Dietrich Bonhoeffer heute gelesen
Heute gelesen: Texte und Fragen in der Zeit der Krise
In den kommenden Wochen möchte ich Sie ins Gespräch mit einigen Texten von Dietrich Bonhoeffer bringen, dessen Todestag sich am 9. April 2020 zum 75. Mal jährt. Ich erlaube mir, Ihnen dazu jeweils auch ein paar Fragen zu stellen – nicht um eine richtige Antwort zu bekommen, sondern um damit die Aussagerichtung der Texte, wie ich sie verstehe, mit Ihnen zu diskutieren.
Dr. Stefan Koch
Dietrich Bonhoeffer – Teil 1
„Christen und Heiden“ 1*)
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.
Menschen gehen zu Gott in seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in seinem leiden.
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.
Hinweise und Fragen
Während seiner Einkerkerung im Gestapogefängnis in Berlin brachte Dietrich Bonhoeffer sehr eigenständige und in seiner Zeit ganz neue Gedanken zur Zukunft des Glaubens und der Kirche auf das Papier.
Die erste Strophe des Gedichtes zeigt, dass es sehr menschlich ist, sich in Zeiten der Not an eine höhere Macht zu wenden. Letztlich unterscheiden sich Christen darin gar nicht von allen anderen in Fragen von „Krankheit“ und „Tod“. Zugleich verwendet Bonhoeffer zur Schilderung der menschlichen Not sehr theologische Begriffe. Mindestens das Wort und „Schuld“ haben Haftpunkte in der Theologie, das Wort „Brot“ erinnert an biblische Texte.
Wie würden Sie das „Glück“ hier einordnen?
In der zweiten Strophe findet ein bezeichnender Rollenwechsel statt, der sich freilich auch schon in der Bibel findet, wenn davon gesprochen wird, dass Gott Mensch wird und als Mensch leidet. Theologisch bedeutsam scheint aber, dass Gott dabei von Menschen begleitet wird – und zwar nun nicht nur von den Christenmenschen. Von ihnen heißt es aber, dass sie Gott „beistehen“.
Was wäre der Unterschied zwischen einem solchen „Beistehen“ und dem „zu ihm gehen“, das die Menschen insgesamt auszeichnet, wie würde dieser Unterschied konkret erlebbar sein?
In der dritten Strophe sind wir über lange Strecken wieder in der klassischen Redeweise von Gott, der die Menschen nährt und für sie – für alle – am Kreuz stirbt. Erst in der allerletzten Zeile des Gedichtes spitzt Bonhoeffer die Aussage dann unerwartet zu. Hier kommen nun endlich auch die „Heiden“ vor, von denen schon die Gedichtüberschrift handelt.
Wie verhalten sich aus Ihrer Sicht die „Menschen“ zu den „Heiden“?
Und was ist damit gemeint, dass Gott „ihnen beiden“ vergibt? Was gäbe es da den „Heiden“ und was den „Christen“ zu vergeben?
1*) Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 8. Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, herausgegeben von Chr. Gremmels, E. Bethge und R. Bethge in Zusammenarbeit mit I. Tödt, Gütersloh 1998, S. 515f.
Dietrich Bonhoeffer – Teil 2
Hinführung
Die Schrift „Sanctorum Communio“ 1*) ist Dietrich Bonhoeffers Doktorarbeit aus dem Jahr 1927, sie wurde 1930 als erstes seiner Werke gedruckt. Es geht Bonhoeffer um die Verhältnis-bestimmung der Kirche vor Ort (empirisch, mit ihren konkreten Menschen) und im theologischen Sinn (dogmatisch als „Gemeinschaft der Heiligen“). Er versucht, beides durch den Be-griff des Geistes zu verknüpfen, der auch die Menschen trägt, in denen die Möglichkeit erst noch schlummert, »wirk-liches« Glied der Kirche zu werden, wie Bonhoeffer es ausdrückt.
