Nelson Mandela Anregungen zur Bewahrung der Freiheit
Heute gelesen: Texte und Anregungen in der Zeit des Wartens
Zahlreiche Ehren- und Kosenamen wurden ihm zuteil. Mit Bezeichnungen wie „Tata“ (deutsch „Vater“) und dem Clannamen „Madiba“ drückten viele Menschen ihre herzliche Zuneigung zu Nelson Mandela und seinem lebenslanger Kampf für die Gleichberechtigung der Menschen in Südafrika. Ich selbst kann mich noch daran erinnern, wo ich die Nachricht seiner Freilassung aus dem Gefängnis am 11. Februar 1990 erfuhr – und wie froh mich diese Botschaft machte …
„Ich werde für die Freiheit kämpfen, solange ich lebe“ hatte Mandela in einem Brief vom 26. Juni 1961, damals schon im Untergrund, notiert. 60 Jahre später bieten die Texte und Überlegungen des Südafrikaners (*18. Juli 1918, †5. Dezember 2013) auch im Jahr der Impfung gegen die Pandemie und die weiterhin noch auferlegte Distanzierung interessante Hinweise und aktuelle Anregungen. Auch heute gilt es, die uns geschenkte Freiheit stets zu bewahren, zugleich deutlich Stellung zu beziehen für die Menschen ohne Ansehen und für einen möglichst gleichen Zugang zu den Chancen unserer Gesellschaft.
Grundlage für die hier vorgestellten Texte sind die englische und die deutsche Textausgabe NELSON MANDELA:The struggle is my life. His speeches and writings brought together, London 1986; DERS.: Der Kampf ist mein Leben. Gesammelte Reden und Schriften. Mit zusätzlichen Dokumenten und Beiträgen zum Befreiungskampf in Südafrika, Dortmund, 1986.
Dr. Stefan Koch
Nelson Mandela1*) – Teil 1
Am 11. Juli 1963 wurden auf einer Farm nahe Johannesburg mehrere leitende Mitglieder der Opposition verhaftet. Am 9. Oktober begann der Prozess gegen sie wegen „Sabotage“ in 193 Fällen. Nelson Mandela war der Angeklagte Nr. 1, er wurde beschuldigt, den Sturz der Regierung durch bewaffnete Aufstände in die Wege zu leiten. Mandela sagte im Prozess weder in eigener Sache aus, noch ließ er sich in einem Kreuzverhör befragen. Er verfasste stattdessen eine Erklärung, die er dann am 20. April 1964 vor Gericht abgab (sie wird später in dieser Lektüre-Reihe vorgestellt). Zuvor hatte er auf Betreiben von Freunden einen kurzen Abriss seiner Biographie notiert …
„Ich wurde am 18. Juli 1918 in Umtata, Transkei, geboren. Mein Vater, Häuptling Henry, war ein Polygamist, der vier Frauen hatte. Weder er noch meine Mutter sind jemals zur Schule gegangen. Mein Vater starb 1930. Danach wurde David Dalindyebo, der damalige oberste Häuptling des Stammes, mein Vormund …
Ich habe einen Abschluss der philosophischen Fakultät der Universität von Südafrika und bin ausgebildeter Rechtsanwalt. Während ich im Hochverratsprozess vor Gericht stand, heiratete ich Winnie, die Tochter von Columbus Madikizela, dem Landwirtschaftsminister der Transkei. Ich habe fünf Kinder, drei aus einer früheren Ehe und zwei mit Winnie.
Mein politisches Interesse wurde geweckt, als ich in meiner Jugend im Dorf unseren Stammesältesten lauschte. Sie sprachen von den guten alten Zeiten vor der Ankunft der Weißen. Unser Volk lebte friedlich unter der demokratischen Herrschaft seiner Könige und Ratgeber und zog ungehindert durchs ganze Land. Damals gehörte das Land uns. Wir nahmen den Boden, die Wälder und die Flüsse in unseren Besitz. Wir bildeten unsere eigene Regierung; wir befehligten unsere eigene Armee und organisierten unseren eigenen Handel.
