Predigten von 2021
Hier finden Sie die Predigten, die ich zuletzt in Starnberg oder einer der benachbarten Kirchengemeinden gehalten habe.
Zwei Sammelbände mit Predigten habe ich zudem im Fromm Verlag veröffentlicht:
- „Nach der Kraft, die in uns wirkt“ (Epheser 3,20). Starnberger Predigten, 2017
- „Du tust mir kund den Weg zum Leben“ (Psalm 16,11a). Lied- und Psalmenpredigten, 2018
Bitte melden Sie sich, wenn Sie daran Interesse haben: Tel.: 0173 2646401 oder E-Mail: stefan.koch(@)elkb.de
Predigt über Joh 21,1-14
(gehalten am 11. April 2021, in der Friedenskirche Starnberg)
Liebe Gemeinde,
Ostern ist ganz handfest und keineswegs trocken im Mund: Es gibt zu normalen Zeiten nach dem Gottesdienst und allen gefundenen Osterleckereien – hinter Krokant-Eiern war ich dieses Jahr besonders her – ein ausführliches Frühstück mit dem ersten Schinken nach dem Fasten, genug Ostereiern zum kämpferischen Test welche Schale härter ist, dazu ganz frisches Osterbrot (für mich bitte ohne Rosinen) und in meinem Osterhaushalt – stets am Karfreitag gebacken – ein schokoliertes Osterlamm aus Nusskuchenvollkorn. In diesem Jahr habe ich dem Enkelkind noch einen gebackenen Osterhasen mitgebracht, damit gleich eine Tradition beginnt. Ostern möge es wieder üppig werde war der Wunsch vieler, lange genug haben wir verzichtet.
Auf die in Sachen Nachfolge durch den Karfreitag beschäftigungslos gewordene Elf (zwölf minus Judas) beginnt mit Ostern hingegen wieder die normale Arbeit daheim, Brot und Fisch. Natürlich sind Frühstück, Arbeit, Brot und Fisch allesamt existenziell für uns Menschen. Damals anders als heute, aber auch damals wie heute. Nichts davon ist selbstverständlich, Frühstück nicht, Arbeit, Brot und Fisch nicht. Leider erleben manche Kinder nicht immer die Selbstverständlichkeit, nach einem Frühstück zur Schule zu gehen und das Pausenbrot dabeizuhaben. Es ist ebenfalls nicht überall selbstverständlich, dass die tägliche Arbeit im Brotberuf eines Menschen genug zum Leben der Familie für den ganzen Monat einbringt. Wie oft werde ich angerufen, immer von den Frauen, die eine Unterstützung brauchen und sich zu fragen trauen. Und solange in der Gemeindekasse dafür Geld ist, gebe ich gerne. Und danach eben aus meinem Geldbeutel, der dadurch nicht leer wird. Wer gerne gibt, bekommt auch wieder genug.
Auch für die Jesusfreunde – Nachfolger, Schüler, Jünger mag ich sie derzeit nicht nennen – ist ihre Arbeit noch nicht wieder selbstverständlich. Zwar haben sie die Botschaft gehört, dass Jesus auferstanden ist, aber sie wissen vermutlich schlicht nicht, was das für sie bedeuten soll. So sind sie wieder nach Hause gelaufen und erst einmal das wieder geworden, was sie präjesuanisch waren: Fischer am See, so als wäre ihr Leben wieder selbstverständlich. Aber auch mitten in ihrem altneuen Alltag kommen sie mit Ostern in Kontakt, stellt sich Jesus in den Weg.
Danach offenbarte sich Jesus abermals den Jüngern am See von Tiberias.
Er offenbarte sich aber so: Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas, der Zwilling genannt wird, und Nathanael aus Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und zwei andere seiner Jünger. Spricht Simon Petrus zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sprechen zu ihm: Wir kommen mit dir. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot, und in dieser Nacht fingen sie nichts. Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Spricht Jesus zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sprach zu ihnen: Werft das Netz aus zur Rechten des Bootes, so werdet ihr finden. Da warfen sie es aus und konnten’s nicht mehr ziehen wegen der Menge der Fische. Da spricht der Jünger, den Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte: »Es ist der Herr«, da gürtete er sich das Obergewand um, denn er war nackt, und warf sich in den See. Die andern Jünger aber kamen mit dem Boot, denn sie waren nicht fern vom Land, nur etwa zweihundert Ellen, und zogen das Netz mit den Fischen. Als sie nun an Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer am Boden und Fisch darauf und Brot. Spricht Jesus zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! Simon Petrus stieg herauf und zog das Netz an Land, voll großer Fische, hundertdreiundfünfzig. Und obwohl es so viele waren, zerriss doch das Netz nicht. Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl! Niemand aber unter den Jüngern wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten: Es ist der Herr. Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt’s ihnen, desgleichen auch den Fisch.
Das ist nun das dritte Mal, dass sich Jesus den Jüngern offenbarte, nachdem er von den Toten auferstanden war.
Wäre heute nicht der achte und ursprünglich letzte Tag der Osterfestwoche, man würde sagen, es geht also darum, dass die Fischer die ganze Nacht auf dem See gearbeitet haben und nun kommen sie mit einem leeren Boot heim. Und dann würde man weiterpredigen mit Worten wie diesen: andere kriegen heutzutage 2,50 Euro für zwölf Stunden Handyzusammenbauen, Turnschuhnähen oder Bananenpflücken. Arbeit haben ist schon einmal das erste. Arbeit haben und davon leben können, das kommt noch dazu. Das wissen alle, die schon einmal vor der Frage standen, wie das Geld eigentlich reichen soll, das man zur Verfügung hat.
So zu predigen ist nicht meine Art, alleine schon wegen Ostern nicht. Und so zu räsonieren ist zugleich normalerweise nicht unsere Herausforderung, wir haben einen Brotarbeit und unser Auskommen, zum Glück auch im Alter, weil wir vorgesorgt haben oder so viel Verdienst hatten, dass es mehr als gut reicht. Und um die unter uns, die mehr brauchen, als sie haben, kümmern sich die guten Menschen unserer Stadt, Gott sei Dank, bei der Tafel oder durch Geldspenden oder in der Seelsorge am Krankenbett. So weiterzumachen als ob es Ostern nicht gegeben hätte, passt zudem absolut nicht in die Zeit, die an Ostern begonnen hat. Es ist ja die Zeit der weggewälzten Steine, wie schwer auch immer sie auf uns lasteten!
Wenn Petrus im Osterevangelium sein „ich bin dann mal fischen“ schnoddert, eine Handvoll seiner Kollegen mitkommt, geht es um mehr als Normalität nach der Karfreitagskatastrophe. Narrativ betrachtet stimmt es natürlich, von irgendetwas müssen sie leben auch nach Ostern, nachdem sie mit hängenden Ohren aus Jerusalem zurückgetrottet sind in die galiläische Heimat. Viele Ostergeschichten erzählen davon, dass Jesus den Jüngern in Jerusalem erscheint. Unsere Geschichte weiß davon und ordnet sich in die Reihe mit Platzziffer 3 ein (Joh 21,14). Ich denke, es geht den Jüngern so wie uns derzeit: Ostern war, aber die Konsequenzen dessen sind noch nicht klar. Uns ja auch nicht, jetzt o Ostern schon wieder eine Woche her ist. Die Jünger sind zurück in ihrer vorjesuanischen Normalität, sind wieder Fischerlein am See. Wir waren weiterhin auf ein Ende einer Pandemie, die sich wie eine Schlange windet und gegen unsere Hoffnung aufbäumt und sich stetig einbildet, uns doch noch verschlingen zu können.
Simon Petrus (so nennt ihn das vierte Evangelium markant mit beiden Namen: Simon „Fels“) hat Familie in Kapernaum, Frau und Schwiegermutter gibt es, von denen wurden schon früher Geschichten erzählt. Dazu zählen vermutlich weitere hungrige Mäuler, die auf Essen warten. Petrus und die Kollegen bilden eine kleine Genossenschaft auf Zeit, vielleicht auch nur, um ein Boot zu betreiben oder den gemieteten Fischerkahn zu unterhalten, den sie für den Job brauchen, um sich das Fischen leisten zu können. Da ist es durchaus ein herber Verlust, wenn die Arbeit einer ganzen Nacht für alle umsonst wäre – am Tag lässt sich kaum sinnvoll hinausfahren, der Fang in den Netzen ist tagsüber erfahrungsgemäß klein, die Fische wandern tagsüber in tiefere Wasserschichten unter die von der Sonnenhitze erwärmten ab, so begründet kann man das anderswo konstatierte Zögern (Lk 5,5a) des Petrus begreifen und in den Fachbüchern über das Handwerk in Israel nachlesen.
Wer nachts nicht rausfährt oder bis zum Morgen nichts einnetzt: Pech gehabt. Für arme Menschen wäre das eine Katastrophe, die das ohnehin knappe Überlebens-Budget ins Wanken bringen kann. Nach ihrer durchaus frustrierenden Nacht empfängt die auch darin noch desillusionierten Männer eine blöde Frage: „Kinder, habt ihr nichts zu essen?“ Sieht man doch, kein Fisch, also auch kein Brot! Aber sie lassen sich noch einmal herausschicken, mitten im Hellen, von einem Unbekannten, der scheinbar herumlungert und den sie nicht kennen oder gar erkennen. Nochmal raus? Reichlich hundert Meter, und weiter rechts. Sie werden die Netze erneut auswerfen, die eigentlich jetzt erst einmal gepflegt und geflickt gehören.
Und dann machen die Fische die Story zur zappeligen Ostergeschichte. Das Wunder geschieht. Das Netz füllt sich prall mit großen aquatisch lebenden Wirbeltieren mit Kiemen, als hätten die nur darauf gewartet, eingefangen zu werden, fast von selbst hüpfen sie ins Schleppnetz. Es wird Ostern, das Wunder geschieht, nur die Jünger merken es immer noch nicht. So wie wir manchmal, wenn wir das erlösende Kreuz vor lauter Wäldern nicht sehen, das leere Grab nicht wegen all der Steine auf dem Weg vor uns. Kann das sein, dass man Ostern verpasst?
Das ist endlich mal ein Tagwerk, das sich lohnt. Am Ufer brennt ein Feuer. Der Unbekannte, der unerkannte Auftraggeber erwartet sie und hat ihnen gar ein schnelles Frühstück vorbereitet. Irgendwoher hat er selbst schon Brot und andere Fische aufgetrieben, auch wenn es dann doch nicht für alle reicht. Man nimmt noch ein paar von den frisch gefangenen dazu. Und dann beginnt es den Männern doch so langsam zu dämmern. Wer ist das? Jesus?