„Die Gottesdienstliche Versammlung“ 2*)
Eine christliche Gemeinde als politische Einzelgemeinde oder Hausgemeinde ist zusammengehalten durch ihre Versammlung ums Wort. Das Wort ist die Einheit von wesentlicher und empirischer Kirche, von heiligem und objektivem Geist, d.h. die konkrete Funktion der empirischen Kirche ist der Predigt- und Sakramentsgottesdienst. Die Predigt ist ‚Amt‘ der Ge-meinde, und also muss auch eine Versammlung vorhanden sein. Beide Begriffe entsprechen sich. Das ist vom Urchristentum bis in die Zeit des Pietismus und der Orthodoxie als Axiom verstanden worden. Erst eine individualistische Lebensauffassung begann die sachverhaltliche Notwendigkeit in eine psychologische umzudenken und stelle die Frage nach dem Sinn der Versammlung, im Hinblick auf Nutzen und Notwendigkeit für den Einzelnen …
Es besteht kein Zweifel, dass auch fern von der Versammlung lebende Menschen zur sanctorum communio zugehören können – Kranke, Verschlagene usw. –, dass diese also für den Einzel-nen nicht als ‚heilsnotwenig‘ betrachtet werden kann. Dennoch bleibt der Sinn der Versammlung für die Gemeinde voll erhalten. Auch diese Personen haben ihren Glauben aus der konkreten Berührung mit anderen Personen, aus der ‚Predigt‘ (Röm. 10,17). Alle anderen hier denkbaren Fälle beweisen nur die Möglichkeit, dass Gott auch ohne die Vermittlung der konkreten Gemeinde Menschen seiner Herrschaft unterwerfen kann …
In der Versammlung rede nicht ich und höre zugleich, wie im einsamen Umgang mit dem Wort, sondern ein anderer redet, und das wird mir zur unvergleichlichen Gewissheit. Ein ganz fremder verkündet mir die Gnade Gottes und die Vergebung, nicht als sein Erlebnis, sondern als Willen Gottes. In dem anderen fasse ich die Gemeinde und ihren Herrn als Bürgen meiner Gnadengewissheit in konkreter Gestalt. Indem ein an-derer da ist, der mir Gnade zusagt, werde ich der Gemeinde gewiss und ist alle Gefahr und Hoffnung, in Illusionen zu schweben, vernichtet.
Fragen zum Verständnis
Der Gottesdienstbesuch ist nicht heilsnotwendig, aber den-noch ein Kennzeichen der Kirche. Bonhoeffer tut sich schwer damit, dem Einzelnen den Gottesdienstbesuch freizustellen. Finden Sie eine Erklärung, warum?
Wer ist Ihrer Meinung nach „der Andere“, von dem Bonhoeffer spricht, der im Gottesdienst redet und mir die Gnade zusagt?
Was meinen Sie, wie würde Bonhoeffer die Möglichkeit beurteilen, nicht in der Kirche zu sitzen und dennoch einen Gottesdienst mitzuerleben – wäre eine Fernseh- oder Video-Übertragung für Bonhoeffer auch ein Gottesdienst in dem der Geist Gottes wirkt?
1*) Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW) Band 1. Sanctorum Communio. Eine dogmatische Unter-suchung zur Soziologie der Kirche, herausgegeben von J. von Soosten, München 1986.
2*) DBW I, S. 154-159.
Dietrich Bonhoeffer – Teil 3
Hinführung
Im Streit zwischen NS-Staat und evangelischer Kirche ver-suchte die Bekennende Kirche insbesondere ihre jungen Pfar-rer vor dem Zugriff der Ideologie der Nazis zu bewahren. Es entstanden unabhängige, oftmals auch geheime Predigersemina-re zur praktischen Ausbildung der Hochschulabsolventen. Dietrich Bonhoeffer leitete einige Monate lang das Prediger-seminar in Finkenwalde, das aber – wie die Vorgängereinrich-tung in Zingst – bald unter Beobachtung durch die Gestapo stand und schon im Jahr 1937 vom Staat geschlossen wurde. Im September und Oktober des folgenden Jahres 1938 schrieb Bon-hoeffer den Text „Gemeinsames Leben“ 1*), der verdeutlicht, wie die persönliche Gemeinschaft der angehenden Pfarrer im Pre-digerseminar konzipiert war.
