das Ersaufen aller Erdbewohner bekämpft. Sondern Gottes Gnade ist Gottes pures Gedenken an die Arche, die Menschen darin, das Wild und die Tiere. Deshalb verdient die Flut Erinnerung, weil wir in ihr an Gottes Gnade gewiesen werden.
Und diese reine Gnade Gottes ist nicht nur die Vergangenheit der Welt, sie ist auch unsere Zukunft. Es wird, wie in der Vorzeit qua Flut, auch am Ende der Zeit und der Welt ein Gottesgericht daherkommen. Und auch da werden Noahs Kinder bewahrt, weil wir getauft sind, weil wir in der Sintflut des Taufwassers ersoffen durch Gottes Gnade aus dem Taufbecken herausgezogen und mit dem Kreuz Christi gesegnet wurden. So haben die ersten Christen Noah gedeutet und ihn sich angeeignet, denn wir sind auf Jesu Tod getauft (Röm 6,3). Damit die Gnade Gottes großgemacht werden kann, dazu wird die Flut so überbordend geschildert, unter der sogar die höchsten Berge dieser Welt verschwinden, damit aus den Fluten dann der Ort ersteigen kann, an die hin Gott seine Menschheit rettet, in der Flut der Berg Ararat, vorausschauend ein heimlicher Kalvarienberg wie der einstige Vorstadthügel Golgatha.
Die Gnade Gottes ist als Segen seit Noah bis heute in Kraft. Am Ende der Flut, gedanklich noch hoch oben am Ararat, steigt man als Zuhörer der Fluterzählung nämlich noch einmal höher hinauf. Wir gelangen in der Story bis in die Unmittelbarkeit der Gedanken des göttlichen Herzens und stehen vor Gottes eigenen Plänen und Gedanken, ja hören sogar Gottes eigene Worte. Diese Worte bleiben, die erzählerische Ausschmückung als Flut versinkt im Mythos der Kulturen und ist schwer akkurat historisch zu erhellen. Eine Arche war bisher nicht zu finden, das Sedimentgestein hütet seine Geheimnisse stumm, viele die Szenerie ausschmückende Gemälde in den Pinakotheken wollen wohl zur Tugend mahnen, erfreuen sich aber heimlich mehr der Dramatik als der Weisheit. Die netten Geschichten der Schriftsteller sind schön zu lesen.
Die Worte Gottes am Ende der Flut, die gelten. Gott hat sich während der Flut entschlossen, indem er der Archenmenschen gedachte, in jeder Zukunft die Menschheit unverbrüchlich und ohne jede weitere Naturkatastrophe zu begnadigen. Verhältnisbestimmungen wie „wenn … dann“ taugen hier nicht, zumal der Mensch noch nie zu einem konsequenten „dann“ als Antwort auf Gottes Anrede und Gebot als „wenn Du“ fähig war. Das liegt natürlich daran, dass der Mensch in seiner und ihrer angebliche Freiheit, nach der man im Paradies unter dem Schatten des Baumes des Lebens suchte, sich mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis selbst einen Fluch aufgeladen hat, der in der Bibel mit der Metapher von der Mühe und dem Schweiß bei der Arbeit, mit dem Geburtsschmerz und dem Tod als Schicksal am Lebensende (vgl. Gen 3,16-19) umschrieben wird. Und just diesen Fluch, den der Mensch sich durch die angeblich gottgleich machende Tat in Eden zugezogen hat, den betrachtet Gott in seinem Herzen seit Noah als wirksam aufgehoben. Gott hebt das selbstverschuldete Schicksal des Menschen auf, obwohl er ihn kennt, der sich herzlich wenig bis gar nicht geändert hat, das ist die alleine zu bedenkende geistige Bedeutungsdimension des Ararat, unseres Berges heute.
Theoretisch könnte Gott uns mit täglich Sintfluten strafen, aber er entscheidet sich angesichts der allerersten und Gott sei Dank auch allerletzten Flut für seine bergende und verschonende Gnade, für den Segen und gegen die zweifellos gerechtfertigte perpetuierte Pest ungebundener, im Anspruch gottgleicher menschlicher Freiheit. Es sieht fast so aus, als würde Gott nachgeben angesichts der dauernden Sünde des Menschen. Tatsächlich musste sich unser Gott auf der Menschen andauernde Sündhaftigkeit einstellen. Gott schafft das durch Stabilität, die er verleiht, indem er der Welt ihren und uns unseren elementaren Rhythmus garantiert. Das verlässlich-beständig wechselnde Klima als Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter drückt Gottes unveränderliche Zuwendung zur Menschheit seit Noah aus. Woran freilich deutlich wird, was wir heute zu verspielen begonnen haben, wo diese Jahresszeiten sich einerseits weiter ins Extreme verschieben und zugleich zu verschwinden beginnen.