Könnte das Jesus sein? Auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus haben sie ihn erkannt, da hat er ihnen an den bekannten Gesten wie beim Mahl gezeigt, wer er ist. Sie trauen sich nicht zu fragen. Die Szene ist so ähnlich wie vor Monaten, als sich unendlich viele Leute mit knurrendem Magen am Ufer drängten. Damals hatte ein einziges Kind etwas zu essen dabei, fünf Brote und zwei Fische. Für einen Einkauf hätte das eigens dafür gesammelte Geld nie und nimmer gereicht. Das Kind gab ab, die Jünger verteilten und alle haben Brot und Fische genug bekommen (Joh 6,1-13, Lk 5,4) und mehr als genug übrig gehabt.
Heute ist der See der Fischer und die Gegend der Brote und Fische in jedem normalen Urlaubsjahr ein Touristenmagnet. Schiffe schippern seelisch hungrige Schaulustige aus aller Welt über die selten stürmisch durch Wind sich türmenden Wellen, wie es das hochhaushohe Containerschiff „Ever Given“ im Suezkanal im Windsturm aus der Fahrrinne wehte. Am Seeufer in Israel eilt Personal hin und her und beköstigt die Massen, die zu erleben hoffen, was Glaube bedeutet. Für besondere Gäste wird abends am Ufer gegrillt, Highlight in der Dunkelheit. Fast so wie damals, Jesus unterschiede sich wohl kaum von den dienstbaren Geistern, die das gutbetuchte Publikum dort bedienen. Jesus kellnert, schürt Feuer am Strand, brät Fisch und röstet Brot. Er schlüpft in die Rolle der damaligen Frau, die fürs Essen zuständig ist. Jesus macht Frühstück. Auch deshalb fragen sich die Jünger: Ist es Jesus? Kann das sein? Was macht er da?
Ostern ist eine Sehhilfe, die uns neu aufstellt und die innere Schwungfeder neu aufzieht. Wir bekommen es auf die Augen, wie wir dem Auferstandenen am besten begegnen, damit wir wieder mutig loslaufen, aber nun dem Leben nicht länger hinterherrennen, sondern mit der Auferstehung zum Leben jesusmäßig mithalten. Der auferstandene Herr zeigt sich den Seinen, Frauen und Männern und Kindern, in verschiedener Gestalt. Jesus wird für den Gärtner gehalten, sieht aus wie ein begleitender Etappenwanderer, erscheint als Verwundeter mit Narben und Folterspuren. Jesus tritt vor allem auf als Hungriger, Durstiger, Nackter, Kranker, Fremder, Gefangener (Mt 25), und daran will er erkannt werden. Der Apostel Paulus gar erlebt den österlichen (!) Herrn in Philippi – schon in Europa – als Gefängnisbandebrecher (Act 16,25-34).
Jesus, die österliche Wechselgestalt, Fleisch und Blut sind an ihm sichtbar wie noch nie. Aber auch seine Gottheit scheint jetzt schon wieder durch. Darum erkennt man ihn ja auch nicht gleich. Immer wundern sich die Jünger über diese Begegnung, meistens fürchten sie sich. Aber jedes Mal verändert sich etwas für sie, weil Jesus ihnen begegnet und sie in ein neues Leben ruft, wie Gott ihn ins Leben rief. Deshalb kehren die Jünger dann um. Verlieren ihre Angst. Begreifen Zusammenhänge. Beginnen zu reden. Kommen in Bewegung. Wachsen über sich hinaus. Werden gewiss. Glauben.
Die Jünger glauben nicht gleich beim ersten Mal, aber vielleicht beim zweiten, oder beim Dritten, jetzt am See beim Fischen. Oder zum x-ten Mal, sooft wir jetzt schon Ostern erlebt haben, dieses Jahr wieder anders. Was sich gleich bleibt, ist nur eines: der Osterjesus ist ein mächtiger Motivator, ein kluger Bestärker, ein mitreißender Geist, ein göttlicher Herold. Und er will auch uns begeistern fürs Leben. So sollen wir umkehren aus der Angst. Rauskommen aus unserem verschlossenen Alltag. Her mit uns in die Welt, die den Sieg des Lebens noch nicht glauben will, den sie an einen Impfstoff knüpft. Sein Wappen ist die Siegesfahne, die er schwingt als ein Held und aus der Hölle alle seligen Toten mitbringt. Sein Wappenschild ist das leere Grab mit dem Stein. Tatsächlich hat Ostern, hat die Auferstehung, hat unsere Zukunft so viele Gesichter, wie wir viele Gesichter haben und in verschiedenen Situationen stecken.
In einer Verfilmung (2005) des Buches ‚Pride and prejudice‘ (1813), deutsch als „Stolz und Vorurteil“, der britischen Schriftstellerin Jane Austen – es geht darum, dass wir Menschen uns einfach nicht nach unserem vermeintlichen Status in der Gesellschaft beurteilen sollen – finden die beiden Protagonisten sich nach vielen verbalen Duellen doch, weil sie sich gegenseitig auf den Weg gemacht haben, einander zu suchen. Vor dem Morgen, nach einer Nacht, in der beide nicht schlafen konnten, sind sie aufgebrochen, angetrieben vom Wunsch, dem liebsten Menschen nahe zu sein, den sie haben. Just als die Sonne aufgeht begegnen sie sich. Und werden einander im gleißenden Morgenlicht des Films (laut Regie so gar nicht geplant) zu Botschaftern der göttlichen Liebe in Menschengestalt, nach der sie sich mehr als alles sonst sehnen. Am Ende ist das ein Ostermorgenmoment, Lizzie Bennet und Fitzwilliam Darcy werden einander zu Christusbildern im Licht. Dass sie sich küssen, ist dann noch die schönste Nebensache der Welt, die so gut dazu passt wie das leere Grab zu Ostern.
Als wäre es ein Bild aus diesem Film haben der Landesbischof und der Landeskirchenrat – so etwas wie das bayerische evangelische Kirchenregiment – uns Pfarrerinnen und Pfarrern zu Ostern eine Grußkarte geschickt. Die Herren und Damen Bischof und Oberkirchenräte schreiben darin über unsere gemeinsame Situation von „zunehmender Erschöpfung der Menschen“, auch von eigener Müdigkeit, von den menschlichen Begegnungen „wie wir das einfach brauchen“. Und dann weisen sie darauf hin, dass an Ostern „im Feiern … im Licht des Morgens“ die Osterbotschaft spürbar wird, die sich – so der Wunsch – in uns allen „zur hoffnungsvollen, kräftigenden Freude“ auswachsen wolle … – auch das ein gutes, wärmendes, tragendes Bild für Ostern und ein Satz des Osterjesus, eine Botschaft der Bestärkung, wie ich es empfunden habe.
Es gibt noch weitere Bilder und Auslegungen dieser Botschaft von der Auferstehung, es gibt viele weitere Lebensbilder davon. Zum Beispiel die unserer Ostergeschichte aus dem letzten Kapitel des JohEv, in der ja in listenreicher Erzählmanier sogar offen gelassen wird, ob die Jünger Jesu jetzt doch erkannt haben und ihn nur noch nicht so anzureden wagen. „Es ist der Herr“, dessen sind sie sich sicher! Für das vierte Evangelium braucht es den Zweifler Thomas, er alleine unter den Jüngern und überhaupt, der es dann ausspricht und vor Jesus bekennt: „mein Herr und mein Gott“ (Joh 20,28). Thomas alleine spricht aus, was der Evangelist von uns allen ausgesprochen haben will. Gesagt haben, bekannt haben und mit dem Leben in Liebe bezeugt.
Die Jünger glauben nicht gleich beim ersten Mal, aber vielleicht beim zweiten, oder beim Dritten, jetzt am See beim Fischen und beim Essen. Oder beim x-ten Mal, sooft wir jetzt schon Ostern erlebt haben, dieses Jahr wieder anders. Ostern ist auch achte Tage danach noch eine Herausforderung. Aufstehen heißt es für uns alle, jede und jeder soll es auf seine und ihre Weise hinbekommen. Wir alle haben unsere Weise, das zu tun. Dir steht deine Verwandlung ins Haus, mir die meine. Ostern heißt, durch das eigene Erschrecken hindurch erkennen, dass es Jesus ist, der mit dem Frühstück am Ufer steht. Ostern heißt, hin rudern, anlanden, aussteigen, das Boot befestigen, dem Fischfang sichern und uns dann mit Hunger nach Brot und Fisch ans Feuer setzen und sich geben lassen, was wir zum Leben und zum Glauben brauchen.
Ostern bedeutet im abstraktesten Sinn, sich von Jesus mit dem Leben infizieren zu lassen, sich durch Jesus auf ein Leben in Ewigkeit impfen zu lassen, dadurch in Gottes Nähe zu gelangen, deshalb den Mundschutz abzulegen und auf den Zuruf „Jesus ist auferstanden“ dann „er ist wahrhaftig auferstanden“ zu antworten. Jesus ist auferstanden.
Er ist wahrhaftig auferstanden.
Amen.
Predigt über Hiob 19,19-27
(gehalten im März 2021, in der Friedenskirche Starnberg)
Liebe Gemeinde,
wir gehen auf die Karwoche zu, auf die wichtigste Woche im Jahr. Ich will versuchen, mich dem Leiden Jesu zu nähern, seiner Verlassenheit von den Freunden, seines Verrates durch engste Vertraute, seinen unendlichen Schmerzen und seinem Tod am Kreuz. Womit könnten wir diese tiefste, zugleich uns so heilsame Passion vergleichen? Die kirchliche Neuordnung der Predigttexte vor einigen Jahren bietet uns einen eigenartigen Bibeltext als Resonanzraum an.