„Der einsame Tag“ 2*)
Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemein-schaft. Er wird sich selbst und der Gemeinschaft nur Schaden tun. Allein standest du vor Gott, als er dich rief, allein musstest du dem Ruf folgen, allein musstest du dein Kreuz aufnehmen, allein musstest du kämpfen und beten, und alleine wirst du sterben und Gott Rechenschaft geben. Du kannst dir selbst nicht ausweichen; denn Gott hat dich ausgesondert. Willst du nicht allein sein, so verwirfst du den Ruf Christi an dich und kannst an der Gemeinschaft der Berufenen keinen Anteil haben …
Umgekehrt aber gilt der Satz: wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein. In der Gemeinde bist du berufen, der Ruf galt nicht dir allein, in der Ge-meinde der Berufenen trägst du dein Kreuz, kämpfst du und betest du. Du bist nicht allein, selbst im Sterben und am jüngsten Tag wirst du nur ein Glied der großen Gemeinde Jesu sein …
Jedes für sich genommen hat tiefe Abgründe und Gefahren. Wer Gemeinschaft will ohne Alleinsein, der stürzt in die Leere der Worte und Gefühle, wer Alleinsein sucht ohne Gemeinschaft, der kommt im Abgrund der Eitelkeit, Selbstvernarrtheit und Verzweiflung um.
Fragen zum Verständnis
Im ersten Teil über das Alleinsein fühlt man sich an Jesus erinnert, der von Gott berufen wird, am Kreuz die tiefste Einsamkeit zu tragen. Zugleich erinnert das Wort „ausgeson-dert“ daran, dass Gott Israel, sein Volk des Bundes, berufen hat, das ja das kleinste aller Völker war – weil durch diese Berufung deutlich wird, wie Gott beruft: ohne Ansehen der Person. Können Sie im Blick auf sich selbst auch von einer „Berufung“ reden? Martin Luther zählte dazu im Übrigen auch den Brotberuf des Christenmenschen …
Sind das Alleinsein und die Gemeinschaft zwei Extreme, die jedenfalls nicht zugleich erlebt werden können?
So hoch geschätzt ist unsere Gemeinschaft etwas sehr kostba-res, sie muss jedenfalls immer auch dafür sorgen, Menschen aus ihrer Einsamkeit zu befreien. Das kann wohl besonders gut durch das gemeinsame Singen geschehen. Oder durch das gemeinsame Nachdenken über ein Bibelwort.
1*) Dietrich Bonhoeffer Werke Band 5. Gemeinsames Leben / Das Gebetbuch der Bibel, herausgegeben von G.L. Müller und A. Schönherr, München 1992.
2*) DBW 5, S. 65-76.
Dietrich Bonhoeffer – Teil 4
Hinführung
An seinem berühmtesten Text mit dem Buchtitel „Nachfolge“ 1*) hat Dietrich Bonhoeffer lange herumgedacht und darüber in Finkenwalde sogar eigene Vorlesungen gehalten. Das Manu-skript wurde dann am 1. Advent 1937 in München veröffentlicht, es machte Bonhoeffers Namen in den kirchlichen Kreisen bekannt. Inhaltlich wurde oft attestiert, Bonhoeffer gehe hier deutlich über Martin Luther hinaus, weil er im „Kirchenkampf“ gegen die Nazis erlebt habe, dass die Kirche seiner Zeit die Gnadenlehre des Reformators nicht angemessen bewahre. Tatsächlich waren die „Rechtfertigung“ (die Zuschreibung unserer unverdienten Gerechtigkeit durch Gott) und die dem konsequent folgende „Heiligung“ (das Tun des Guten durch die Gerechtfertigten) auch bei Luther schon zwei Seiten der gleichen Medaille. Es mag aber durchaus sein, dass in kirchlicher Lehre oder persönlicher Glaubenspraxis die Seiten der Medaille nicht eng genug zusammengehalten werden und dadurch – die kritisierte es jedenfalls Dietrich Bonhoeffer in seinem Buch – eine „billige Gnade“, eine Rechtfertigung ohne Konsequenzen und „als Schleuderware“ kenntlich wird …
„Die Nachfolge und das Kreuz“ 2*)
Wie Christus nur Christus ist als der leidende und verworfene, so ist der Jünger nur Jünger als der leidende und verworfene, als der mitgekreuzigte. Die Nachfolge als die Bin-dung an die Person Jesu Christi stelle den Nachfolgenden unter das Gesetz Christi, d.h. unter das Kreuz.