Die Ältesten erzählten uns von der Befreiung und vom Kampf, den unsere Vorfahren zur Verteidigung unseres Landes führten. Sie schilderten auch die Heldentaten, die von Generälen und Soldaten in dieser heroischen Zeit begangen wurden. Damals hoffte ich, dass zu den Freuden, die das Leben vielleicht für mich bereithalten mochte, auch die Gelegenheit gehören würde, meinem Volk zu dienen, und ich gelobte, dass ich meinen eigenen bescheidenen Beitrag zu seinem Freiheitskampf leisten wollte. Mit sechzehn Jahren wurde ich, wie es unser Brauch ist, an den Ufern des Bashee-Flusses auf die Beschneidung vorbereitet, demselben Ort, wo viele meiner Vorfahren beschnitten wurden. Nach den Regeln meines Stammes war ich jetzt ein Mann und durfte am „Parlament“ des Imbizo-Stammes teilnehmen. Als ich dreiundzwanzig war, glaubte mein Vormund, dass es für mich an der Zeit sei, zu heiraten. Er liebte mich sehr und sorgte ebenso gewissenhaft für mich wie mein Vater, aber er war kein Demokrat und hielt es nicht der Mühe wert, diese Angelegenheit mit mir zu erörtern. Er suchte eine wohlbeleibte und ehrwürdige Frau für mich aus, zahlte Brautgeld (lobola) und die Vorbereitungen für die Hochzeit wurden getroffen. Ich flüchtete nach Johannesburg.
Ich bewarb mich bei den Crown-Minen um eine Stelle. Zusammen mit meinem vier Jahre älteren Neffen, dem obersten Richter Mtirara, jetzt ein Mitglied der Territorialbehörde der Transkei, war ich von zu Hause fortgegangen. Es wurde vereinbart, dass er als kaufmännischer Lehrling und ich als Polizist anfangen sollte. Nach kurzer Zeit, sobald eine Stelle frei war, sollte ich Büroangestellter werden. Ich verließ die Minen und arbeitete ein Jahr lang als Grundstücksmakler für zwei Pfund im Monat plus Provision. Es war die schwierigste Zeit meines Lebens. 1942 erhielt ich eine Lehrstelle bei einem Johannesburger Rechtsanwaltsbüro Witkin, Sidelsky und Eidelmann. Mr. Sidelsky werde ich immer zu Dank verpflichtet sein …
1944 schloss ich mich dem Afrikanischen Nationalkongress an. Die Bewegung wuchs, 1952 wurde ich zum Präsidenten der Organisation in der Transvaal-Provinz gewählt. Im selben Jahr wurde ich stellvertretender Präsident des ANC. 1953 befahl mir die Nationalistische Regierung, von diesem Amt zurückzutreten. 1953 wurde ich wegen meiner Rolle bei der Organisation der Kampagne zur Missachtung der Apartheidgesetze zu einer neunmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. 1956 wurde ich dann unter der Anklage des Hochverrats verhaftet. Der Prozess dauerte fünf Jahre, und im März 1961 wurde ich freigesprochen. Anfang 1961 ging ich in den Untergrund, um den Mai-Streik zu organisieren. Seitdem bin ich nicht mehr zu Hause gewesen. (Es folgen noch Hinweise auf Auslandsreisen durch Afrika und nach England und politische Gespräche dort).
Hinweis
Das Biogramm Mandelas lässt seine traditionelle Herkunft und jugendliche Prägung als künftiger Repräsentant (einer nicht regierenden Nebenlinie) des Königshauses deutlich werden. Den persönlichen Grund für seine „Flucht“ aus dieser Tradition nennt Mandela zwar nicht, sie wirft aber ein bezeichnendes Licht auf diese Tradition, der er als Junge noch bewundernd gelauscht hatte. An anderer Stelle schreibt Mandela davon, er habe schon als Kind gelernt, „Gegner zu bezwingen, ohne sie zu entehren“ (NELSON MANDELA, Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt 1994, S. 20).
Interessant sind weitere Leerstellen, die Mandelas Notiz lässt. So schweigt er von seiner Taufe (auf Betreiben des Vaters, um ihm den Besuch der Schule zu ermöglichen), von der Verarmung der Familie nach dem Tod des Vaters samt Umzug und auch dem Jura-Studium (erst noch ohne Abschluss, nachgeholt zum Ende der Haftzeit 1989) und der gemeinsamen Rechtsanwaltspraxis mit Oliver R. Tambo.
Wenn Sie Zeit und Interesse daran haben, füllen Sie doch diese und andere Lücken durch eigene Lektüre für ein differenzierteres Bild der frühen Jahre von Rohihlahla Mandela (den später gebräuchlichen Vornamen Nelson bekam er erst auf dem presbyterianischen Internat).
1*) NELSON MANDELA: Der Kampf ist mein Leben. Gesammelte Reden und Schriften. Mit zusätzlichen Dokumenten und Beiträgen zum Befreiungskampf in Südafrika, Dortmund, 1986, S. 372-374.