Von Anfang an haben die Christen des Neuen Testamentes (NT) versucht, dem Leiden und Sterben Jesu durch die überlieferten Worte und Bilder ihrer hebräischen und griechischen Bibel (unser AT) näher zu kommen. Wäre unser Christus ein unschuldig leidender Gerechter wie der „Knecht Gottes“ (Jes 53)? Jesus ist doch kein missratener Sohn, der, den Eltern ungehorsam, zur Strafe „am Holz hängt“ (Dtn 21,23), wobei uns sein Tod vom Fluch des Gesetzes ja „freikauft“ (Gal 3,13), wie Paulus den galatischen Gemeinden mit Nachdruck schreibt, um dem Gesetz jede Deutungsmacht über unser Leben zu entwinden. Oder wäre der Mann aus Nazareth ein am übergroßen Auftrag gescheiterter Bußprophet wie früher Jeremia (vgl. das Buch Threni mit seinen „Jeremiaden“, Klagen über den Untergang Jerusalems und seines Tempels)? Oder ist der von den Römern aus Machtinstinkt gnadenlos Gekreuzigte schlicht ein missverstandener frommer Psalmbeter, der mit den Worten des im Tod gestammelten „mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Ps 22,2) sein Leben aushaucht, wobei der 22. Psalm mit der Zuversicht endet, dass in der Gemeinde Gottes immer eine Zukunft für den Gerechten liegt …
Heute ist es Hiob, den das NT eigentlich gar nicht zum Kronzeugen für Golgatha macht. Er soll uns helfen, das Leiden Jesu und unsere Passion im Licht Gottes zu deuten. Hiob gilt unserer Zeit als Prototyp des Menschen, der unschuldig leidet, mithin als eine sehr moderne Figur. Hiob hadert mit seinem Schicksal, er rauft verbal mit seinen Freunden, die versuchen sein Leid zu erklären und ihn zur Vorsicht im Blick auf seine angebliche Unschuld mahnen – und Hiob hadert auch mit Gott. Ein langes Buch des AT, mit prosaischem Rahmen (c. 1-2 und 42) und poetischer Füllung (c. 3-41) in Form vieler Gespräche über den Sinn des Lebens, ist proppenvoll mit klugen und ein wenig erschöpfenden Gedanken. Unser Text ist die sechste Antwort Hiobs auf die Vorhaltung eines seiner Freunde, konkret eines gewissen Bildad von Schuach. Dieser (vgl. 18,1-21) hatte Hiob warnend das Schicksal des Frevlers vorgehalten, dem es am Ende im Tod nicht anders geht als dem, „der sich um Gott nicht kümmert“, der also kein Gottesleugner und Atheist, sondern ein durch mangelnde Frömmigkeit ausgezeichneter, „normaler“ Mensch ist. Hiob möge beides nicht sein, bitte!
Hiob hört das und kann nicht widersprechen. Aber er will weder in die Schublade des Ungläubigen, noch in die des nur halbgar Glaubenden gesteckt werden, fühlt sich missverstanden und gar gequält durch die Anwürfe. Er antwortet (19,1-29) dem Freund sehr direkt, statt Verständnis zu ernten immer nur Vorhaltungen zu bekommen (19,2-5). Hiob begreift nicht, wie es hat geschehen können, dass er sich Gott zum Feind gemacht hat (19,6-12) und seine eigene Familie und Freunde (19,13-16.18f) und sogar seine Frau (19,17) sich daraufhin von ihm abgewandt haben. Gott hilft ihm nicht, warum helfen ihm nicht wenigstens die Freunde (19,21), die ihn jetzt „wie Dämonen“ bedrängen? Irgendwie sind wir in ein Tryptichon des Hieronymus Bosch, des Malers der unverstehbaren Grotesken gefallen:
Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt.
Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon.
Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen!
Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch?
Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden
als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen!
Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben.
Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen.
Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder.
Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.
Der Mann, der noch vor kurzem mitten im blühenden Leben stand, 10 Kinder zeugte und auch sonst mit richtig viel Reichtum gesegnet war – Hiob wurde zeitgenössisch als Stoiker interpretiert, weil er sein Leben unaufgeregt fromm, gottesfürchtig und rechtschaffen gestaltet hat. Nirgendwo wird vermerkt, dass er Jude war, er taugt auch den anderen „Leuten des Buches“ als Exempel, also ebenso uns Christen und den Moslems (vgl. Suren 38,44 und 21,83f).
In der Zwischenzeit ist Hiobs Leben in kieselgroße Stücke zerfallen. Erst sind alle seine Angestellten von Fremden ermordet worden. Durch ein Unwetter stürzt dann das Haus ein, in dem seine Kinder gerade ein fröhliches Fest feieren – kein Sohn und keine Tochter überleben. Dann wird Hiob selbst schwer krank, bösartige Geschwüre breiten sich am ganzen Körper aus, die verwesende Haut fällt von ihm ab, Hiob stinkt zum Himmel. Und auch das noch: seine Frau beschimpft ihn ob seines Glaubens. Alles, was ihn bisher getragen hat, ist zerbrochen. Hiob, will er es oder nicht, egal, er muss sich die Frage stellen: „Warum muss gerade mir das alles geschehen? Warum straft mich Gott so schwer?“ Aber er findet keinen guten Grund für sein Leid. Und je tiefer er darüber nachdenkt, umso mehr gerät er an die Grenze dessen, was er verstehen kann, an den Horizont seiner Denkweisen und Logik.
Das Leid, das ihm widerfährt, empfindet und begreift er als Unrecht von Gott. Die drei Freunde, die ihn besuchen, darunter eben ein gewisser Bildad von Schuach, machen zunächst alles richtig – fast wie in einem Lehrbuch für Seelsorge: sie kommen, sie setzen sich mit Hiob auf den Boden und schweigen sieben Tage und sieben Nächte. Doch dann suchen auch sie nach Erklärungen: Hiob, wenn es Dir so schlecht geht, dann muss es seinen Grund haben. Denke daran: Gott straft die, die Unrecht tun und die ihn nicht achten! (vgl. 18,21) Doch Hiob wehrt sich gegen diese Deutungsversuche, die nicht ihn als Person betreffen, die nicht ihn als Mensch im Blick haben, die vielleicht klug klingen, aber nicht mit seinem Leben verknüpft und nicht in der Erfahrung mit Gott geerdet sind. „Wäre ich schuldig, dann wehe mir!“ (10,15) „Ihr seid meine Freunde, aber ihr verspottet mich!“ (16,20) „So merkt doch endlich, dass Gott mir Unrecht getan hat und dass er mich mit einem undurchdringbaren Netz umgeben hat!“ (19,6)
Hiob wehrt sich, er wehrt sich wie wir gegen vieles, was einfach nicht zu erklären ist: Warum gibt es immer wieder Menschen, die mich so verletzten, statt meine Not und Angst und Sorge zu sehen? Warum trifft gerade den Menschen diese schwere Krankheit, der mir so wichtig ist, sodass unser Leben miteinander unendlich mühsam wird? Warum lässt Corona keine Gelegenheit aus, die Schwächsten unter uns besonders hart zu treffen? Und Hiob bekommt auf diese Fragen keine Antwort, so wie wir. Es gibt darauf auch keine, findet er – und jeder noch so gut gemeinte Erklärungsversuch ist falsch und sollte uns im Munde zergehen. Hiobs Freunde versuchen es trotzdem immer wieder, sie bemühen all ihr Welt- und ihr in der Tradition verankertes Gotteswissen. Aber Hiob bleibt dabei, was gewiss ist, ist ihm gewiss: „Ich habe nicht gesündigt. Ich hielt meinen Fuß auf Gottes Bahn und ich wich nicht ab. Ich übertrat Gottes Gebote nicht, seine Worte habe ich bei mir bewahrt.“ (23,11)
Natürlich behält Hiob diese Gedanken auch vor Gott nicht für sich. Alleine schon darin, wie ernst er zweifelt und wie verbissen er Gott sucht, ist er ein großer Glaubender und ein riesiges Vorbild. Hiob schmeißt Gott seine Verbitterung, seine Enttäuschung, ja seine Wut vor die Füße. „Du bist es doch, der die Menschen schafft und der die Zeit bestimmt, wann sie wieder sterben müssen. Du bist es, der uns das Leben schenkt und uns wieder abberuft, wenn du unsere Zeit für gekommen hältst … Aber warum nur“, so krawallt er, „lässt du uns in dieser kurzen Zeit, die du uns bemessen hast, nicht in Ruhe?“ (14,5f) Lass uns leben, Gott, am besten ohne Dich!
Hiobs insistieren auf Gottes Bestimmung und Zugriff auf den Menschen – ist es das, was Jesus meint, als er am Kreuz „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46) schreit? Anders als Hiob gibt Jesu Klage Gott nicht auf. „Man muss gegen Gott zu Gott fliehen“, sagt Martin Luther dazu. Trotz allen Unglücks, mitten in der Verzweiflung und noch durch sein Leid flüchtet Jesus nicht in Ironie, Sarkasmus, Depression oder Schweigen. Und Jesus kommt auch nicht zu dem Urteil von Friedrich Nietzsche, nach dem Gott bekanntlich tot wäre und uns wohl nichts anders bliebe, als unser schlimmes Schicksal am Ende sogar zu lieben: ‚amor fati‘ nennt der Philosoph das und weiß, dass er „Übermenschliches“ von einer Menschheit erwartet, die solches nicht vermag …
Jesus schreit nach dem Gott, der fern scheint. Hiob hingegen fordert Gott heraus. Wo man mit Gott hadert, da lässt man nicht los. Und wo wir mit Gott hadern, lässt auch Gott nicht von uns ab – nicht einmal da. So wendet sich Hiob an Gott gegen Gott. Und in dieser Haltung, sich mit Gott auch dann noch auseinanderzusetzen, wenn es keine Antworten gibt, findet Hiob den Mut zur Hoffnung. Mitten in seinem Ringen mit Gott und mit dem Unrecht dieser Welt und dieses Gottes findet Hiob zu diesem wunderschönen Satz, der aus unserem Bibeltext einen Predigttext macht: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, auch wenn er sich als der Letzte aus dem Staub erhebt“ (19,25).
Im Buch des Hiob ist dieser Satz wohl erst später, vom Rand, wo er als Kommentar auf der Buchrolle stand, in den Text hineingewandert. In jedem Fall hat der Schreiber dieser Worte sehr genau erkannt, welche Kraftquelle uns in der Auseinandersetzung mit Gott entspringen kann. Wohin man sich durchringen kann, wenn man mit Gott den Kampf wagt wie ein Jakob oder eine Jakobine in der Nacht am Fluss Jabbok (Gen 32,23-33). Und wenn man nicht nachlässt, bis man den Segen bekommt, auch wenn es Schläge kostet, die man einsteckt.
„Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“. Ein solcher Satz, liebe Gemeinde, liegt einem nicht stets vorne auf der Zunge. Es hat bei Hiob lange gedauert – viele einsame und verzweifelte Sprech- und Klagestunden. Hiob hatte dafür keinerlei theologischen Vorbilder oder Vorredner. Die Texte des AT entwickeln noch keine Auferstehungshoffnung, weshalb unser Satz vom Leben des Erlösers auch nicht auf Hiobs ewiges Leben zielt. Der Satz ist auch keine tröstliche Vision der Zukunft in seligen Jagdgründen oder der hebräischen Sche‘ol. Und keine Rechtfertigung einer Seele vor einem himmlischen Gericht, wie in den ägyptischen Totenbüchern zuhauf.