Die Mitteilung dieser unveräußerlichen Wahrheit an die Jünger aber beginnt nun merkwürdigerweise damit, dass Jesus seine Jünger noch einmal ganz und gar freigibt. „Wenn einer mir nachfolgen will“ [Mk 8,34] – sagt Jesus. Es ist je keine Selbstverständlichkeit, nicht einmal unter den Jüngern. Es kann ja keiner gezwungen werden, es kann ja nicht einmal von irgendeinem erwartet werden, vielmehr: „Wenn einer“, allen anderen anderen Angeboten, die an ihn herantraten, zum Trotz nachfolgen will –. Noch einmal ist alles auf die Entscheidung gestellt, mitten in der Nachfolge, in der die Jünger stehen, wird noch einmal alles abgebrochen, alles offengelassen, nichts erwartet, nichts erzwungen. So einschneidend ist das, was jetzt gesagt werden soll. Also noch einmal, bevor das Gesetz der Nachfolge verkündigt wird, müssen sich selbst die Jünger freigeben lassen.
„Wenn einer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst“. Wie Petrus in der Verleugnung Christi sagte: ich kenne diesen Menschen nicht [Mt 26,74], so soll der nachfolgende nun zu sich selbst sagen. Selbstverleugnung kann niemals aufgehen in einer noch so großen Fülle einzelner Akte der Selbstzermarterung der aske-tischen Übungen; es heißt nicht Selbstmord, weil auch hier noch der Eigenwille des Menschen sich durchsetzen kann. Selbstverleugnung heißt nur Christius kennen, nicht mehr sich selbst, nur noch ihn sehen, der vorangeht, und nicht mehr den Weg, der uns zu schwer ist. Selbstverleugnung sagt wiederum nur: Er geht voran, halte dich fest an ihm.
„ – und nehme sein Kreuz auf sich“. Es ist die Gnade Jesu, dass er seine Jünger auf dieses Wort vorbereitet hat durch das Wort von der Selbstverleugnung. Haben wir uns wirklich ganz vergessen, kennen wir uns selbst nicht mehr, dann allein können wir bereit sein, das Kreuz zu tragen um seinetwillen. Kennen wir nur noch ihn, dann kennen wir auch die Schmerzen des Kreuzes nicht mehr, dann sehen wir ja nur noch ihn. Hätte uns Jesus nicht so freundlich vorbereitet auf dieses Wort, so könnten wir es nicht tragen. Aber er hat uns instandgesetzt, auch dieses harte Wort als Gnade zu vernehmen. Es trifft uns an in der Freude der Nachfolge und bestärkt uns in ihr.
Fragen zum Verständnis
Bonhoeffer interpretiert die Nachfolge als Entscheidungssituation und steht damit nahe bei dem, was vor allem das Johannesevangelium immer wieder in den Mittelpunkt rückt, wenn es von der nahenden oder gekommenen „Stunde Jesu“ spricht. Es geht dabei freilich nicht um die Entscheidung Gottes für uns, diese steht schon lange unverrückbar fest. Sondern es geht um unsere Antwort auf diese Entscheidung Gottes für uns. Wäre es überhaupt denkbar, dass unsere fehlende Entscheidung die uns immer zuvorkommende Gnade Gottes zunichtemacht?
In der Nachfolge nehmen wir nicht unser Kreuz, sondern das Kreuz Christi auf uns. Was aber ist mit den Lasten, die wir mit uns herumschleppen und von denen manchmal auch als „Kreuz“ gesprochen wird?