Verschwände darüber dann womöglich auch einmal die tragende Geduld Gottes? Die Bibel kann sich das nicht vorstellen. Wir Menschen könnten die Welt Gottes nicht endgültig zerstören, so sehr wir das auch fürchten sollten. Noch in der Sünde besteht die Ordnung, soweit sie von Gott ist, durch Gottes Gnade im Segen weiter. Darauf mögen wir uns verlassen. Darauf können wir bauen, wo wir in eine eigene Archen steigen müssen, die Gott uns von Zeit zu Zeit zu zimmern auffordert, damit wir unsere analogen und digitalen Fluten unversehrt überleben und als wir selbst wieder festen Boden unter den Füßen gewinnen. „Gott gedachte an Noah“, das ist der zentrale Satz der Sintfluterzählung der hebräischen Bibel. „Gott gedenkt Deiner“ ergänzt Jesus im Neuen Testament, weshalb er seinen Jüngern bis in unsere Zeiten hinauf die Taufe als Heilszeichen aufträgt, weswegen mancher Taufstein auch die Insignien der Arche trägt, um dem Wasser, das hier über dem Menschen ausgegossen wird, das Vorzeichen der reinen Gnade Gottes zu geben.
Amen.
Legende:
*1 Vgl. auch II Reg 19,37; Jer 51,27 als Name eines Landes.
*2 BERLITZ, CHARLES: The lost Ship of Noah. – in Search of the Ark at Ararat, 1981.
*3 HAARMANN; HARALD: Geschichte der Sintflut. Auf den Spuren der frühen Zivilisationen, 2003.
*4 HUB, ULRICH: An der Arche um Acht. Mit Illustrationen von Jörg Mühle, 2007.
*5 Vgl. zu den folgenden Einzelheiten GERHARD VON RAD, Das erste Buch Mose, ATD 2/4, Göt-tingen 1972, S. 95f.
*6 So jedenfalls die vermutete, angeblich jüngere Pentateuchquelle „Priesterschrift“. Nach dem „Jahwisten“, waren es 61 Tage.
Predigt über Mt 11,25-30
(gehalten am 21. 06. 2020)
Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart. Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.
Liebe Gemeinde,
wenn auch einiges im heutigen Predigttext auf den ersten Blick nicht sehr einfach zu verstehen sein mag, eines spricht mich sofort an, wenn ich es höre. Jesus sagt: „Ich werde euch Ruhe verschaffen!“ Dieser Satz klingt wohltuend und verheißungsvoll, vielleicht auch deshalb, weil wir gestresste und gehetzte Zeitgenossen irgendwie die Anziehungskraft eines ganz anderen Lebens spüren: ohne permanente Anstrengung, ohne ein Image aufrechtzuerhalten und sich und anderen etwas vorzuzeigen, womöglich vorzuspielen; ohne den geheimen Zwang, ständig groß & stark, beliebt & bedeutend und erfolgreich zu sein. Es ist die Aussicht, einmal in Ruhe gelassen werden, wo doch nur der in Ruhe gelassene Mensch in Ruhe ein gelassener Mensch werden .kann, wie es heißt …
Und auch wenn genug Menschen derzeit unter Einsamkeit leiden, dem ständigen Lärm der Zeit zu entfliehen und zur Stille zu finden ist ein treuer Wunsch vieler Menschen, seitdem die Zeiten der Quarantäne und Beschränkungen sich zu häuten beginnen – auch solcher Menschen, die schon wissen, dass es ihnen unter normalen Umständen nicht gegeben sein wird, viel Selbständiges mit sich selbst zu veranstalten. Auch wer unter der aktuell auferlegten Einsamkeit im Altenheim leidet, sehnt sich nicht nur nach neuer Ablenkung, sondern – so meine Erfahrung aus den Gesprächen – nach tiefgehenden Begegnungen statt stumpfer Ablenkung. Nicht jede Bespassung, auf die wir gerade verzichten müssen – und falle sie auch unter die großen Rubriken „Kultur“ und „Unterhaltung“ – gehört mein Vermissen.