In seinem Hadern mit Gott entwickelt Hiob die Kraft, eine irdische Spur der Hoffnung zu finden, die vorher nicht da war. Hiob wird am Ende gerechtfertigt werden, Gott wird für ihn eintreten (Hi 42). In seinem Herzen bildet sich jetzt schon ganz langsam diese Ahnung: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!“ Der Satz, mit dem Hiob gegen jede Hoffnungslosigkeit daran festhält, dass Gott doch noch zu seinen Gunsten seine Unschuld attestieren wird, bleibt eine zarte Arie und ist gerade kein Halleluja mit Trompeten und Paukenschlag.
Dieser leise Satz hebt kein Leid der Welt auf. Aber gerade als ein leiser Ton kann er auch uns zur Quelle der Kraft werden: dem Leben, das wir schon längst verloren geglaubt haben, erneut entgegenzusehen und unserer Zukunft in der kommenden Zeit entgegenzugehen: stets suchend, immer tastend, aber auch wieder im Vertrauen, auf uns selbst und auf Gott. Denn wo ich einen Satz wie diesen mitspreche, da erhellt sich der Horizont um einen Hoffnungsschimmer – einen Lichtstrahl, der mein eigenes, oft so beängstigendes Leben langsam übersteigt wie die aufgehende Sonne an Ostern, in deren frühem Schein damals nach dem Karfreitag niemand mit jener Botschaft gerechnet hat: „Christus ist auferstanden“.
Wo ich leise mitsprechen kann: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“, da öffnet sich mein Blick neu für die Chancen eines (oft nur klein wirkenden) Glaubens und für eine Gemeinschaft wie der Unseren, die trotz aller eigenen engen Grenzen eben doch bereit ist, wenn nötig mit Engelsgeduld gegen das Unrecht in der Welt anzutreten, sich als Friedenskirchengemeinde für Gerechtigkeit zu engagieren, beginnend mit dem, was wir bei uns daheim und in unserer Nachbarschaft für die Menschen tun können. Als eine Kirche, die Einspruch erhebt, wenn Menschen in unverschuldeter Not in die soziale Isolation gedrängt werden. Im Gedanken an mehr als 100 Verstorbene an oder mit Corona alleine in unserem Landkreis. Auch als eine Kirche, die nicht müde wird, ihr Gotteshaus verlässlich zu öffnen für die Menschen, die hier innen endlich still werden wollen oder auch ihre Klage vor Gott bringen wollen, weil sonst nichts mehr hilft. Die ihre Zettel voller Sorge an die Gebetswand heften in den Sprachen dieser Welt, eben auch auf Arabisch.
In der Karwoche, auf die wir zugehen, stellen wir uns dem Anspruch, das Leid, die Angst, die Einsamkeit, die Verzweiflung und sogar den Tod ohne jeden Krankheitsgrund ernst zu nehmen. Alles dies hat Jesus am eigenen Leib erfahren – als Mensch unter uns Menschen. In der Osternacht am dritten Tag können wir aber auch erleben, dass man gegen jede leidvolle Erfahrung mit Hiob und wie Hiob und zur Not als ein Hiob darauf vertrauen kann: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und dass er sich vor dem am Ende über den Staub erhebt“.
Amen.
Predigt über II Petr 1,16-19
(gehalten am 31. Januar 2021, in der Friedenskirche Starnberg)
Liebe Gemeinde,
im chinesischen Taiwan gibt es an Neujahr eine auch in unserer Zeit noch gepflegte Zeremonie, die an der Statue des Küchengottes Zao Jun zelebriert wird. Zwar sind Teile des himmlischen Personals schon gar nicht mehr in Amt und Würden, aber die Tradition hält sich. Man ist dort davon überzeugt, dass der Küchengott – im eigenen Haus wohnend kennt der die Zustände daheim vermutlich gut – einmal im Jahr zum Obergott, dem Jadekaiser, marschiert, um Bericht zu erstatten. Was der Küchen- dem Himmelsgott über die Familie erzählt, entscheidet dann über das Schicksal der Familie im ganzen kommenden Jahr!
Bevor der Küchengott zu seiner Reise aufbricht, werden ihm zur Einstimmung auf seine Reise Süßigkeiten, Geistergeld und Papierpferdchen zur Erleichterung der möglichen Beschwer seines langen Marsches geboten. Soweit so üblich, oder? Kennt man ja auch aus heimischen Gefilden und von Urlaubsexkursionen. Sollen die Menschen doch glauben, was sie wollen, wenn es ihnen hilft, wie? Weil man ja nun ganz gewiss nicht in Teufels Küche kommen möchte, bestreicht die Familie die Lippen der Statue des Küchengottes sicherheitshalber mit Malzzucker, Honig und Marmelade. Denn nun sollten ihm doch eigentlich beim Bericht von der Familie nur noch süße Worte über die Lippen gehen, sodass die nächste Zukunft der Familie nicht nur in der eigenen Küche gesichert ist … dies alles sind Praktiken, die im AT unter den Propheten besonders treffend der zweite Jesaja (Jes 40ff) aufspießt, wenn er in spöttischem Ton die Menschen nach dem geschätzten Material fragt – Holz damals natürlich, Gips und Pappmaschee in Taiwan? – aus dem solche „Götterbilder“ respektive Idole eigentlich gemacht sind. Der Prophet tut das, um klarzulegen, dass die Menschen, die so glauben und handeln, auf dem Holzweg einer schlicht erfundenen Religion zur Befriedigung eigener Bedürfnisse sind.
Der Apostel Paulus würde dazu seinen Röm bemühen und wie dort lästern, dass da wieder mal auf dümmliche heidnische Façon Schöpfer und Geschöpf völlig unzulässig und unentschuldbar miteinander vertauscht (Röm 1,23) worden sind. Nur ein menschenerdachtes und menschengemachtes Götzenbild kann man manipulieren. Freilich ist es irgendwie auch süß, was Menschen sich für einen Gott ersinnen und zugleich ist es beachtlich, was Menschen ihrem Götzen für Versprechungen machen, damit er ihre Bitten erhört …
Ist dies tatsächlich vor allem der Furcht geschuldet, es könnte im Familiensetting anders ins Jahr hineinlaufen, als man es in schweren Zeiten jetzt braucht? Natürlich kann es (nicht nur bei uns daheim) immer anders kommen, als wie es uns erhoffen. Die Sorge, dass uns Dinge und Entwicklungen bevorstehen, die wir nicht in den Griff behalten oder die uns durch ihre schlichte Dauer überwältigen, sie mag in unseren Tagen und Monaten viele von uns bewegen. Mich bewegt sie, ob den Menschen die Kraft und Geduld reicht, bis die zweite Impfung erfolgt ist. Und es gibt viele weitere Sorgen und Ängste vor dem, das wir nicht in der Hand haben.
Was gibt Orientierung und Halt? Gott traut uns zu, ihm zu vertrauen. Der Predigttext aus dem zweiten Petrusbrief, historisch dem jüngsten Text im ganzen NT, passt gut zu der Geschichte von Jesu Verklärung auf dem Berg (vgl. Mt 17,1-9 als Sonntagsevangelium), wo sich das Leben für die mitgenommenen Jünger endlich einmal so wohlig (17,4a) und gut anfühlt, dass man am liebsten gar nicht wieder in Tal und in die Niederungen des Alltags hinabsteigen möchte.
Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge.
Liebe Gemeinde, ja, man könnte auch heutzutage sehr persönlich das Empfinden haben, in düsteren Zeiten zu leben und zu wohnen, an einem etwa innerlich verdunkelten Ort, den auch der Schnee nur äußerlich heller, aber nicht wärmer oder lichter gemacht hat. Fühlen Sie sich derzeit wohl in dieser Welt? Viele sind gerade in einer Art Deckung und Winterschlaf. Wir haben freilich diese Hoffnung: das Licht wird sich durchsetzen, die Wärme, der Glanz, der auf Jesu Gesicht lag, als er auf dem Berg verklärt wurde, wird erneut dazu führen, das Leben zu erwecken und den Frühling und die Impfung zu bringen. Gottes Stimme vom Himmel hat es angekündigt und die Herrlichkeit des Höchsten hat es in helles Licht getaucht: Der Sohn Gottes ist erschienen, den Gott immer schon zu uns senden wollte, damit er uns die Augen und Herzen öffnen. Gemeint damit ist Jesus, der menschgewordener Sohn Gottes, der zu uns gekommen ist, um uns mit seiner Hoffnung zu imprägnieren und zum Leben anzustecken.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft greifen ineinander und verbinden sich im Predigttext, dessen Brief erneut wie schon eine erste Ausgabe (I Petr) dem alten Apostel Petrus zugeschrieben wurde, um Beachtung zu finden. Inhaltlich ist das ja wichtig, was da steht und gesagt wird, auch wenn gerade keine Augenzeugenschaft (aber eben auch keine unrealistische und unhaltbare Fabelei) besteht. Denn die Erinnerung an die innerer Stimme Gottes in unserem Leben, was wir bereits mit Gott in guten Zeiten vor Corona erlebt haben, das macht uns stark. Das trägt auch für Morgen. Das, was wir persönlich, jede und jeder von uns auf die ganz eigene Art, schon mit Gott erlebt und von Gott als Zuspruch und Segen fahren haben. Das wir so deuten können und mögen, dass wir erlebt haben, dass Gott an unserer Seite ging, als es zwielichtig wurde und dunkel um uns war und wir nicht wussten, wie es weitergehen würde.
Da ist zum anderen, neben dem persönlichen Erleben, neben unserer eigenen Erfahrung und Theologie, auch das, was andere vor uns mit Gott erlebt haben. Zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, der sich im Berliner Gestapogefängnis am heutigen Erinnerungsort namens „Topographie des Terrors“ zweifelnd fragt, da andere sich ihm mehr Selbstvertrauen abschauen, als er selbst in sich entdeckt: „Wer bin ich?“ Der hin- und her schwankt zwischen einsamer Verzweiflung und den Mitgefangenen gegenüber offensichtlich hergezeigter Gelassenheit. Pendelnd zwischen dem Zorn auf sein Schicksal der Trennung von der Frau, die er liebt, und der Ohnmacht, ob seine Familie auch noch in den Schlund der Todesgefahr um das eigene Leben hineingezogen wird, in dem er schon steckt. Am Schluss legt Bonhoeffer was er von sich weiß und alles andere in Gottes Hände und sagt: „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.“
Wir Christen sind nie alleine unterwegs auf dem Weg durchs Leben. Viele gingen vor uns diese Strecken. Andere gehen mit uns, wir gehören in die Gemeinschaft der Getauften. Es gab schon Christmenschen durch die Zeit seit Jesus, an ihnen können wir anknüpfen. Daran, wie sie Gott in Liedern gelobt oder in Psalmen beklagt haben. In ihr Vertrauen können wir einstimmen und wie sie den passenden Vers beten: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ (Ps 23,2). Andere sind mit uns gemeinsam unterwegs. Und es wird wieder die heute noch jungen Christen geben, die jetzt schon auf dem Plan sind und die dann in ganzer Größe noch nach uns kommen, die das Wort Gottes weitertragen werden in eine noch neuere Zeit, die dann nicht mehr unsere ist. Wir glauben nicht alleine. Wir haben den Trost und die Hoffnung unserer Geschwister, unserer Familie in Gott, für die wir keinen Küchengott als Beschwichtiger im Himmel oder auf wolkenumtürmten Bergeshöhen brauchen.