Bonhoeffer ringt der Verleugnung des Petrus eine überraschend positive Bedeutung ab, so als wäre es notwendig, dass auch wir wie Petrus am Wachfeuer im Hof uns von Jesus lossagen. Aber Bonhoeffer deutet sie anders.
1*) Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 4. Nachfolge, herausgegeben von M. Kuske und I. Tödt, München 1989
2*) DBW 4, S. 77f.
Dietrich Bonhoeffer – Teil 5
Bonhoeffers verloren geglaubter Brief an Gandhi
Hinführung
Dietrich Bonhoeffer reiste viel und weit. Gerne hätte er auch in Indien Matahma Gandhi in dessen Ashram besucht. Schon in den ersten Studiensemestern las er in dessen Texten, in seinem Auslandsvikariat in Barcelona (1928/29) hegte er die Hoffnung, nach Indien weiterzureisen. Am 17. Oktober 1934 schrieb Bonhoeffer während seiner Zeit als Pfarrer zweier deutscher Auslandsgemeinden in London an Gandhi, um einen Besuch bei ihm anzubahnen. Am 1. November folgte dann Gandhis Einladung an den „lieben Freund“. Der Besuch kam nicht zustande, Gandhis Antwort ist schon lange bekannt – im Jahr 2018 wurde nun auch Bonhoeffers Brief gefunden und veröffentlicht 1*).
Bonhoeffers Brief
Verehrter Mahatmaji!
Es geschieht auf Grund der außerordentlich bestürzenden Situation in den europäischen Ländern und in meinem eigenen Land, Deutschland, dass ich es wage, mich persönlich an Sie zu wenden; und ich hoffe, Sie werden mir das verzeihen. Ich habe lange Zeit gewartet, aber nun haben sich die Dinge so zugespitzt, dass ich es nicht für gerechtfertigt halte, länger zu warten. Wie ich weiß, haben Sie ein offenes Ohr für jede Notlage, wo auch immer sie auftritt; deshalb vertraue ich darauf, dass Sie es nicht ablehnen, mir Hilfe und Rat zuteilwerden zu lassen, obwohl sie mich nicht kennen, und mir meine Fragen nachsehen.
Die große Not in Europa und besonders in Deutschland besteht nicht in der wirtschaftlichen und politischen Unordnung, sondern es geht um eine tiefe geistige Not. Europa und Deutschland leiden unter einem gefährlichen Fieber und sind dabei, sowohl die Selbstkontrolle als auch das Bewusstsein für das zu verlieren, was sie tun. Die heilende Kraft für alle menschliche Bedrängnis und Not, nämlich die Botschaft Christi, enttäuscht immer mehr nachdenkliche Menschen aufgrund ihrer gegenwärtigen Organisationsform. Gewiss gibt es hier und dort einzelne Christenmenschen, die das ihnen Mögliche tun, um die organisierte Christenheit zu einer grundlegenden Erneuerung zu bewegen; aber die meisten organisierten Körperschaften der christlichen Kirchen wollen die tatsächliche Herausforderung nicht wahrnehmen. Als christlicher Pfarrer finde ich diese Erfahrung enttäuschend und niederdrückend. Ich habe keinen Zweifel daran, dass nur wahres Christentum unseren westlichen Völkern zu einem neuen und geistlich gesunden Leben verhelfen kann. Aber die Christenheit muss sehr anders werden, als sie sich gegenwärtig darstellt.