Nelson Mandela – Teil 2
Schon im Jahr 1944 war Nelson Mandela dem Afrikanischen Nationalkongress (ANC) beigetreten, gründete dessen „Jugendliga“ mit und baute sie mit auf. Damit verbunden waren schon früh Gedanken, den ANC – „ein Gremium von Gentlemen mit sauberen Händen“ – zu mehr politischer Durchschlagskraft zu drängen. Diese frühen Jahre gelten als Zeit der politischen Prägung Mandelas und seiner Freunde Walter Sisulu, Oliver Tambo und Anton Lembede. Die Gruppe der Jungen fand, es sei nun an der Zeit, nicht mehr nur den (immer gewaltfreien) Protest zu organisieren, sondern auch die „direkte Aktion“ zu wagen in einem Land, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu prosperieren begann, ausländische Investoren anzog und viele Arbeitskräfte brauchte. Im Jahr 1948 war zudem eine Regierung an die Macht gekommen, deren Bestreben es war, die schwarze Bevölkerung auf dem Gesetzesweg einzuschränken und möglichst am wirtschaftlichen Aufschwung durch Arbeit nicht zu beteiligen. Im Jahr 1949 hatte Mandela & Co. den ANC dazu gebracht, ein aggressiveres Programm mit Streiks, Boykotten und zivilem Ungehorsam gegen repressive Gesetze zu unterstützen – also Aktionen durchzuführen, deren Planung und Veröffentlichung Nelson Mandela vor die Gerichte des Landes und dann auch in das staatliche Hochsicherheitsgefängnis nach Robben Island bringen sollte …
„Aktionsprogramm. 1949 1*)
Hinter den Grundprinzipien des Aktionsprogramms des Afrikanischen Nationalkongresses steht der Wunsch nach nationaler Befreiung. Unter nationaler Befreiung verstehen wir Befreiung von weißer Vorherrschaft und die Erlangung nationaler Unabhängigkeit.
Das beinhaltet eine Absage an alle Konzepte der getrennten Entwicklung, der Apartheid, Treuhänderschaft oder einer weißen Führerschaft, die in der einen oder anderen Form die Vorstellung von der weißen Vorherrschaft bzw. der Beherrschung der Schwarzen durch die Weißen zur Grundlage hat. Wie alle anderen Völker fordert das afrikanische Volk das Recht auf Selbstbestimmung.
Mit diesem Ziel vor Augen und auf der Grundlage dieser Prinzipien fordern wir und kämpfen wir für die in unserer „Bill of Rights“ 2*) dargelegten Grundrechte wie:
1. Das Recht auf Vertretung in allen Regierungsgremien des Landes – auf nationaler Ebene, Provinzebene und lokaler Ebene – dabei treten wir für die Abschaffung aller für Afrikaner geschaffenen Sondereinrichtungen oder Körperschaften … ein
2. Zur Erreichung dieser Ziele wird folgendes Aktionsprogramm vorgeschlagen:
a. die Schaffung eines nationalen Finanzfonds zur Finanzierung des nationalen Befreiungskampfes
b. die Ernennung eines Ausschusses zur Organisierung einer Spendenaktion und die Entwicklung entsprechender Maßnahmen hierfür
c. die regelmäßige Herausgabe von Propagandamaterial durch (1) die nationale Presse, durch Rundschreiben oder andere Möglichkeiten zur Verbreitung unserer Vorstellungen mit dem Ziel, das Niveau des politischen und nationalen Bewusstseins zu heben; (2) die Gründung einer eigenen nationalen Presse.
3. Die Ernennung eines Aktionsrates, dessen Aufgabe es ist, das Aktionsprogramm energisch und zielstrebig in die Tat umzusetzen. Richtschnur für die Arbeit des Aktionsrates ist unser Eintreten für
a. die Abschaffung aller politischen Sondereinrichtungen, für deren Boykott wir uns aussprechen; die Durchführung einer entsprechenden Aufklärungskampagne in der Bevölkerung und außerdem die Anwendung der folgenden Kampfformen: sofortiger und aktiver Boykott, Streik, ziviler Ungehorsam, die Verweigerung der Zusammenarbeit und anderer Maßnahmen, die uns der Erfüllung und Verwirklichung unserer Ziele näherbringen;
b. die Vorbereitung und Planung einer eintägigen landesweiten Arbeitsniederlegung als Ausdruck des Protestes gegen die reaktionäre Politik der Regierung.