Natürlich neigt man als Protestant dazu, die eigene Beziehung zu Gott über alles andere zu betonen. Und es gibt zu jeder Zeit die Brüder und Schwestern, die nicht nur heute mit gewiss gutem, weil so empfundenem Recht betonen, sie seien ihrem (und unserem) Gott am nächsten, wenn sie alleine für sich hin durch den Wald gehen oder einen einsamen Spaziergang am Meer machen. In den letzten Wochen bin ich genauso selbst immer wieder unterwegs gewesen. Ich kenne und brauche auch die Momente der Stille in der Natur, der besonderen Atmosphäre im Winterwald und am Seeufer. So wie ich mir gerne daheim sehr laut Musik anmache, die dann durchs ganze Haus schallt, wo sie am Abend keine Nachbarn oder die tagsüber fleißigen Mitarbeitenden des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SPDi) in den Büros nebenan stören kann. Das Putzteam, das oft abends erst sehr spät kommt, erfreut sich hoffentlich an diesen Klängen …
Ich denke gerne über Gott alleine nach. Aber auch meine eigene Erfahrung mit Gott braucht als Ergänzung und Korrektur Eure Gemeinschaft: zum Singen brauche ich die Gemeinde sowieso, aber auch zum gemeinsamen Beten des Psalms und des Vaterunser, zum verbindenden Hören der Worte der Lesung und der Predigt, und zum miteinander Bekennen des Glaubens, damit ich nicht ins Stottern und Stolpern gerate. Wo mein eigener Glaube einem klein und zerbrechlich scheint, tut es uns gewiss gut, uns gegenseitig zu bestärken.
Und was wären wir ohne die Geschichten und Stories und Erzählungen und Legenden und sogar Fabeln und Gleichnisse über Gott, die andere vor uns erlebt, verstanden, neu ausgelegt, dadurch kreativ erinnert und zur Sicherheit sogar noch aufgeschrieben und in heiligen Büchern bewahrt haben? In der Bibel des Alten und des Neuen Testaments, in der biblischen Tradition, aus der auch unser Predigttext mit seinem fiktiven Petrus im Brief schöpft, finden wir viele Narrative und Verse, die uns Hoffnung geben können.
Viele Menschen haben Lieblingsgeschichten und Lieblingsverse, im Starnberger Gemeindebrief haben wir schon vor einiger Zeit eine Reihe begonnen, sich darüber auszutauschen und zu erzählen. Eine neutestamentliche Parabel (so nennt man besondere, nicht alltägliche Beispielgeschichten), die ich sehr mag, ist die von der Heilung des blinden Bettlers Bartimäus vor Jericho (Mk 10,46-52). Ich habe diese Geschichte schon oft in Schulgottesdiensten anhand der Bilder des Kinderbibelmalers Kees de Kort erzählt. Diese Bilder zeigen besonders schön, dass der Blinde nicht locker lässt, sondern immer weiter und zur Not immer lauter schreit: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner“ (10,47b.48b). Jesus hört ihn und ruft ihn zu sich. Und als der Blinde es noch einmal ausgesprochen hat, was er von Gott braucht, in diesem Augenblick kann er sehen. Auf eben diesem Bild der Heilung ist in der Kinderbibel Bartimäus mit derart aufgerissenen, staunenden Augen gemalt, die zum ersten Mal alles um sich herum sehen, ein Ausdruck von intensivstem Sehen liegt auf seinem Gesicht. So muss es sein, plötzlich alles, was vorher im Dunkel lag, mit eigenen Augen zu erfassen. So muss es sein, das befreiende Wort zu hören. So muss es sein, die Herrlichkeit Gottes zu schauen …
Vielleicht ist das auch ein einzelner Verses, die Sie begleitet? Für mich gibt es einige davon: die Herrnhuter Losung am Tag meiner Geburt am 5. August 1965; das Bibelwort, das einmal auf meinem Grabstein stehen soll (II Kor 12,9): „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ Oder mein Spruch zur Konfirmation am 9. April 1979: „Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil“ (Jes 12,2b). Manchmal geraten einem diese Sprüche in den Hintergrund und beschäftigen mich lange nicht, dann wieder sind sie präsent und sprechen zu mir und ich bin froh, sie mir nicht selbst ausgesucht zu haben, sondern auf den Kopf und das Herz zugesagt bekommen zu haben.
Das konkrete Wort der biblischen Botschaft, die unvermittelt heute spricht, ist ein Licht, das an einem dunklen Ort scheint, von einer Stimme erzählt der Petrus unseres verspäteten Briefes in seiner Erinnerung an Jesu Verklärung. Das Wort verscheucht das Dunkel, und mit seinem Glanz kommt Gott in unsere Welt. Damit wird das, was uns tagtäglich umgibt, inwendig hell und – wo wir es so begreifen – durchscheinend für Gott. Das passiert, wo Menschen einander begegnen und sich helfen. Wo wir einander schreiben, uns anrufen, uns online treffen oder auch nur intensiv genug aneinander denken.
Gottes Licht erreicht uns heute aus der Zeit von vor mehr als 2000 Jahren. Lange vor uns, mindestens 2000 Lichtjahre früher haben andere schon sein Leuchten gesehen und wurden dankbar. Heute scheint es uns. „Diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen“, in dieses Audio-Bild fasst es der Predigttext. Heute erahnen wir einen Vorschein von einem solchen Licht, dessen Glanz und Wärme uns eines Tages ganz erfüllen wird. Schon heute will es uns erreichen und ermuntert uns, Mut zu fassen. Wir kommen her aus dem Licht und gehen hinein in das Licht. So schließt sich der Kreis unseres Lebens und wir sind ewig aufgehoben bei Gott.
Ein Lied begleitet mich in seiner schlichten Melodie seit einiger Zeit, ich habe mir angewöhnt, es auch beim Gehen draußen immer wieder einmal zu singen, es beschwingt mich zudem. Und es fasst unseren Predigttext auf eigene Weise und mit eigenen Worten gut zusammen: „Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht; es hat Hoffnung und Zukunft gebracht; es gibt Trost, es gibt Halt in Bedrängnis, Not und Ängsten, ist wie ein Stern in der Dunkelheit.“ (Liederheft „Kommt, atmet auf“ Nummer 056) Ich freue mich, es nachher mit Ihnen zu singen.
Amen.
Predigt über Röm 12,1-8(9-18)
(gehalten am 10. Januar 2021, in der Friedenskirche Starnberg)
Liebe Gemeinde,
es war eine kleine Beerdigung auf einem der Münchner Friedhöfe. Nur engste Angehörige der hochbetagt Verstorbenen waren gekommen. Einer von Ihnen, in meinem Alter, geht auf dem kurzen Weg hin zur Friedhofskapelle und zur Trauerfeier neben mir her und fragt trotz schwarzem Talar meinerseits: „Sind Sie evangelisch, oder katholischer Pfarrer?“ Ich antworte sachgemäß. Er daraufhin: „Also ein weltlicher Pfarrer“. Was meinte er damit? Weltoffen in dem Sinn, dass der Pfarrer mit offenen Augen wahrnimmt, was in der Welt geschieht, dass er nicht über die Köpfe der Menschen hinweg predigt? In diesem Sinn möchte ich sehr weltlich sein. Oder verstand er unter weltlich einen, der die Menschen bitte nicht mit frommen Sprüchen belästigt, den man bei Bedarf auch nach dem Kirchenaustritt holen kann, um einem Geburtstag, einer Einweihung oder sogar Beerdigung noch den nötigen zeremoniellen Rahmen zu geben? Ehrlich gesagt bin ich so ein Pfarrer auch und ein wenig stolz darauf, bei den hiesigen Bestattern einen entsprechenden Ruf zu haben, dass man nicht zu Kreuze kriechen muss, wenn man die Mutter kirchlich beerdigt und damit angemessen bestattet haben will.
Wie lebt ein Christ in dieser Welt? Lasst euch nicht in das vorgefertigte Muster des Zeitgeistes pressen. Gestaltet euch stattdessen um, indem ihr ein neues Denken beginnt. Auf diese Weise könnt ihr beurteilen, was dem Willen Gottes entspricht! Mit ähnlichen Worten umschreibt es der Apostel Paulus den Christen einer kleinen Hausgemeinde in Rom. Wie lebe ich als Christ in dieser Welt? Für Paulus gehört dazu dreierlei: ein Leben aus Dankbarkeit, ein Leben für Gott auch im Alltag und ein Leben mit meinen Gaben. Und das schreibt Paulus wörtlich:
Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.
Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt, sondern dass er maßvoll von sich halte, wie Gott einem jeden zugeteilt hat das Maß des Glaubens. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied. Wir haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Hat jemand prophetische Rede, so übe er sie dem Glauben gemäß. Hat jemand ein Amt, so versehe er dies Amt. Ist jemand Lehrer, so lehre er. Hat jemand die Gabe, zu ermahnen und zu trösten, so ermahne und tröste er. Wer gibt, gebe mit lauterem Sinn. Wer leitet, tue es mit Eifer. Wer Barmherzigkeit übt, tue es mit Freude.
Ein Leben für Gott ist ein Leben aus Dankbarkeit, damit fängt Paulus an. Und die Dankbarkeit ist auch der Start unser Gedanken an Gott, konkret die Dankbarkeit über Gottes Barmherzigkeit. Gottes Gnade über uns, die wirksam ist, sie steht am Anfang. Und erst dann kommen Auf- und Anforderungen, die an uns gestellt werden, zu denen wir uns stellen sollen. Gott gibt zuerst, bevor er fordert. Und auch wir, wenn wir gefordert sind, sollten dann zuerst geben.