Es hat keinen Sinn, die Zukunft vorauszusagen, die in Gottes Hand liegt; aber wenn uns nicht alle Zeichen täuschen, läuft alles auf einen Krieg in naher Zukunft hinaus; und der nächste Krieg wird gewiss den geistlichen Tod Europas zur Folge haben. Deshalb brauchen wir in unseren Ländern eine wirklich geistlich geprägte und lebendige christliche Friedensbewegung. Die westliche Christenheit muss aus der Bergpredigt neu geboren werden; das ist der entscheidende Grund dafür, dass ich Ihnen schreibe. Aus all dem, was ich von Ihnen und Ihrer Arbeit weiß, nachdem ich Ihre Bücher und Ihre Bewegung über einige Jahre studiert habe, schließe ich, dass wir westlichen Christinnen und Christen von Ihnen lernen sollten, was mit dem Wirklichwerden des Glaubens gemeint ist und was ein Leben erreichen kann, das dem politischen Frieden und dem Frieden zwischen ethnischen Gruppen gewidmet ist. Wenn es irgendwo ein sichtbares Beispiel für das Erreichen solcher Ziele gibt, sehe ich es in Ihrer Bewegung. Ich weiß selbstverständlich, dass Sie kein getaufter Christ sind; doch die Menschen, deren Glauben Jesus pries, gehörten zumeist auch nicht zu der offiziellen Kirche ihrer Zeit …
Die große Bewunderung, die ich für Ihr Land, seine Philosophie und seine Führer, für Ihr persönliches Wirken unter den Ärmsten Ihrer Mitmenschen, für Ihre erzieherischen Ideale, für Ihr Eintreten für Frieden und Gewaltlosigkeit, für die Wahrheit und Ihre Kraft empfinde, hat mich dazu gebracht, dass ich unbedingt im nächsten Winter nach Indien kommen möchte …
Ich verbleibe, verehrter Mahatmaji, sehr ehrerbietig.
Ihr mit Ihnen verbundener
Dietrich Bonhoeffer
Hinweise und Fragen
Bonhoeffer beurteilt die Lage der Kirchen in Deutschland sehr negativ, er sieht in ihrer konkreten Organisation ein Hindernis für den christlichen Glauben. Damit meint Bonhoeffer sicher nicht nur die krude, sich der NSDAP andienende „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, sondern womöglich auch die sogenannten „intakten Landeskirchen“ wie Bayern, Württemberg und Hannover. Und auch die „Bekennende Kirche“ war Bonhoeffer gelegentlich zu wenig entschieden zur Verkündigung des Evangeliums.
Bitte lesen Sie die Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,3-10) und überlegen, wie eine darauf aufgebaute evangelische Kirche damals – und heute – aussehen würde.
Es gibt einen späteren Brief von Gandhi an Hitler, der ihn zum Frieden mahnt. Dieser Brief ist gewiss nicht durch Bonhoeffers Kontaktaufnahme vermittelt, zeigt aber, dass das „Salz der Erde“ (Mt 5,13a) von dem Jesus im Blick auf seine Jünger spricht, auch nichtchristliche und nichtreligiöse Streuwerkzeuge haben kann.
1*) Abgedruckt in: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, 21. Jahrgang, April 2020, S. 13-14. Die hier in Ausschnitten zitierte Übersetzung ins Deutsche hat Wolfgang Huber angefertigt, der zuletzt auch eine lesenswerte Bonhoeffer-Biographie vorgelegt hat: Huber, Wolfgang: Dietrich Bonhoeffer – Auf dem Weg zur Freiheit, München 2019.
Dietrich Bonhoeffer – Teil 6
Bonhoeffers Morgengebet in der Haft
Hinführung
Im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Berlin-Tegel, in dem Dietrich Bonhoeffer seit dem 5. April 1943 (erst am 8. Okto-ber 1944 wurde er in das Kellergefängnis in der damaligen Prinz-Albrecht-Straße verlegt, heute „Topographie des Ter-rors“) eingesperrt war, kam er in Kontakt mit dem dortigen Gefängnisseelsorger. Nach dessen Erinnerung (Poelchau, Ha-rald: „Die Ordnung der Bedrängten“, Berlin 1963, S. 78) hat Bonhoeffer auf den seinen Wunsch hin in der Haft „Gebete für Gefangene“ verfasst. Bonhoeffers eigenes Morgengebet hat den Weg in das Evangelische Gesangbuch (Ausgabe für Bayern und Thüringen 1994, Nr. 841,2) gefunden – leider in stark ge-kürzter Form: Nach der Anrufung zu Beginn und einer Licht-meditation folgt im Original eine dreiteilige Entfaltung, der sich eine trinitarische Bitte um Erbarmen anschließt, bevor das Gebet mit einem Lobspruch endet. Im Gesangbuch fehlt die Entfaltung über Jesus Christus und den Heiligen Geist und die trinitarische Bitte, lediglich der Lobruf ist abschließend wieder angefügt. Die in Klammern genannten Bi-belstellen gehören nicht zum Text, sie dienen dem besseren Verständnis heute und sollen dem Eigenstudium der biblischen Bezüge des Gebetes helfen. De weiteren Nennungen in Klammern korrigieren kleine Schreibversehen des Originals.