Bei vielen Menschen um uns herum ist es eher so, dass sie gleichzeitig die wirkliche Stille vermeiden, wo es geht, weil die einem durchaus auch Angst machen kann. Schon vor Jahrzehnten hat der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung diesen Zweispalt in einem Brief beschrieben: „Der Lärm gibt uns ein Sicherheitsgefühl, er schützt uns vor peinlichem Nachdenken, er zerstreut ängstliche Träume … Die Stille würde den Menschen zum Nachdenken veranlassen, und es ist gar nicht auszudenken, was einem dann alles zum Bewusstsein käme. Die meisten Menschen fürchten die Stille, darum muss immer irgendetwas getan, muss gepfiffen, gesungen, gehustet oder gemurmelt werden. In der wohl nicht zu Unrecht so genannten Totenstille wird es uns unheimlich, was wir dabei aber am meisten fürchten, ist das, was aus unserem eigenen Inneren hervorkommen könnte: all das eben, was wir uns durch den Lärm vom Halse halten“.
Dass da wirklich etwas dran ist, bestätige ich gerne, nicht nur für all die Leute, bei denen selbst die Freizeit zum Stress wird, weil sie nicht mehr das beherrschen, was Hermann Hesse einmal die „Kunst des Müßiggangs“ genannt hat. Gerne auch für mich selbst, denn auch ich habe eine hilfreiche Hand gebraucht, die mich hinunter geleitet hat als den engen Turmtreppenstufen bis hin zu den Fragen, um die es in meinem Leben heute wirklich geht: wie will ich leben? Wie will ich lieben? Wie will ich arbeiten? Der Lärm der täglichen Selbstbeschäftigung ist gar nicht so leicht abzustellen, dies weiß ich selbst gut genug. Und ich bin ja doch wohl ein Musterbeispiel.
Denn mancher Mensch sieht ja sogar das religiöse Leben, sofern man es für sich überhaupt zu brauchen meint und pflegen will, als eine Leistung an. So vielleicht auch die Pharisäer und die Schriftgelehrten zurzeit Jesu, wie sie uns jedenfalls im Mt – historisch nicht stimmig, eher plakativ, abziehbildhaft überskizziert – beschrieben werden und unsere Phantasie zur Übersteigerung anregen. Diese vermeintlich Klugen und Weisen scheinen den Menschen einen Weg zu Gott zu versprechen, allerdings nur denen, die auch fähig sind, das mosaische Gesetz mit seinen 613 Einzelgeboten halten. Unter der Hand wird aus christlicher Sicht durchaus nicht ohne Neid im Blick auf die Pharisäer der Zeit Jesu suggeriert: wer es ernsthaft auch nur versucht, so gewissenhaft nicht nur in den eignen vier Wänden und am Feiertag, sondern auch im Alltag zu leben, dem bleibe nebenbei eigentlich gar keine Zeit mehr, auch mal ruhig und beschäftigungslos dazu sitzen. Die große Schar derjenigen, denen ihre Arbeit und ihr tägliches Leben es unmöglich machen, nach diesen vielen Vorschriften zu existieren, die sind, so scheint es, in den Augen der überfleissig Frommen letztlich doch wohl von Gott Verstoßene, sind religiöse Nullen, und man nennt sie „die Sünder“ und schaut auf sie herab.
Auch wir selber stehen womöglich ein wenig in der Gefahr, zu solchen Weisen und Klugen zu werden, dann nämlich, wenn wir meinen bestimmen zu sollen, wie andere leben; und wenn schon nicht das, so doch jedenfalls ganz genau wissen, wie Gott sein muss, sodass durch unsere Vorstellungen kein Platz dafür bleibt, dass die Menschen ebenso so anders sind, wie sie sind, und sogar Gott immer auch anders ist, als wir ihn oder sie oder es denken. Auch wer glaubt, dass es für ein religiöses Leben ausreicht, wenn wir uns die Leistung abringen, am Sonntag zum Gottesdienst zu gehen, und dass Gott uns diese schier übermenschliche Anstrengung bitteschön positiv anrechnen wird, der tickt letztlich so, oder? Schauen Sie doch mich an, ich tue ja nichts andres, als fromm sein zu sollen, und den Glauben und den Gottesdienst zu organisieren wie ein Pharisäer – was meinen Sie, wie‘s mir geht, wenn ich einmal keine Kirche besuche?