Die Absolventinnen und Absolventen berühmter Universitäten, die es inzwischen auch hierzulande gibt, spenden oft hohe Beträge an ihre almae mater – aus Dankbarkeit für die Ausbildung, für großzügige Stipendien, die auch Menschen bekommen, die sich ein Studium in Harvard oder Princeton sonst nicht leisten könnten. Mit dem entsprechenden Hochschulabschluss in der Tasche waren die Menschen dann in der Lage, gut bezahlte Berufe zu ergreifen.
Um wie viel größer wird die Dankbarkeit eines Menschen sein, der Gottes Barmherzigkeit erfahren hat! Eines Mannes und einer Frau, die verstanden hat: Gott hat in mich nicht nur viel Geld investiert, sondern seinen eigenen Sohn hat er für mich zur Welt gebracht. Gott befreit uns aus Sünde und Todesverfallenheit, in Jesus schenkt er allen neues Leben und Gemeinschaft mit Gott, die über den Tod hinausreicht. Es ist dieser Blick Gottes, der mich zum weltlichen Pfarrer macht. Der mir hilft, auch bei Angehörigen, die gar nichts von Kirche und Gott halten, den Auftrag zu erfüllen, den Jesus uns gegeben hat, immer von Gottes Barmherzigkeit zu zeugen, die alleine den Menschen, den sie erreicht, von innen heraus verändern kann.
Was ich jetzt nur sehr kurz angedeutet habe, eben dies hat Paulus im Römerbrief in elf langen Kapiteln entfaltet: Er schreibt von Gottes wirksamer und kräftiger und durchsetzungsstarker Gerechtigkeit trotz aller Menschen Unentschuldbarkeit, wenn wir das Gute nicht tun (Röm 1-2). Paulus fasst im Blick auf das Kreuz in ein eindrückliches Bild, wie man es damals aus dem Tempel und dem Versöhnungstag kannte (Röm 3). Paulus erklärt, dass Gott nie etwas anderes mit den Menschen erreichen wollte, als dass sie sich als Gottes Kinder begreifen (Röm 4). Er schreibt von Gottes Liebe, die uns über das Einüben von Geduld zum Frieden bringt (Röm 5). Und Paulus fasst in große Worte, was unsere Taufe ist, in der wir Anteil an Christi Tod und Auferstehung bekommen (Röm 6,1-11) … und so weiter im Text der Kapitel dieses wunderbaren Paulusbriefes, den unser Bibelkreis weiter studieren wird, wenn wir uns treffen dürfen.
„Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei (Röm 12,1) – es geht um ein Leben für Gott auf der Grundlage von Gottes Barmherzigkeit und unserer daraus folgenden Dankbarkeit. Das ist das lebendige Opfer, das Paulus hier meint. Kein Mensch muss Gott durch den Vollzug von Ritualen zufrieden stellen, auch nicht durch den Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes hier oder im Internet, und nicht einmal durch einen als Opfer verstandenen Empfang der Taufe oder die Teilnahme am Heiligen Abendmahl.
Unser Gottesdienst geht sonntags von 9.30 Uhr bis gerade mal 10.30 Uhr und von 11 bis kurz vor 12 in Söcking. Darin dient uns Gott, indem er uns beschenkt in seinem Wort und durch die Sakramente, in denen uns die Größe seiner Barmherzigkeit vor Augen gestellt wird. Und das soll dazu dienen, dass wir dann quasi die Woche über Gott dienen können, indem wie den Menschen mit der Weitergabe von Gottes Barmherzigkeit dienen. So ist unser „vernünftiger Gottesdienst“ (Apostel Paulus) „im Alltag der Welt“ (Ernst Käsemann) gedacht.
Leben für Gott aus Dankbarkeit, damit fängt Paulus an. Gottes Gnade über uns, die wirksam ist, das steht am Anfang. Und erst dann kommen die An- und Aufforderungen, die an uns gestellt werden, zu denen wir uns stellen sollen. Die Aufforderungen, die wir vorhin gehört haben (Röm 12,1-8), und Paulus setzt die Reihe weiter fort: „Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. Segnet, die euch verfolgen; segnet, und verflucht sie nicht. Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug.“ (Röm 12,9-16)
Liebe Gemeinde, die Ratschläge prasseln wie ein starker Regen aus Vordach. Der Römerbrief hat auch einen Teil, in dem der Apostel die Christen ermahnen will, aus der Dankbarkeit Gott gegenüber alles Gute für die Menschen um sich herum fließen zu lassen. Die Ansprüche an das Verhalten sind hoch, bedenkt man, dass Paulus die kleine Gemeinde in Rom, der er seinen Brief schreibt, gar nicht kennt, dass er sich ihr mit seinem Schreiben erst einmal vorstellen, in Rom aufgenommen, beherbergt und für die Weiterreise nach Spanien ausgestattet werden will. Und das, was Paulus schreibt, zielt auf Wirkung. Selbst dann, wenn uns übel mitgespielt wird und uns gar Böses widerfährt, sollen wir es nicht mit eigenem Bösem vergelten, sondern stets auf der Seite des Guten bleiben, auf die wir gehören (Röm 6,12ff).
Natürlich fallen auch mir Szenen und Begebenheiten ein, in denen das jedenfalls mir wohl rundheraus unmöglich war. Was machen wir Menschen mit den Aggressionen, die das Herz bis zum Rand erfüllen, weil man tief verletzt wurde, in der Schule gemobbt, in der Arbeit geschnitten, in dem, was mir wichtig ist, übersehen, bei dem, was ich weitersagen möchte, unerhört, in dem, was von mir bleiben soll, missachtet? Die Psychologie hat verstanden, dass unsere Aggressionen zum menschlichen Leben dazugehören wie unsere Ängste. Sie suchen sich ihre Wege und werden manchmal gerade dann destruktiv, wenn wir sie nicht wahrhaben wollen.
Der Tübinger Dichter und Philosoph Friedrich Nietzsche hat das Christentum seiner Zeit scharf dafür kritisiert, dass es mit diesen Aggressionen nicht umgehen könne, dass es Menschen klein mache und Freudlosigkeit säe. Für ihn war es am Ende unerträglich, dass eine gute Religion das Leben verneint und uns „entselbstet“, wie Nietzsche sagte, Unmenschliches von uns verlangt. Unerfüllbares wie „hasst das Böse, hängt dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor“ (Röm 12,9b-10)?
Schon Jesus in der Bergpredigt (Mt 5-7) und jetzt auch Paulus (Röm 12) empfehlen uns als Verhaltensmaßstab die Feindesliebe und Vergebung. Für Opfer böser Taten und ihre Angehörige kann dies eine unerträgliche Forderung sein. Das schon alttestamentliche und jüdische, und deshalb auch christliche, Gebot der Feindesliebe kann eine kaum erträgliche Härte in seiner unbedingten Forderung darstellen. Man kann auf das Gebot der Feindesliebe keine Rechtsordnung und keinen Staat aufbauen (Martin Luther). Aber wir, ich selbst, ich kann in der Nachfolge Jesu meinem Feind vergeben und auf Rache verzichten. Als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung im Sinn einer allgemeingültigen Maral (Immanuel Kant, Friedrich Schleiermacher) war das Gebot zur Feindesliebe nicht gemeint. Als juristische Grundlage würde das Gebot der Feindesliebe als Gesetz am Ende in der Bilanz vielleicht zu weniger Gerechtigkeit und mehr Unrecht führen, das hat zuletzt die Mathematik und ihre Spieltheorie herausgefunden. Martin Luther ordnet die Vergebung dem geistlichen Regiment zu. Sie ist das Metier der Christen und ihrer Kirche in der Beichte und in der Seelsorge. Das weltliche Regiment, der Staat mit Polizei und Militär hat nach innen und nach außen für Sicherheit zu sorgen und notfalls zu strafen.
„Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht!“ (Röm 12,14) Hätte denn der den Ton vorgebende Apostel selbst so gelebt, wie er es hier anderen wortreich und in durchaus eingängigen Bildern empfiehlt? In seinen Briefen ist Paulus oft kräftig und eigentlich nie konfliktfrei aufgetreten. Er konnte in hohem Maß zornig sein, bitter, sarkastisch, polternd und im Ton rasiermesserscharf. Einmal hat Paulus sogar Petrus, zu Besuch in seiner Heimatgemeinde in Antiochia in Syrien, vor allen bloßgestellt und vorher scharf zurechtgewiesen. Petrus hatte sich in seinem Verhalten kompromissbereiter gezeigt, als es dem Paulus möglich und um Christi willen richtig schien. Allerdings findet sich bei Paulus an einigen Stellen auch einige Selbstkritik.
Womöglich ermahnt sich der Apostel hier im Röm selbst, wie wir das auch immer wieder einmal tun. Und darin kann man ihm ja zustimmen und ihm schlicht recht geben: Es geht nicht gut, wenn man auf Böses mit Bösem antwortet. Das zu bedenken kann uns erst einmal entlasten und uns das vorschnelle Reagieren unterlassen helfen. Es kann uns aus den Mechanismen und Automatismen herausholen, in die wir verfallen, indem wir auf eine Frechheit nur mit gleicher Münze antworten, obwohl wir wissen, dass uns das nur kurzzeitig Luft verschafft.
Freilich bleibt die Frage: müssen wir wirklich moralische Musterschüler sein? Es hilft mir, dass jedenfalls Jesus, wo er solche hohen Forderungen an seine Jünger stellt, immer von einem besonderen Bild ausgeht. Jesus – und mit ihm hier nun auch Paulus – rät uns dazu, uns klar zu machen, dass wir als Gottes Kinder dem höchsten Haus zugehörig sind. Als zukünftige Königinnen und Könige, die einmal das Erdreich besitzen werden, können wir es uns leisten, auch einmal die Milde eines Herrschers, die berühmte römische clementia (etwa eines Gaius Julius Caesar) wie einen Purpurmantel um die Schultern zu legen. Als Mitglieder des höchsten Hauses, die wir durch die Taufe wurden, als Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen (Eph 2) können wir auf die Durchsetzung unserer Ansprüche mit äußersten Mitteln verzichten!
„Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor … Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft … Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes untereinander … Haltet euch nicht selbst für klug“ (Röm 12,10.13.15-16). Unser christlicher Glaube ist, wo es ihm mit uns gut geht, wo er sich durch uns ausleben darf, auch eine Schule der Gefühle. Auch in dieser Schule geht es pädagogisch und didaktisch zu, unser Glaube will uns etwas lehren, was wir fürs Leben brauchen. Manche praktizieren da schon länger den Fern- und Distanzunterricht. Mir ist in der Schule in Starnberg und in der des Glaubens Präsenz immer am liebsten. So oder so, das Lernziel ist deutlich und vorgegeben: Wir sollen klug werden.