Morgengebet 1*)
Gott, zu dir rufe ich am frühen Morgen
Hilf mir beten und meine Gedanken sammeln;
Ich kann es nicht allein.
In mir ist es finster, aber bei dir ist Licht
ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht
ich bin kleinmütig, aber bei dir ist die Hilfe
ich bin unruhig, aber bei dir ist Frieden
in mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist die Geduld
ich verstehe deine Wege nicht, aber du weißt [den] rechten Weg für mich.
Vater im Himmel,
Lob und Dank sei dir für die Ruhe der Nacht
Lob und Dank sei dir für den neuen Tag
Lob und Dank sei dir für alle deine Güte und Treue in meinem vergangenen Leben.
Du hast mir viel Gutes erwiesen,
lass mich nun auch das Schwere aus deiner Hand hinnehmen.
Du wirst mit nicht mehr auflegen, als ich tragen kann. [Ps 68,20b; I Kor 10,13]
Du lässt denen Kinder alle Dinge zum Besten dienen. [Röm 8,29]
Herr Jesus Christus,
du warst arm und elend, gefangen und verlassen wie ich.
Du kennst alle Not der Menschen,
du bleibst bei mir, wenn kein Mensch mir beisteht
du vergisst mich nicht und suchst mich,
du willst, dass ich dich erkenne und mich zu dir kehre
Herr, ich höre deinen Ruf und folge.
Hilf mir!
Heiliger Geist,
gib mir den Glauben,
der mich vor Verzweiflung und Laster rettet
Gib mir die Liebe zu Gott und den Menschen,
die allen Hass und alle Bitterkeit vertilgt,
gib mir die Hoffnung,
die mich befreit von Furcht und Verzagtheit.
Lehre mich Jesus Christus erkennen und seinen Willen tun.
Dreieiniger Gott,
mein Schöpfer und mein Heiland,
dir gehört dieser Tag. Meine Zeit steht in deinen Händen. [Ps 31,16]
Heiliger, barmherziger Gott
mein Schöpfer und mein Heiland
mein Richter und Erretter
du kennst mich und alle meine Wege und mein Tun.
Du hasst uns strafst das Böse in dieser und in jeder Welt
ohne Ansehen der Person,
du vergibst Sünden,
dem der dich aufrichtig darum bittet
und du liebst das Gute und lohnst es
auf dieser Erde mit getrostem Gewissen
und in der künftigen Welt mit der Krone der Gerechtigkeit. [II Tim 4,8]
Vor dir denke ich an all die Meinen,
an die Mitgefangenen und an alle
die in diesem Haus ihren schweren Dienst tun.
Herr erbarm dich
Schenk mir die Freiheit wieder
Und las mich derzeit so leben,
wie ich es vor [dir] und vor den Menschen verantworten kann.
Herr, was dieser Tag auch bringt – dein Name sei gelobt.
Hinweise und Fragen
Meditieren Sie diesen Text, am besten, indem Sie ihn einige Tage als eigenes Morgengebet sprechen. Sie werden schnell seine befreiende Wirkung spüren.
Studieren sie einmal, wie im Abschnitt „Dreieiniger Gott“ zwischen den Werken der drei göttlichen „Personen“ (Vater, Sohn, Geist), theologisch sehr zutreffend, im Grundsatz nicht unterschieden wird.
Bonhoeffers besondere Aufmerksamkeit galt stets der zweiten Person der Trinität, Jesu Christus. Das ist gut sichtbar im Gebetsteil „Heiliger Geist“, der am Ende die Nachfolge be-tont. Es lässt sich aber auch im Gebetsteil an den „Vater im Himmel“ entdecken – ich wünsche eine fröhliche Spurensuche …