4. Wirtschaftsbereich:
a. Die Gründung von Handels-, Industrie-, Transport- und anderen Unternehmen in städtischen und ländlichen Gebieten;
b. die Stärkung der betrieblichen Organisationen der Arbeiter zur Verbesserung des Lebensstandards;
c. entsprechend (a) soll an die Provinzkongresse die Anweisung ergehen, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den Reservaten und in anderen afrikanischen Ansiedelungen zu untersuchen und Maßnahmen zu ihrer Entwicklung, zur Gründung von Industrie und anderen arbeitsplatzschaffenden Unternehmen zu erarbeiten.
5. Bildung:
Der afrikanische Nationalkongress wird beauftragt, Mittel und Wege zu ersinnen für:
a. die Hebung des Bildungsniveaus der Afrikaner in den Handels-, Industrie- und anderen Unternehmen und der Arbeiter in ihren Arbeiterorganisationen durch die Gründung eines gemeinsamen Bildungsforums, in dem Intellektuelle, Bauern und Arbeiter im Interesse aller zusammenarbeiten;
b. die Gründung nationaler Bildungszentren zur Ausbildung und Schulung afrikanischer Jugendlicher und die Bereitstellung umfangreicher Stipendien in verschiedenen Überseeländern.
6. Kulturbereich:
a. Die Vereinigung des kulturellen mit dem nationalen Kampf und dem Kampf um Bildung
b. Die Gründung einer nationalen Kunst- und Wissenschaftsakademie.
7. Der Kongress geht davon aus, dass eine kluge und mitreißende Führung mit Mut und Entschlossenheit das Volk schließlich unter dem Banner des Afrikanischen Nationalismus vereinigen wird.“
Hinweise und Anregungen
Aus dem Dokument wird sehr schnell deutlich, wie man – anders als heute oft: nationalistisch – damals integrierend von Nation und Staat sprechen konnte. Die 1949 im südlichen Afrika amtierende Apartheid-Regierung legte das in seiner Wirkung bahnbrechende Aktionsprogramm des ANC als „Kommunismus“ aus, setzte auf gewaltsame Unterdrückung und erklärte alle organisierten Forderungen nach sozialer Veränderung für illegal. Der ANC reagierte mit einem Nationalen Protesttag …
Bezüge zur aktuellen Situation sind indirekt wohl deutlich: auch heute geht es um angemessene staatliche Maßnahmen, die alle Bürgerinnen und Bürger und alle Bewohner des Landes gleichermaßen im Blick behalten. Auch heute geht es um eine Presse und Öffentlichkeitsarbeit, die das Niveau aller Beteiligten entschieden hebt. Auch heute geht es um die Förderung von Wirtschaft, Bildung und Kultur als gemeinsame Anstrengung aller. Und auch heute braucht es eine Führung „klug und mitreißend“, die „mit Mut und Entschlossenheit“ das Volk vereint.
Bemerkenswert bleibt, dass Mandela auch im Aktionsprogramm stets von die Integration – hier: der Rassen – spricht und keine Sonderwege oder Sonderrechte einzelner Gruppen akzeptiert. Die dahinter stehende Idee der nationalen Einheit mag sozialromantisch klingen, sie ist zugleich eine Grundvoraussetzung für die Bewältigung anstehender inner- und zwischenstaatlichen Entwicklungen, von denen aktuell in den USA ja auch Präsident Joe R. Biden spricht. Diese Grundvoraussetzung darf auch in Europa und in der Bundesrepublik nicht verlorengehen oder politisch drangegeben werden.
1*) Verabschiedet auf der Jahreskonferenz des ANC am 17. Dezember 1949, in: NELSON MANDELA: Der Kampf ist mein Leben. Gesammelte Reden und Schriften. Mit zusätzlichen Dokumenten und Beiträgen zum Befreiungskampf in Südafrika, Dortmund, 1986, S. 53-55.
2*) 1945 vom ANC festgelegt, mit umfassenden Forderungen nach Wahlrechten, gleichen Rechten vor Gericht, freier Wahl des Wohnortes und Freizügigkeit in der Bewegung.