Paulus will uns wie Jesus Nächstenliebe lehren. Das ist ein anspruchsvolles Unterfangen, zumal es heute in den Lehrplänen an allen Schulen immer um die sogenannte „Kompetenzorientierung“ geht – also darum, an dem anzuknüpfen, was wir schon wissen und können und dies dann weiter auszubauen. Wir sollen lernen, den christlichen Glauben wirksamer werden zu lassen. Es soll uns nicht gleichgültig sein, dass es dem und der Nächsten nicht gut geht. Und selbst für die Fernsten, und auch noch für Menschen, die sich als unsere Feinde zeigen, sollen wir mehr Empathie aufbringen als bisher. Oder wir sollen es wenigstens immer wieder von neuem versuchen, eine brenzlige Situation nicht nur aus unserer, sondern auch aus der Sicht anderer wahrzunehmen. Die Kompetenz dazu finden wir bei uns nicht immer schon metertief abgelagert wie Sediment und Humus, aus dem gute Frucht wachsen kann.
Der Glaube ist eine Schule der Gefühle, deshalb sagt der Apostel: „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“ (Röm 12,15). Es ist ein entscheidender Schritt für jedes Kind im Kindergarten zu lernen, die Gefühle eines Gegenübers aus dessen Gesicht zu verstehen. Derzeit sind uns die Gesichtsmasken dabei sehr im Weg. Aber wer die christliche Sonntagsschule der Gefühle durchläuft, kann auch mit ihr sensibel werden mit seinen Mitmenschen und mit der ganzen Kreatur.
„Hasst das Böse, hängt dem Guten an“, fordert der Apostel (Röm 12,9b). Womit es eine Antwort gibt auf die Frage, wer stärker ist, ich oder das Böse. Es gibt eine geistliche Antwort auf die Frage, wer stärker sein soll, ich oder der Zorn. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (Röm 12,21). Paulus weiß um dieses Potential. Die Energie, die im Zorn, in der Wut, in der Rache stecken, soll sich auf das Gute richten. Die Energie in uns soll der Macht des Bösen entzogen werden und das Feuer des Guten schüren. Sie kennen diese Geschichte ja: Ein alter Indianer sitzt am Lagerfeuer mit seinem Enkel und erzählt ihm: „Im Leben jeden Menschen gibt es zwei Wölfe, sie kämpfen um die Vorherrschaft. Der eine strebt nach Geltung, Eifersucht, Habsucht, Wut und Hass. Der andere Wolf strebt nach Vertrauen, Offenheit, Freundschaft, Gelassenheit und Freude“. Der Enkel schaut in die züngelnden Feuerflammen, Funken steigen auf und tanzen in den Nachthimmel. Er fragt sich und den Großvater, welcher der beiden Wölfe gewinnen wird. „Es wird der Wolf in dir stark werden, den du fütterst!“ Paulus legt uns – im Bild gesprochen – mit seinen Worten die Kraftnahrung hin, die das Gute in uns braucht, um zu wachsen.
Amen.
Predigt über die Jahreslosung 2021 aus Lk 6,36
(gehalten am 01. Januar 2021, in der Friedenskirche Starnberg)
Liebe Gemeinde,
ein echter Bergsteiger bin ich kaum, weiß aber, dass man auch im Gebirge besser zu zweien unterwegs ist als alleine. Und noch besser ist es, das noch eine/einer als Dritte/r im Bunde mit von der Partie sein kann, jemand der viel Erfahrung beim Auf- und Abstieg im Hang und genug Kraft am Seil und in kritischen Situationen mitbringt. Es fällt mir mitunter gar nicht so leicht, die eigenen Kräfte gut einzuteilen. Das merke ich besonders beim frohgemuten Abstieg vom Gipfel, wenn die Konzentration nachlässt und die Schritte stolprig und auch unsicherer werden. So geht es mir beim Klettern wie im Leben. Oft genug spüre ich beim Streben nach dem Ziel: die Kraft ist da und ich kann fast spielerisch laufen, ja rennen. Manchmal aber zapfen auch kleine Zwischenschritte und verzögernde Handgriffe so viel Energie; manchmal nörgle ich, wenn nur eine Kleinigkeit sich mir in den Weg stellt, ein fast mimosenhaftes „auch das noch …“ Die Jahreslosung aus dem dritten Evangelium, dort aus der Feldrede, wie bei Lukas die Bergpredigt Jesu genannt wird, will mir eine/n Zweite/n und eine/n Dritte/n im Bunde an die Seite stellen und mir hilfreich zur Hand gehen lassen. Die Jahreslosung für die heute beginnende nächste Zeit lautet: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36)
Ein Kletterbild drückt das für mich gut aus. Es zeigt zwei Mutige, die einander zur Hand gehen. Und es zeigt eine Hand, die den Beiden überhaupt erst die besteigbare Ebene und Fläche bietet, auf der man, erst einmal raufgekraxelt, dann gut stehen und ausruhen kann von der Mühsal des Weges hinauf. Beide Kletterer lässt ein heller Kreis noch deutlicher hervortreten wie ein Scheinwerferfokus. Die große Hand erkennt man, wenn man das Zusammenspiel der beiden erweitert auf die große Perspektive.
Das ist es auch, was unserer Jahreslosung gut tut. Hin und her zu fokussieren auf die Hand, die wir einem anderen reichen, auch auf die Hand, die uns gereicht wird, und auf die große Hand Gottes, die uns trägt und die Basis bildet, sodass wir im Leben gemeinsam klettern können.
Der Satz dieser Jahreslosung ist in der Feldrede im Evangelium der Auftakt einer Reihe von Aufforderungen: „seid barmherzig“ (Lk 6,36), „richtet nicht“ (37a), „verurteilt nicht“ (37b), „befreit“ (37c) und „gebt“ (38). Jedes Mal wird dazu gesagt, was die Konsequenz ist: „richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet … verurteilt nicht, dann werdet ihr auch nicht verurteilt, befreit, und ihr werdet auch befreit werden, gebt, so wird euch gegeben“ (6,37f). Beim „seid barmherzig“ freilich wird nicht die Konsequenz benannt, sondern das von uns erwartete Handeln beispielhaft begründet: „wie auch euer Vater barmherzig ist“ (6,36).
Diese Sätze klingen vertraut und zugleich ein wenig ungewohnt, weil wir diese Aufforderungen sonst aus der Predigt Jesu zitieren, wie sie uns geläufiger sind. Im Lk findet sich ja gewissermaßen mit der „Feldrede“ (Lk 6,20-49) eine Kurzfassung der „Bergpredigt“ (Mt 5-7), ohne deren gekürzte Memorierfassung zu sein. Ein genauer Vergleich beider Texte ließe viele schöne Einzelheiten zeigen. Die Feldrede kennt ganz eigene Blüten dessen, was unter uns gut zu tun ist. Dass etwa unser gegenseitiges Vergeben ein echtes Befreien (6,37c) und die vorauslaufende Ergänzung zum gegenseitigen Geben (6,38a) ist. Wer vergeben hat, kann schenken – so wird dann auch aus einem rein familiären Weihnachten noch ein christliches Familienfest.
Beide Predigten, auf dem Feld (Lk) und am Berg (Mt), dienten den Gemeinden dieser Evangelien in der Nachfolge Jesu dazu, das auszusprechen, was man an persönlichem Verhalten von den Christen erwartete. Die Redeform der Predigt als Szene passt dazu besonders gut. In beiden spricht Jesus zum inneren Kreis, den Jüngern, während die Umstehenden, das Volk, es hört und Jesu Jünger zukünftig daran messen kann. Wobei es durchaus Unterschiede im erwarteten Verhalten im inneren Kreis und unter den Leuten gibt: Außenstehenden gegenüber schreibt Jesus uns die Feindesliebe und die Nachgiebigkeit auch im Streit (6,27-36) in den Katechismus, im Umgang miteinander sollen wir das rechte Maß daran nehmen, wie wir selbst behandelt wurden und betrachtet werden wollen – von anderen und von Gott.
Wer auch immer unseren christlichen Glauben von dem AT abheben und unsere Ethik für eine bessere als die jüdische erklären wollen würde, an der Jahreslosung müsste man merken, dass man auf dem Irrweg läuft. Es geht beim Aufruf zu Barmherzigkeit um unser Verständnis füreinander und um die Annahme aller Gemeindeglieder und der Christen weltweit als Geschwister einer Gemeinschaft. Der Grund zur Aufforderung, Barmherzigkeit walten zulassen, gründet in der Barmherzigkeit Gottes, des Vaters Jesu Christi, unseres Herrn. Der dahinter stehende Grundgedanke mit Blick auf Gott als barmherzigen Vater der Menschen ist eben alttestamentlich, also sowohl jüdisch, als auch christlich: Gott gebietet Barmherzigkeit, weil er barmherzig ist. Abstrakter noch: Gott handelt barmherzig an den Seinen, weil er die Barmherzigkeit selbst ist. Gott ist der Vater des Volkes (Dtn 32,6), der es zum Gebotsgehorsam bewegen und dadurch erziehen (Jer 31,9) will. Jesus fügt dem freilich noch einiges an Zärtlichkeit hinzu, wenn wir mit dem NT Gott im Gebet als „Du lieber Vater“ (Mk14,36) anreden oder gleich das „Abba“ aus Jesu aramäischer Sprechsprache schreien …
Und wenn schon zwischen Gott und die Barmherzigkeit kein Blatt Papier passt, dann bitte auch nicht zwischen uns und unsere jüdischen und christlichen Schwestern und Brüder. Unsere Schwestern und Brüder werden in der Bibel als unsere „Nächsten“ bezeichnet, der Kodex des Verhaltens ihnen gegenüber ist erstmals im dritten Buch Mose im 19. Kapitel aufgeschrieben worden. Unsere Jahreslosung von der Barmherzigkeit integriert alles, was da geschrieben steht en Detail und im Überblick. Schade, dass uns diese biblischen Texte nicht mehr so geläufig sind, dass wir einfach wie auswendig auf sie zurückgreifen könnten. Gott gebietet Barmherzigkeit, weil er als Gott Israels die Barmherzigkeit selbst ist. Gott bekräftigt seine Anforderungen an Israel, die sehr an die zehn Gebote erinnern, damit, dass das, was von Israel insgesamt und von jedem Einzelnen gefordert wird, schlicht ihm entspricht, der er „unser Herr und Gott“ ist, wie es lapidar heißt:
Und der Herr redete mit Mose und sprach: Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott. Ein jeder fürchte seine Mutter und seinen Vater. Haltet meine Feiertage; ich bin der Herr, euer Gott.