Aber ausgerechnet Jesus selbst stellt mir und uns die große Alternative zum religiösen Leistungsdenken vor Augen. Er ist der große Freund und Fürsprecher derer, die sich abmühen und plagen, die zusammenbrechen und scheitern, und die oftmals gar nicht mehr fähig sind, irgendwas zu leisten, geschweige denn etwas Vorzeigbares. Ein Freund der Ausgedörrten, der Vergeblichen, der Erschöpften, Überlasteten, zu Langsamen, Zittrigen, Unsicheren, Zweifelnden. Das ist das eigentliche Evangelium, die gute Nachricht für alle, auch für diejenigen, die das schlecht hören können, weil sie lieber nicht still sein wollen: In Jesus begegnest Du einem, der sich, ohne irgendeine Vorleistung zu verlangen, all denen zuwendet, die mit der Last ihres Lebens nicht mehr fertig werden. Und er blickt nicht hochmütig auf sie herab, sondern ruft ihnen in der Demut seines Wesens zu: Lauft nicht vor euch selbst und eurem Mangel davon, sondern kommt mit allem, was euch bedrückt, zu mir! Kommt zu mir, ich werde dafür sorgen, dass in jedem Fall der Notausgang offenbleibt. Und ich schenke euch die Ruhe des Herzens. Wer in meine Nähe kommt, kann wieder atmen, der kann seine Last abwerfen! Daran erkenne man die Botschaft Jesu, sie drückt nicht nieder, sie richtet auf, diejenigen zuerst, die das nicht für sich reklamieren, weil sie dazu nicht mehr in der Lage sind oder es noch nie waren.
Wie das geht, sich von Jesus für das eigene Leben etwas abzuschauen, das entdecken oft einfacher die einfachen Leute, die nicht in erster Linie oder gar ausschließlich mit dem Kopf arbeiten, sondern die mit ihrem Herzen sehen, so, wie zum Beispiel Kinder das noch können, bis Erwachsene und in ihrem Kielwasser dann auch die Kinder sich selbst irgendwann abgewöhnt haben. „Mach es“, so schreibt Franz von Sales, ein katholischer Heiliger, der mir oft genug eine Inspiration ist, „mach es so wie die kleinen Kinder: mit einer Hand halten sie sich an ihrem Vater fest und mit der anderen pflücken sie Erdbeeren oder Brombeeren am Waldrand. So halte du dich ebenso mit der einen Hand an deinem Vater im Himmel fest, während du mit der anderen Hand das sammelst, was du zum Leben brauchst. Wende dich Gott von Zeit zu Zeit zu, um zu sehen, ob es ihm recht ist, was du tust und wie du es machst! Und achte darauf, dass du seine Hand nicht zu lange loslässt nur weil du meinst, dann vielleicht mehr zusammenraffen und einsammeln zu können. Wenn du gewöhnliche Aufgaben und Beschäftigungen hast, die keine dringliche Aufmerksamkeit verlangen, dann solltest du mehr auf Gott schauen als auf die Aufgaben. Wenn die Aufgaben sehr wichtig sind und sie deine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen, damit du sie gut erfüllen kannst, dann blicke wenigstens von Zeit zu Zeit auf zu Gott. Und sei sicher: so wird Gott mit dir arbeiten, in dir und für dich, und deine Arbeit wird dir zum Trost werden!“
Liebe Gemeinde, sich plagen und die Lasten des Alltags tragen ist Teil dessen, dass wir Menschen eben Menschen sind. Wir Menschen leiden auch oft genug, haben schnell manche Dinge über, wollen nicht mehr oder können nicht mehr oder ärgern uns, dass wir trotzdem müssen. Mensch sein heißt in christlicher, weil biblischer Sicht auch schwach sein und angewiesen sein auf Gott, heißt bisweilen sogar: völlig am Ende sein, von allen anderen guten Geistern verlassen. Aber vielleicht ist das ja manchmal gar nicht das Schlechteste, am Ende zu sein, wenn es um das Ende der eigenen Fahnenstange und der eigenen Möglichkeiten geht.
Denn gerade an einem solchen Ende könnte durchaus Gott uns schon erwarten, um etwas ganz Neues mit uns zu beginnen. Wenn wir also nur nicht meinen, nur, weil wir eine Last nicht mehr tragen können, wären wir für Gott ein Problem. Ganz im Gegenteil, Gott würde sich über uns mehr Sorgen machen, wenn wir dächten, immer alles im Griff zu haben. Unsere Ruhe finden wir deshalb nicht, wo wir es schaffen, uns zu beruhigen, und sei es mit extremen Mitteln. Sondern unsere Ruhe liegt dort, wo wir von uns absehen können, weil wir wissen, dass in Gott für uns noch eine Ruhe anderer Art breitet ist als die, die uns selbst schaffen mögen. Es ist diese Ruhe, in die Jesus uns führt. Es ist das Ausruhen auch von unseren eigenen Erwartungen und Sorgen. Und es ist unsere allmähliche Entfremdung von der Angst, es nie selbst zu erreichen. In der Ruhe Gottes wird diese Angst dann ganz abebben und im Sand verlaufen, tief unten auf dem Grund unserer Seele. Gott sei Dank.
Amen.