Nelson Mandela – Teil 3
Nach dem „Aktionsprogramm“ des ANC (1949), der überharten Reaktion des Staates auf die Kundgebungen am 1. Mai 1950 (berichtet wurde von 18 Toten durch Polizeigewalt) und dem darauf wiederum antwortenden „nationalen Protesttag“ (26. Juni 1950, später als südafrikanischer Freiheitstag begangen) erließ der Südafrikanische Staat das „Gesetz zur Unterdrückung des Kommunismus“ (1950), die jegliche Reformforderung als illegal erklärte. Zudem wurde der „Bann“ als Strafform eingeführt, juristisch fragwürdig verhängt auf dem einfachen Verwaltungsweg. Ein solcher Bann traf auch Nelson Mandela wiederholt, insbesondere seit er eine Kampfkampagne initiierte – vergleichbar vielleicht dem „Salzmarsch“ (1930) zur ostentativen Missachtung der Salzsteuer, einer historischen öffentlichkeitswirksamen Kampagne und Aktion von Mahatma Gandhi, die britische Steuer durch Selbstgewinnung des Salzes aus dem Meer zu umgehen und so die Staatsmacht ungewohnt zu konfrontieren –, die staatlichen Apartheit-Gesetze zu missachten. Diese Kampagne mandatierte Nelson Mandela durch eine Ansprache, die nur durch Dritte verlesen werden konnte, weil Mandela bereits im Bann war, seit er in Transvaal ANC-Präsident geworden war. In ihr begreift er die gegenwärtigen Unterdrückungsmaßnahmen als Schritte auf dem Weg in eine Freiheit, die erkämpft und erlitten werden muss:
„Die Freiheit bekommt man nicht geschenkt“ (1952/53)1*)
Seit 1912 haben die Afrikaner Jahr für Jahr in der Familie und im Bekanntenkreis, auf regionalen und nationalen Versammlungen, im Zug und im Bus, in Fabriken und auf Farmen, in Städten, Dörfern, Shantytowns, Schulen und Gefängnissen über die Schandtaten derer diskutiert, die das Land regieren. Jahrelang haben sie die bedrückende Armut des Volkes, die niedrigen Löhne, den akuten Landmangel, die unmenschliche Ausbeutung und die ganze Politik der weißen Herrschaft angeprangert. Sie erhielten jedoch nicht mehr Freiheiten, sondern die Unterdrückung wurde noch intensiver und umfangreicher. Alle ihre Opfer schienen umsonst gewesen zu sein.
Heute weiß das ganze Land, dass die Mühe nicht vergebens war, da unser Volk von einem neuen Geist und von neuen Ideen ergriffen wurde. Heute lassen die Menschen Aktionen sprechen: Ein mächtiges Erwachen geht durchs Land, bei Männern und Frauen, das Jahr 1952 war von einem gewaltigen Aufschwung des Nationalbewusstseins geprägt. Und als solches wird es in die Geschichte eingehen.
Im Bewusstsein ihrer Verantwortung für das mit Füßen getretene und unterdrückte Volk Südafrikas unternahmen der Afrikanische Nationalkongress und der Südafrikanische Indische Kongress den ersten Schritt und riefen die Kampagne zur Missachtung der Apartheidgesetze ins Leben. Sie nahm in Port Elisabeth in den frühen Morgenstunden des 26. Juni mit nur 33 Demonstranten ihren Anfang, wuchs am Nachmittag desselben Tages in Johannesburg auf einhundertsechs Demonstranten an und breitete sich schließlich wie ein Lauffeuer im ganzen Land aus. Arbeiter und Angestellte, Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Studenten und Pfarrer: Afrikaner, Farbige, Inder und Europäer, Alte und Junge, alle waren dem nationalen Aufruf gefolgt und setzten sich über Passgesetze, die Ausgangssperre und die Apartheidbestimmungen in den Zügen hinweg. Bis zum Ende des Jahres hatten sich 8500 Menschen aller Rassen an diesen Aktionen zur Missachtung der Apartheidgesetze beteiligt. Die Kampagne forderte unmittelbare und große Opfer. Arbeiter verloren ihren Arbeitsplatz, leitende Angestellte und Lehrer mussten ihren Dienst quittieren, Ärzte, Rechtsanwälte und Geschäftsleute gaben ihre Praxis und ihr Büro auf und gingen freiwillig ins Gefängnis. Sie setzten eine große gesellschaftliche Kraft frei, die bei Tausenden unserer Landsleute Wirkung zeigte …
[Danach berichtet Mandela über die staatlichen Gegenmaßnahmen, die vor allem eine Art Sanktionen gegen die Anführer der Kampagne waren, sowie weitere gesetzgeberische Maßnahmen, um Gewerkschaftsaktionen zu erschweren.]