Ihr sollt euch nicht zu den Götzen wenden und sollt euch keine gegossenen Götter machen; ich bin der Herr, euer Gott.
Und wenn ihr dem Herrn ein Dankopfer bringen wollt, sollt ihr es so opfern, dass es euch wohlgefällig macht. Es soll an dem Tag gegessen werden, an dem ihr’s opfert, und am nächsten Tage. Was aber bis zum dritten Tag übrig bleibt, soll man mit Feuer verbrennen. Wird aber am dritten Tage davon gegessen, so ist es untauglich und wird nicht wohlgefällig sein; und wer davon isst, muss seine Schuld tragen, weil er das Heilige des Herrn entheiligt hat, und ein solcher Mensch wird ausgerottet werden aus seinem Volk. Wenn du dein Land aberntest, sollst du nicht alles bis an die Ecken deines Feldes abschneiden, auch nicht Nachlese halten. Auch sollst du in deinem Weinberg nicht Nachlese halten noch die abgefallenen Beeren auflesen, sondern dem Armen und Fremdling sollst du es lassen; ich bin der Herr, euer Gott.
Ihr sollt nicht stehlen noch lügen noch betrügerisch handeln einer mit dem andern. Ihr sollt nicht falsch schwören bei meinem Namen und den Namen eures Gottes nicht entheiligen; ich bin der Herr.
Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen. Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten; ich bin der Herr.
Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten. Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der Herr. Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.
Liebe Gemeinde, der Designer Jan Schletter ist – seit 25 Jahren – einer der Chefs des Wuppertaler Versandhandels „Kleine Propheten“ (www.kleine-propheten.de/die-gestalter.html), der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die frohe Botschaft des Evangeliums und gutes Design miteinander zu verbinden und dabei auf die Qualität nachhaltiger und fairem Handel verpflichteter Produktion zu achten. Von Jan Schletter stammt die wunderbare Gestaltungsidee unserer Jahreslosung der drei am Berg, den beiden Kletterern auf der ausgestreckten Hand Gottes.
(1) Ob den beiden, oder auch nur einem, dem, der seinem Bergfreund hinaufhilft, bewusst ist, dass sie gerade die offene Hand Gottes erklimmen und sich just dabei helfen? Einem Freund oder dem eigenem Nachwuchs die eigenen Überzeugungen in Sachen Religion und christlichen Glauben hilfreich weiterzusagen und erklärend den Aufstieg zu einem erwachsenen Glauben zu ermöglichen – dies gilt unter Kennern als eine große und leider von vielen Eltern wenig oder gar nicht begonnene oder durchgehaltene Aufgabe, als wäre es eines der bestgehüteten Geheimnisse moderner Erziehung, wie man vom eigenen Glauben zu den Kindern nicht nur in Ritualen spricht. Dabei braucht es nur das: die ausgestreckte eigene Hand auf der ausgestreckten Hand Gottes. Fang damit an, die eigene Hand zu reichen und gib das Vertrauen weiter auf Gottes Hand sicher und fest zu stehen. Spricht davon mit Taten oder mit Worten, am besten immer mit dem, was leichter überzeugt …
(2) Ob den beiden, oder auch nur einem, dem, dem sein Bergfreund hinaufhilft, bewusst ist, dass sie gerade die offene Hand Gottes erklimmen und sich just dabei helfen? Der, dem da geholfen wird, er setzt ja alles ein, was er selbst hat, sucht einen Tritt und greif mit der freien Hand aus. Und er vertraut darauf, dass der Freund die Kraft hat, der ihn mit beiden Händen hält und zieht, ihn in den eigenen Bemühungen weit genug überstützt (unterstützt passt als Wort hier irgendwie nicht, finde ich) und dabei auch noch recht mühelos wirkt. Das ist es, was wir an andere weitergeben können, dass auch wir uns immer wieder helfen lassen, uns ziehen lassen, um die nächste Klippe im Glauben zu meistern. Und solche Meisterschaft gibt es nur durch Übung, nur durch Aushalten und Dranbleiben, nur durch Geduld, die sich bewährt.
(3) Ob der hilfreiche Freund oben weiß, dass er, von außen her betrachtet auf einem Stück steht, das wie ein gefährlich ausragender Felsengrat wirkt? Es scheint ihn nicht zu besorgen oder zu kümmern, er spürt den festen Boden unter den Füßen und geht davon aus, dass der Grund für beide trägt und hält. Und das ist es auch, was wir anderen weitergeben können, die wir zum Glauben an Gott einladen wollen: das feste Vertrauen, dass Gottes Hand trägt und unsere Grundlage für alle Stufen und Etappen im Leben ist. Das kann man dem Freund oder dem eigenen Nachwuchs gegenüber so aussprechen. Man kann es aber auch einfach leben und erlebbar machen. Und dann vielleicht ganz nebenbei an einem Bild wie diesem erläutern.
Im Fokus, im Scheinwerferlicht der Jahreslosung ist die Barmherzigkeit der Tourengänger füreinander. Aber auch Gottes Hand gehört ins Bild. Die Barmherzigkeit, die damit illustriert werden soll, hat in der biblischen Redeweise (es geht um griechisches , das ein antiker Mensch besonders gut aus den großen Dramen im Theater, aber auch aus dem Ethikunterricht im Gymnasium kannte) gar nichts weiter spezifisch theologisches. Barmherzigkeit passt zu dem, was Menschen tun genauso wie zu Gott. Es kann also auch eine andere Menschenhand sein, die mich so hält und mit den schon jetzt einmal rettenden Felsvorsprung gewährt.
Zugleich sollte nie vorschnell ausgeschlossen werden, dass die andere Hand eines Menschen mir letztlich Gottes Hand reicht – am schönsten in der Hand des Menschen, der mich liebt. Gott schenkt uns durch die Hand anderer Menschen den festen Grund, auf dem man stehen und helfen, oder auf den hinauf man klettern kann. Im AT ist diese Hand Gottes im mutigen Bild dafür die Hand der werdenden Mutter, die sich auf den gewölbten Bauch mit ihrem Kind legt. Gottes Erbarmen in der hebräischen Bibel ist im Wortsinn der Mutterschoß (Jes 49,15) als der Ort des Erbarmens, weshalb es kein besseres Bild für Geborgenheit bei Gott und Nähe und behütet sein und die Barmherzigkeit gibt, als das der erst schwangeren Maria und dann Mutter mit dem Kind in der Krippe, mit Jesus, der Mensch gewordenen Barmherzigkeit Gottes. So ergänzt es sich auf eine besondere Weise väterlich und mütterlich zugleich, dass die Jahreslosung von der Barmherzigkeit Gottes spricht, als ob es einen Mutterschoß des Vaters gäbe.
Wofür konkret wir Gottes und unsere Barmherzigkeit brauchen, ist noch nicht am Tage, es wird aber sicher schnell deutlich werden. Die Barmherzigkeit der Geduld wird sehr schnell auf der Tagesordnung stehen; schon gleich die Geduld, auch nach dem 10. Januar uns weiterhin kontaktarm zu begrenzen, einander trotzdem irgendwie barmherzig genug nahe zu sein und darauf zu warten, den Termin für die eigene Impfung zu bekommen. Sich impfen zu lassen wird ein Akt der Barmherzigkeit sein, damit wir uns wieder besuchen können und ich wieder in die Häuser zum Geburtstagskaffee und an die Pflegebetten und auf die Intensivstation komme. Der Verbot von Einwegplastik und die Abschaffung des Solidaritätszuschlags gehören nicht in meine Liste, eher schon die allgemeine Rentenerhöhung und das Anheben des Mindestlohns, von Hartz IV und die Einführung der Grundrente. Der Amtsantritt eines neuen amerikanischen Präsidenten und eine deutsche Bundestagswahl auch nicht, wobei ich den leisen Stimmen aufmerksam zuhöre, die sagen, wir hätten es einer evangelischen Kanzlerin und Pfarrerstochter zu verdanken, dass die Gottesdienste an Weihnachten nicht erneut verboten wurden – was schon niemand als Votum für Markus Söder als Nachfolger verstehen wird …
Was barmherzig wäre: ein sicheren Hafen in Starnberg, ein Ausgabegebäude für die Tafel, eine gemeinsame Kleiderkammer aller Hilfswerke, Wärmeplätze für Obdachlose vor Ort. Vom letztjährigen Rotarierpräsidenten habe ich Geld bekommen für Hygieneartikel für Bedürftige, zur Unterstützung und für Fahrkarten – gelebte Barmherzigkeit: Danke dafür …
Was nötig und nicht nur barmherzig wäre: sich selbst erklärende Tablets für alle Alten, freiwilliger Handyurlaub für alle Jungen. Volle Gottesdienste mit lautem Gesang, wieder Frauenkreis, Musikgruppen, Bibelkreis, Jahresempfang. Ostern bitte nicht nur open Air, das Karfreitagskreuz kommt freilich wieder vor die Kirche, Konfirmationen, Jubelkonfirmationen, Sommerfest und Kirchweih. Das Weihnachtsoratorium im Advent in der Friedenskirche Teile III, V und VI, wieder eine lebensgroße Weihnachtskrippe, vor der auch die Älteren mit Staunen stehen …
Was immer nötig ist und immer sehr barmherzig getan werden muss: wenn schon dann bitte hilfreiche Trauerfeiern, viele Trauungen, noch mehr Taufen – eine davon am ersten Weihnachtsfeiertag am Steininger Grundstück – dafür habe ich bei der Zielgruppe schon geworben, eine erste Interessenbekundung abgehärteter Winterschwimmeltern hat mich schon erreicht – etwas voreilig vielleicht, es sind ja noch deutlich mehr als 12 Monate hin …
Und das alles ist das, was wir jetzt schon ahnen und worauf wir uns freuen. Gottes Barmherzigkeit sorgt dafür, dass wir nicht in die Zukunft schauen können, was alles wirklich kommen wird. Wir werden auch das neue Jahr nach vorne leben und am Ende von hinten her zu verstehen suchen. Mit Gottes Barmherzigkeit als tragender Hand und mit unser, allen voran Deiner und meiner ausgestreckten Hand zu den anderen hin wird es, so Gott will, schon gelingen, auch das nächste Jahr als Gipfel zu erklimmen. Es wird gelingen, wo wir barmherzig miteinander und mit uns selbst bleiben, wie auch unser Vater barmherzig mit uns bleibt.
Amen.