Alle diese Maßnahmen [der staatlichen Gewalt] verfolgten das eine Ziel, die künstlich aufrechterhaltene und im Sinken begriffene Vorherrschaft des Weißen Mannes abzustützen und abzusichern. Mit uns verfährt die Regierung nach dem Motto: „Schlagt sie mit Knüppeln und Gewehren nieder und tretet sie mit Füßen. Wir müssen bereit sein, das ganze Land im Blut zu ertränken, wenn es nur die geringste Chance gibt, die weiße Vorherrschaft aufrechtzuerhalten.“
Die Idee von der Vorherrschaft des weißen „Herrenvolkes“ beruht nur auf einer scheinbaren Überlegenheit. In China, Indien, Indonesien und Korea sind die Träume des amerikanischen, britischen, holländischen und französischen Imperialismus, der von der Vorherrschaft der Europäer über die Asiaten ausging, wie eine Seifenblase zerplatzt. In Malaya und Indochina wird der britische und französische Imperialismus durch mächtige und revolutionäre Befreiungsbewegungen in seinen Grundfesten erschüttert. In Afrika ist das Verhältnis der Afrikaner zu den Europäern ungefähr 19 Millionen zu 4 Millionen. Auf dem gesamten Kontinent brodelt es, und es gibt machtvolle revolutionäre Aufstände an der Goldküste, in Nigeria, Tunesien, Kenia, Rhodesien und Südafrika …
[Anschließend an diese Gegenwartsdeutung erläutert Mandela zunächst den sogenannten „M-Plan“, der die beschlossenen Aktionen effektiver kommunizieren und damit auch lokal umsetzen will. Schließlich beschreibt er die eigene Existenz im Bann – wie die anderer Führer des ANC – als „Leben im Exil“ und als „Gefangene im eigenen Land“, weil sie es gewagt haben, ihre Stimme gegen die scheußliche Unterdrückung auch in anderen afrikanischen Ländern und vor allem die Solidarität mit den Menschen in Kenia auszudrücken. Und er resümiert dann:]
Wie ihr seht, bekommt man die Freiheit nicht geschenkt, und viele von uns werden immer wieder das Tal der Todesschatten durchqueren, bevor wir am Gipfel unserer Sehnsucht ankommen.
„Schwierigkeiten und Gefahren haben uns in der Vergangenheit nicht abgeschreckt, sie werden uns auch jetzt nicht abhalten. Aber wir müssen uns auf sie vorbereiten, wenn wir es ernst meinen und unsere Kräfte nicht im leere Gerede und unnützen Aktionen verschwenden wollen. Wir bereiten uns auf unsere Aktion vor, wenn wir alles Zwielichtige und Disziplinlose aus unserer Organisation ausmerzen und sie zu dem glänzenden und strahlenden Instrument machen, das den Weg zu Afrikas Freiheit bahnt.“2*)
Hinweise und Anregungen
Interessant ist die frühe Nähe zu den strategischen Überlegungen zur Unabhängigkeit und (letztlich an religiösen Fragen gescheiterten) nationalen Einheit Indiens, die Mandela sogar zitiert, ohne dass er sie im gesprochenen/vorgelesenen Text als solche markiert – nur im Manuskript werden sie als Zitat von Nehru kenntlich. Mandela selbst hat diese Ausrichtung und auch die Orientierung am Maßstab des Gewaltverzichts allerdings stets als taktisch, nicht als grundsätzlich betrachtet. Über die Frage der Anwendung von Gewalt in den politischen Reden von Mandela ist noch eigens zu handeln.
Noch nicht zum Erfahrungsschatz der Afrikaner gehörten die politischen Unabhängigkeiten anderer afrikanischer Nationen, die in den 70er Jahren dann folgten. Dass gerade das südafrikanische Bestreben nach Gerechtigkeit und Abschaffung der Apartheid so viel länger brauchte, um sich durchzusetzen, ist beklagenswert. Immerhin waren die entsprechenden Formen – nicht zuletzt die Aufarbeitung von Verbrechen durch eine „Wahrheitskommission“ – von herausragender Bedeutung zur die Versöhnung im Land.
Im Jahr 1952 fehlt bei Mandela freilich noch ein Bild für die nationale Einheit, die mehr ist als ein Ende der Unterdrückung der Farbigen und Afrikaner und der Apartheid. Die damit verbundenen Ideen reifen erst in den folgenden Jahren, sie sind auch noch nicht in den Dokumenten aus den Gefängnissen auf Robben Island (1962-1982) und in Pollsmoor bei Kapstadt (ab 1982) zu finden. Kann man sagen, dass sie erst die konkreten Perspektive der persönlichen Freiheit und der Einsicht in die Kraft des Verzichtes auf Rache und Vergeltung brauchten, um real zu werden?
1*) Verfasst bereits 1952, vorgelesen auf dem ANC-Kongress für den Bundesstaat Transvaal am 21. September 1953, den Mandela nicht persönlich besuchen konnte. In: NELSON MANDELA: Der Kampf ist mein Leben. Gesammelte Reden und Schriften. Mit zusätzlichen Dokumenten und Beiträgen zum Befreiungskampf in Südafrika, Dortmund, 1986, S. 62-76.
2*) Zitat nach einem Artikel von JAWAHARLAL NEHRU, in: The Unity of India, Gesammelte Schriften 1937-1940, London 1942, S. 131.
Nelson Mandela – Teil 4
Nach diversen vorausgehenden Verhaftungen und Verurteilungen – zuletzt am 7. November 1962 mit einer Verurteilung wegen „Aufwiegelei“ und aufgrund des illegalen „Verlassens des Landes ohne gültige Reisedokumente“ zu einer Haft von drei Jahren – wurde Nelson Mandela zusammen mit weiteren leitenden Mitgliedern des ANC im Jahr 1963 erneut vor Gericht gestellt, die Anklage lautete auf „Sabotage“ (den kurz zuvor neu eingeführten Straftatbestand, konkret wurden in der Anklageschrift 192 vermeintliche Sabotageakte benannt), verbunden mit dem Vorwurf, eine „Kampagne zum Sturz der Regierung durch einen bewaffneten Aufstand in die Wege geleitet“ zu haben. Am Ende dieses sogenannten „Rivonia“-Prozesses (benannt nach der Farm, auf der zahleiche mitangeklagte Personen bei einer Polizei-Razzia aufgegriffen wurden) wurden Mandela, im Prozess der Angeklagte Nr. 1, der sich im Prozess selbst verteidigte und unter anderem zur Frage der Gewaltanwendung und ihrer Rechtfertigung Stellung nehmen musste1*), und sieben weitere Angeklagte am 11. Juni 1964 zu lebenslanger Haft verurteilt. Mandela wurde zur Strafverbüßung dann am 13. Juni 1964 wieder in das Hochsicherheitsgefängnis auf Robben Island verbracht, wo er zuvor schon in Einzelhaft isoliert gewesen war.
„Wenn es sein muss, bin ich bereit, dafür zu sterben“, aus der zweiten Verteidigungsrede vor Gericht im „Rivonia-Prozess“ (1964)2*)
… Die von den Afrikanern erfahrene Missachtung ihrer Menschenwürde ist das direkte Ergebnis der Politik der weißen Vorherrschaft. Weiße Vorherrschaft setzt schwarze Unterdrückung voraus. Eine Gesetzgebung zur Aufrechterhaltung der weißen Vorherrschaft sichert diese Auffassung ab. Geringer wertige Arbeiten werden in Südafrika stets von Afrikanern ausgeführt. Wenn irgendetwas transportiert oder gesäubert werden muss, hält der Weiße nach einem Afrikaner Ausschau, der das für ihn erledigen soll, ob der Afrikaner bei ihm angestellt ist oder nicht. Aufgrund dieser Einstellung neigen die Weißen dazu, Afrikaner als eine besonderer Gattung Mensch zu betrachten. Sie sehen sie nicht als Menschen an, die ihre eigenen Familien zu versorgen haben; sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass sie Gefühle haben – dass sie sich ebenso wie Weiße verlieben, dass sie ebenso wie die Weißen mit ihren Kindern zusammenleben möchten; dass sie genug Geld verdienen möchten, um ihre Kinder anständig zu versorgen, zu ernähren, zu kleiden und zur Schule zu schicken. Und welcher „Haus-Boy“ oder „Garten-Boy“ oder Arbeiter kann dies je für sich erhoffen? … Afrikaner brauchen für ihre Arbeit einen Lohn, von dem sie leben können. Afrikaner wollen Arbeiten verrichten, zu denen sie fähig sind und keine Arbeiten, zu denen sie die Regierung für fähig erklärt. Afrikaner wollen dort leben, wo sie Arbeit finden und nicht aus Gebieten ausgewiesen werden, nur weil sie dort nicht geboren sind. Afrikaner möchten den Landsitz erwerben, wo sie arbeiten und nicht gezwungen werden, in Mietshäusern zu wohnen, die sie nie ihr eigen nennen können. Afrikaner möchten Teil der allgemeinen Bevölkerung und nicht gezwungen sein, in Gettos zu leben. Afrikanische Männer möchten mit ihren Frauen und Kindern dort zusammenleben, wo sie arbeiten und nicht zu einem unnatürlichen Leben in Männerwohnheimen gezwungen werden. Afrikanische Frauen möchten mit ihren Männern zusammenleben und nicht das Leben von Witwen in Reservaten führen. Afrikaner möchten auch nach elf Uhr abends noch ausgehen dürfen und nicht wie kleine Kinder auf ihren Zimmern bleiben müssen. Afrikaner möchten in ihrem eigenen Land herumreisen und dort Arbeit suchen dürfen, wo sie möchten und nicht, wo es das Arbeitsamt vorschreibt. Afrikaner möchten einen gerechten Anteil an ganz Südafrika; sie möchten Sicherheit und eine anerkannte Stellung in der Gesellschaft. Vor allem wollen wir gleiche politische Rechte, weil sich ohne diese an unserer Benachteiligung nichts ändern wird. Ich weiß, dass das in den Ohren der Weißen dieses Landes revolutionär klingt, weil die Mehrheit der Wöhler Afrikaner sein werden. Deshalb fürchtet der weiße Mann die Demokratie. Aber diese Angst darf nicht der einzigen Lösung im Wege stehen, die ein friedliches Zusammenleben der Rassen und Freiheit für alle garantiert. Es ist nicht wahr, dass das Wahlrecht für alle zur Vorherrschaft einer Rasse führen wird. Unterschiedliche politische Rechte, die auf der Hautfarbe basieren, sind etwas völlig Künstliches, und wenn sie abgeschafft werden, so wird auch die Herrschaft einer Rase über die andere verschwinden. Seit einem halben Jahrhundert kämpft der ANC gegen Rassismus. Wenn er siegt, wird er diese Politik nicht ändern. Dafür kämpft der ANC. Das ist ein wahrhaft nationaler Kampf. Es ist der Kampf des afrikanischen Volkes, der aus eigenem Leiden und eignen Erfahrungen hervorgegangen ist. Es ist ein Kampf für das Recht auf Leben. Ich habe mein Leben dem Kampf des afrikanischen Volkes geweiht. Ich habe gegen weiße Vorherrschaft gekämpft. Ich bin stets dem Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft gefolgt, in der alle Menschen friedlich und mit gleichen Möglichkeiten zusammenleben. Für dieses Ideal lebe und kämpfe ich. Aber wenn es sein muss, bin ich bereit, dafür zu sterben.
Hinweise und Anregungen
Der auf die Verurteilung folgende Aufruf des ANC an den UN-Sicherheitsrat bzw. an seine ständigen Mitglieder, ihr bestehendes Veto gegen wirtschaftliche Sanktionen gegen das apartheitliche Südafrika aufzuheben, wurde lange von Großbritannien, Frankreich und den USA (vor allem aus wirtschaftlichen Interessen heraus, vgl. freilich das „konstruktive Engagement“ der USA unter President Ronald Reagan) ignoriert. Zugleich hatte der Sicherheitsrat im Jahr 1977 einmütig beschlossen, Südafrika aufzufordern, alle im Rahme seiner Sicherheitsgesetze inhaftierten Personen freizulassen. Schon viel früher (zuerst 1969) verstand sich Nelson Mandela als „politischer Gefangener“ und agierte entsprechend. Kaum jemand hat damals den Zusicherungen Mandelas Vertrauen geschenkt, der ANC werde sich nach der Machtübernehme nach freien Wahlen nicht an den Weißen rächen oder gewiss wenigstens eine reziproke Politik – dieses Mal der Diskriminierung der weißen Rasse – einschlagen. Die historische Entwicklung hat Nelson Mandela eindrucksvoll bestätigt. Die Frage an heutige Demokratinnen und Demokraten ist von daher, ihr Engagement für die beste mögliche Regierungsform auch so kompromisslos zu kommunizieren. Ob Mandelas Schlussbemerkung darauf hindeutet, dass er mit einer Hinrichtung oder einem politisch motivierten Anschlag auf sein Leben rechnete, ist unklar. Die Inhaftierung seiner politischen Leitung lähmte den ANC jedenfalls lange. Erst die sich dann 1976 und in den folgenden Jahren erneut starke Zuspitzung der Situation im Land, bedingt durch weitergehende staatliche Repression und vor allem durch das staatliche Gewaltmonopol zwangen die politischen Führung dann erneut aus der eingetretenen Lethargie.